Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt obdachlos die Unvergänglichkeit!

Hören Sie die Musik in dieser Zeile, den intensiven Rhythmus? So, als könne man nicht stehenbleiben und als müsse man immer weiter, weiter…. Das wilde Herz schlägt und schlägt, es gibt kein Halten! „Zum Glück!“, denkt man dann. Das Halten wäre das Ende. Die Vergänglichkeit wäre dann nicht nur ein Symptom meines Lebens, sondern das ganze letzte Urteil: Tod.

Das Gedicht ist mir vor fünfzehn Jahren in die Ohren gekommen. In einer Situation, in der so jemand wie ich nicht über die Vergänglichkeit nachdachte. Wir hatten gerade unser Kind bekommen. Es war, als hätte die ganze Welt einen Augenblick lang atemlos anhalten müssen um zu staunen. Das Leben schien unverwüstlich und unbesiegbar. Glück pur. Erst langsam, wie es bei gerade gewordenen Eltern der Fall ist, dämmerte auch uns, dass jeder Entwicklungsschritt ein Zeichen der Trennung, des unaufhaltsam sich eigenständig entwickelnden Lebens war. Und wenn ich das jetzt so hinschreibe, ist mir auch deutlich, dass alle Eltern in dieser Ambivalenz stecken und mit ihr kämpfen: Das eigene Kind ist ein wunderbarer Teil des eigenen Lebens, aber das Leben entwickelt sich nur weiter, indem Schritt für Schritt Trennungen vollzogen werden.

Wen ängstigt`s nicht: Wo ist ein Bleiben, wo ein Sein in alledem? Rainer Maria Rilke war unter anderem auch deshalb grossartig, weil er diese Ambivalenzen so schlicht-aufwändig ins Wort giessen konnte. Mitten im Leben sehnen Menschen sich plötzlich, unerwartet und unkontrollierbar nach Unvergänglichkeit. Plötzlich steht diese Sehnsucht, dass etwas nicht aufhören möge, dass etwas festzuhalten sei in genau diesem Zustand, in dem es sich befindet, wie ein Gespenst vor der Tür und will ins Herz hinein. In den Verstand können wir die Sehnsucht locker einlassen. Dort wird sie nämlich gleich niederargumentiert. Das Leben nimmt halt seinen Lauf! Du kannst nicht aufhalten, was sich entwickeln will. Okay, ad acta gelegt. Sehnsucht, du hast keinen Platz in meinem rational durchplanten Leben. Herz, schlag weiter!

Aber das wilde Herz ist nicht einfach Teil des Körpers, dort schlägt es weiter. Wie gesagt: Zum Glück! Aber es hat noch eine andere Dimension – gewissermassen. Da klopfen Sehnsüchte, da klopft die Unvergänglichkeit an und fragt nach Obdach! Kannst du mich reinlassen? Einen Tag lang? Nein, das ist zu viel Zeit? Dann vielleicht einen halben Tag? Nicht im Hellen? Sehen andere dann, dass du mit deiner Sehnsucht beschäftigt bist?! Dann lass mich wenigstens in dieser Nacht hinein!  –   Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt obdachlos die Unvergänglichkeit!

Was fange ich an mit meiner Vergänglichkeit? Was fange ich an mit dem Vergehen aller Menschen, auch der eigenen Liebsten? Gebe ich meinem Verstand den Lead? Gestehe ich der Rationalität zu, dass sie alle existentiellen Fragen, alle unsere Fragen nach dem Sein «im Griff» hat und unter Umständen abwürgt? Wo ist ein SEIN in alledem? Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt obdachlos die Unvergänglichkeit!

 

Rainer Maria Rilke

Wunderliches Wort: die Zeit vertreiben!
Sie zu halten, wäre das Problem.
Denn, wen ängstigts nicht: wo ist ein Bleiben,
wo ein endlich Sein in alledem? –

Sieh, der Tag verlangsamt sich, entgegen
jenem Raum, der ihn nach Abend nimmt:
Aufstehn wurde Stehn, und Stehn wird Legen,
und das willig Liegende verschwimmt –

Berge ruhn, von Sternen überprächtigt; –
aber auch in ihnen flimmert Zeit.
Ach, in meinem wilden Herzen nächtigt
obdachlos die Unvergänglichkeit.

 

Aus dem Nachlass des Grafen C. W.

(Das Gedicht ist original ohne Titel. Entstanden ist es in der Zeit von 1922 bis 1926. Genaueres scheint nicht nachweisbar.
Rainer Maria Rilke (197610) Sämtliche Werke. Bd 3. Insel Verlag. S. 123)

 

Die Meinung der Autorin in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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10 Kommentare
  • Anita Ochsner
    Gepostet um 06:56 Uhr, 28. September

    Schön am noch dunkleren Morgen so ein Gedicht zu erhalten, wenn der Mond noch leuchtet still neben dem schwarzen Berg. Einen guten Tag in die Zeit

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    • Anke Ramöller
      Gepostet um 07:17 Uhr, 28. September

      Vielen Dank für diese Resonanz!!

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  • THOMAS GROSSENBACHER
    Gepostet um 09:51 Uhr, 28. September

    Ja, wenn Verdichter Weite schaffen und vertiefen. Wahrheiten die ohne Lrik einem entgingen.

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  • Georg Vischer
    Gepostet um 10:46 Uhr, 28. September

    Herzliichen Dank für das Rilke-Gedicht! Beim Lesen dieser Zeilen von Rilke fällt mir J.P. Hebels „Vergänglichkeit“ ein. Spannend, die beiden Texte ins Gespräch zu nehmen.

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  • michael vogt
    Gepostet um 13:14 Uhr, 28. September

    wir leben ewig

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    • Ilse Moratz-würthele
      Gepostet um 14:05 Uhr, 04. Oktober

      Ja stimmt wenn Jesus Christus dein Herr ist

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 10:09 Uhr, 29. September

    Das hab ich grad per WhatsApp zugeschickt bekommen. Passt doch. ?.

    Gedicht von Mario de Andrade (San Paolo 1893-1945) Dichter, Schriftsteller, Essayist und Musikwissenschaftler.
    Einer der Gründer der brasilianischen Moderne.
    ________________________

    *Meine Seele hat es eilig.*

    Ich habe meine Jahre gezählt und festgestellt, dass ich weniger Zeit habe, zu leben, als ich bisher gelebt habe.
    Ich fühle mich wie dieses Kind, das eine Schachtel Bonbons gewonnen hat: die ersten isst sie mit Vergnügen, aber als es merkt, dass nur noch wenige übrig sind, begann es, sie wirklich zu genießen.
    Ich habe keine Zeit für endlose Konferenzen, bei denen die Statuten, Regeln, Verfahren und internen Vorschriften besprochen werden, in dem Wissen, dass nichts erreicht wird.
    Ich habe keine Zeit mehr, absurde Menschen zu ertragen , die ungeachtet ihres Alters nicht gewachsen sind.
    Ich habe keine Zeit mehr, mit Mittelmäßigkeiten zu kämpfen.
    Ich will nicht in Besprechungen sein, in denen aufgeblasene Egos aufmarschieren.
    Ich vertrage keine Manipulierer und Opportunisten.
    Mich stören die Neider, die versuchen, Fähigere in Verruf zu bringen, um sich ihrer Positionen, Talente und Erfolge zu bemächtigen.
    Meine Zeit ist zu kurz um Überschriften zu diskutieren. Ich will das Wesentliche, denn meine Seele ist in Eile. Ohne viele Süssigkeiten in der Packung.

    Ich möchte mit Menschen leben, die sehr menschlich sind.
    Menschen, die über ihre Fehler lachen können, die sich nichts auf ihre Erfolge einbilden.
    Die sich nicht vorzeitig berufen fühlen und die nicht vor ihrer Verantwortung fliehen.
    Die die menschliche Würde verteidigen und die nur an der Seite der Wahrheit und Rechtschaffenheit gehen möchten.
    Es ist das, was das Leben lebenswert macht.
    Ich möchte mich mit Menschen umgeben, die es verstehen, die Herzen anderer zu berühren.
    Menschen, die durch die harten Schläge des Lebens lernten, durch sanfte Berührungen der Seele zu wachsen.

    Ja, ich habe es eilig, ich habe es eilig, mit der Intensität zu leben, die nur die Reife geben kann.
    Ich versuche, keine der Süßigkeiten, die mir noch bleiben, zu verschwenden.
    Ich bin mir sicher, dass sie köstlicher sein werden, als die, die ich bereits gegessen habe.
    Mein Ziel ist es, das Ende zufrieden zu erreichen, in Frieden mit mir, meinen Lieben und meinem Gewissen.
    Wir haben zwei Leben und das zweite beginnt, wenn du erkennst, dass du nur eins hast.

    _Schicke es an alle Deine Freunde im Alter von 40 und älter!_
    _Es ist Verboten es zu behalten)_

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 15:11 Uhr, 29. September

    Ja, genau so! Meine Seele hat es eilig, doch in dieser Eile geht doch eben genau das Wesentliche verloren?! Meine Seele hat es eilig… Anhalten Schauen Gehen..
    Super! Danke! Spricht mir so punkt aus der Seele 😉 – Nicht fest-halten …. 🙂

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    • Anita Ochsner
      Gepostet um 15:14 Uhr, 29. September

      …. das wilde Herz! – ein Paradox ?!

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  • Anonymous
    Gepostet um 11:41 Uhr, 01. Oktober

    Nur nicht kitschig werden.

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