Bin ich ungerecht zu euch?

Der Bibeltext , den das Weltkomitee zum diesjährigen Weltgebetstag ausgewählt hat, ist einer jener Dauerbrenner, die ihre Anstössigkeit nie verlieren und die Leserinnen und Leser irritiert, zornig und ratlos zurücklassen: Ein Weinbergbesitzer  heuert zu verschiedenen Tageszeiten Tagelöhner an. Mit den ersten vereinbart er einen üblichen Lohn, der gerade eben zum Leben reicht. Am Ende des Tages erhalten alle – ob sie nun 12 Stunden oder nur eine Stunde gearbeitet haben –, was sie zum Leben brauchen. In der Schweiz wären das zur Zeit 33 Franken Grundbedarf ohne fixe Kosten wie Miete, Krankenkasse, Versicherungen, Steuern etc. Eine Familie kann davon nicht ernährt werden.

 

Grundeinkommen?

Im Himmelreich geht es also um ein Grundeinkommen, das zwar nicht bedingungslos ist – denn alle arbeiten mindestens eine Stunde mit –, sich allerdings nicht an Leistung, sondern am Bedarf orientiert. Diese Himmelreichs-Vision liesse sich in der Welt durchaus realisieren, wie die Initiative zum bedingungslosen Grundeinkommen gezeigt hat. Das Himmelreich wird also nicht als eine jenseitige Vertröstung gedacht, sondern sozialpolitisch konkret.

Im kantonalen Zürcher Weltgebetstags-Team haben wir den Text genau angesehen. Als Methode diente uns eine Aufstellung im Raum. Jede Frau wählte sich eine Identifikationsfigur, eine Zeit und einen Ort und erzählte in der Runde, wie es ihr gerade erging. Überraschend viele identifizierten sich mit denen, die den ganzen Tag schuften und auch nicht mehr bekommen als die Spätkommenden. Einige identifizierten sich mit den spät Gerufenen. Doch auch Gutsherr und Verwalter waren vertreten.

 

Dabei entdeckten wir oft überlesene Einzelheiten

  • Alle arbeiten am Himmelreich mit – und es spielt keine Rolle, wie lang der Einsatz dauert.
  • Nur mit den ersten Arbeitern wird als Lohn das Lebensnötige vereinbart: dieser Lohn scheint verhandelbar zu sein; die später dazukommen werden auf das „was recht ist“ (Vers 4) verwiesen.
  • Offenbar trifft der Gutsherr die Arbeiter an verschiedenen Orten in der Stadt: nur für die dritte Stunde (also 9:00h) wird vom Marktplatz gesprochen (V3), sonst heisst es, er sei „ausgegangen“ (Vv1.5.6). Niemand bewirbt sich blind, alle werden zur Teilnahme aufgefordert.
  • Wer später kommt, hat den Vormittag mit unproduktiver Arbeitssuche verbracht, ist zugleich wohl frischer und leistungsfähiger als jene, die schon seit 6:00 an der Arbeit sind: ein Plädoyer für Teilzeitarbeit?
  • Niemand muss randständig werden: auch wer eine Stunde arbeitet, erhält genug zum Leben.
  • Erst die Dramaturgie der Auszahlung schafft Unmut bei jenen, die nach dem Verhältnis von Leistung und Einkommen fragen; so wird deutlich, was die skandalös neue Himmelreichs-Regel ist: das alle erhalten, was sie brauchen.
  • „Mit dem, was mein ist, zu tun, was ich will“ (V15): der Satz wirkt schockierend aktuell und entspricht der Einstellung von Wohlhabenden auf abstossende Weise: Darf Reichtum wirklich zur Oligarchie führen?
  • Es bleibt die Frage, welche Massstäbe für Gerechtigkeit gelten: ist die hier demonstrierte Ungerechtigkeit „gütig“ (V15), sollte nicht vielmehr das Himmelreich mehr zu bieten haben als nur das, was zum Leben nötig ist? Wo bleibt der Überfluss, der Genuss?


Ist Gott der Gutsherr?

Und doch: Was wäre das für ein Himmelreich auf Erden, wenn alle Menschen der Welt genug zum Leben hätten! Ein atemberaubender Gedanke, dass es möglich sein könnte, dass alle Menschen der Welt genug zum Leben haben. Und wir, falls wir uns entschliessen könnten, uns mit dem Gutsherrn statt mit den seit Tagesbeginn schuftenden zu identifizieren, wir könnten etwas beitragen … denn wer sagt denn, dass im Gleichnis der Gutsherr für Gott steht?

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1Kommentar
  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 18:38 Uhr, 19. Oktober

    Ja, in derTat: Wer sagt denn, dass im Gleichnis für den WGT 2017 der Gutsherr für Gott steht? Die Frauen in den Philippinen werden uns sicher erzähle von ihren alltäglichen und tagtäglichen Kämpfen ums Überleben für sich und ihre Familien. Jesus stand den Marginalisierten, Habenichtsen und Taglöhnern seiner Zeit gegenüber und hat versucht, mit der Torah in der Hand deren wütige und verzweifelten Gefühle aufzunehmen und in „aufständige“ Bahnen zu lenken. Seine Botschaft war diesseitig und dem realen Leben der Menschen zugewandt. So gesehen könnte auch jede und jeder von uns sich in der Rolle des Gutsherrn sehen …

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