Carte Blanche: Besser scheitern

Ich stehe in Hamburg vor der Kunsthalle. Die Ausstellung „Besser scheitern“ war mit einem Zitat von Samuel Beckett überschrieben:  „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“ Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.

Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat das Scheitern einmal als das grosse Tabu der Moderne bezeichnet. Erfolg und Leistung, Karriere und persönliche Gewinnmaximierung bestimmen das gesellschaftliche Wertesystem. Für Niederlagen bleibt wenig Raum. Neben der fehlenden Fehlerkultur liegt das in erster Linie an unserem falschen Verständnis von Erfolg. Erfolgreich ist – so glauben wir hierzulande – derjenige, dessen Entwicklung senkrecht nach oben zeigt. Jeder Um- oder gar Irrweg wird als Scheitern abgetan, und häufig genug gilt eine Idee als gescheitert, bevor sie überhaupt gestartet ist, weil wir alles tun, um uns nicht mit Fehlern lächerlich zu machen. Wer scheitert, ist ein Loser, um den man besser einen grossen Bogen macht.

Als langjähriger Radio- und TV-Moderator ist aber auch das meine Beobachtung: zahllose PR-Berater sorgen oft für Profillosigkeit. Aalglatte Wesen, die konsequent auf Nummer sicher gehen und ebensolche Produkte, Kampagnen und Strategien entwickeln. Die Folge: Austauschbarkeit so weit das Auge reicht.

Menschen lieben das Authentische, das Nicht-Perfekte. Das macht auch den besonderen Reiz von Live-Events aus. Alles, was wir auf Hochglanz polieren, bis das Originelle verschwunden ist, alles, was perfekt ist, wird glatt wie Teflon und seelenlos wie ein Roboter.

Als Fernseh-Talk-Moderator habe ich viele Menschen kennengelernt, die auf den ersten Blick gescheitert sind. Auch mein Lebenslauf ist nicht aus dem Lehrbuch der Premium-Karrieristen.
Als TV Moderator ist mein „Scheiter-Potential“ recht hoch. Das persönliche „Ablauf-Datum“, das Damoklesschwert „Einschaltquote“, die Suche nach dem perfekten Gespräch. Aus Fehlern wird man klug, heisst es. Doch in Wahrheit schätzt niemand Situationen, in denen die Dinge schiefgehen und man auf die Nase fällt. Niemand gesteht sich gern ein, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben, an einer Aufgabe gescheitert zu sein oder gar ein ganzes Projekt in den Sand gesetzt zu haben. Ein Ziel zu verfehlen, ist ärgerlich und schmerzhaft. Dennoch sind solche Erfahrungen unausweichlich – und oft lehrreich. Nicht selten führen erst viele Fehlschüsse zu grossen Entdeckungen. Aber: Damit wir an Niederlagen wachsen können, müssen wir richtig mit ihnen umgehen. Wir brauchen ein neues Bewusstsein für unsere Schwächen. Das Ja Gottes zum Menschen, ist mehr als ein theologisches Konstrukt. Jesus hat diese bedingungslose Bejahung des unvollkommenen Menschen in jeder Begegnung radikal gelebt.

Auf dieser Basis sind wir zum Leben eingeladen. Auch als Gemeinden und Kirchen. Menschen sind eingeladen, die eigene Spur zu finden. Dort darf zunächst alles sein. Ich darf sein. Mit allen Seiten meiner Lebensgeschichte. Mit Licht und Schatten. Ich entdecke meine Einzigartigkeit und Originalität. Ich muss nicht immer Siegen im Wettbewerb des Alltages. Selbstoptimierung und neurotisches Vergleichen finden ein Ende. Der christliche Glaube bietet eine Weltsicht an, bei der man nicht jemand anderer werden muss, sondern sich so, wie man geworden ist, annehmen kann. Damit hat man die Hände frei für andere. Hingabe und Leistung gewinnen einen anderen Geschmack. Ich darf tun, weil ich Wert habe und muss nicht leisten, um wertvoll zu sein.

Ruedi Josuran, Moderator ERF Medien und „Fenster zum Sonntag“

 

 

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6 Kommentare
  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 06:05 Uhr, 09. Januar

    Awww, was für ein befreiender und ermutigender Beitrag. Grad in der Kirche, die ich manchmal als allzu ängstlich und übervorsichtig erlebe, tut sowas gut. Als Germanistin habe ich mich früher mal sehr mit Biographien berühmter AutorInnen beschäftigt. Was die alles angestellt haben …. auch Viten von Heiligen lesen sich diesbezüglich hochspannend. Ohne Unvollkommenheit und Scheitern keine Authentizität – und damit auch nichts, was wirklich berühren und bewegen kann. Ein biblisches Vorbild hätten wir ja nun wirklich ?.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 06:37 Uhr, 09. Januar

    Gerade in der Seelsorge finde ich dieses Stromlinienförmige, Aalglatte, nur auf Erfolgskurs Getrimmte besonders ungünstig. Wie können wir so das Vertrauen wecken von Menschen, denen es nicht gut geht?

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  • Ria Eugster
    Gepostet um 10:52 Uhr, 09. Januar

    Dazu ein Buchtipp, der mich gerade sehr zu diesem Thema inspiriert: „Laufen lernt man durch Hinfallen“ von Brené Brown. Sehr empfehlenswert!

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  • michael vogt
    Gepostet um 18:32 Uhr, 09. Januar

    sich annehmen, so wie man ist? rechtfertigung, neuschöpfung spricht aber schon von einer veränderung. werden wir angenommen „so wie wir sind“ oder „unabhängig davon wie wir sind“? oder beides? liegt der akzent auf dem bleiben wie wir sind oder auf der veränderung? das kann so oder so sein. und ja: um die aaglatte perfektion geht es nicht. etwas anderes der actus purus, eines tun und nicht zugleich etwas anderes. bisher habe ich gemeint, die herkunft des wortes sei „auf dem scheiterhaufen landen“. sie geht aber offenbar weiter zurück: in scheiter zerbrechen wie ein schiff, das schiffbruch erleidet. zerbrechen. lange war ich auch selbstverständlich der meinung, jesus sei deswegen gescheitert, weil er seine sache vertreten habe, die nicht übrall gut angekommen ist. später stellte sich mir die frage: ist er absichtlich gescheitert? um andern das scheitern zu ermöglichen? das wäre ja dann darin aufgefangen, dass – in biblischer sprache gesagt – der vater dies dem sohn als unausweichliches schicksal verordnet hat. damit wir scheitern können. damit wir das scheitern der welt als ganzes als bestandteil ihrer neuschöpfung anerkennen können? es stellt sich dann auch die frage: wie wäre die geschichte von jesus, wie wäre die weltgeschichte verlaufen, wenn gott damals in seiner tiefsten ursprünglichkeit nicht nur als vater verstanden worden wäre? mutter und tochter hätten womöglich einspruch erhoben.

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    • Verena Thalmann
      Gepostet um 20:52 Uhr, 09. Januar

      …..interessante Fragen und Gedanken……

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    • michael vogt
      Gepostet um 23:46 Uhr, 28. Januar

      wenn es diese absicht gab, war sie ganz und gar in seinem vater begründet

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