Bruch oder Aufbruch im Haus der Religionen?

Das Haus der Religionen hat gemeinsam mit den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn des Reformationsjubiläums gedacht. „Reform“ funktionierte dabei als Leitbegriff, unter dem die einzelnen Religionsgemeinschaften und Konfessionen ihre gegenwärtigen Herausforderungen im Rahmen von Podiumsgesprächen dargelegt haben. Sich reformieren zu wollen und eigenen Reformationsbedarf offenzulegen, schien bei den christlichen, hinduistischen, muslimischen und jüdischen VertreterInnen das Gütesiegel guter – und damit vor allem zivilverträglicher – Religion zu sein.

Ruhestörer

Es ist klar: Wer hier auftritt, vertritt kein fundamentalistisches Verständnis seiner Religionsgemeinschaft. Kein Christ ruft zur Bekehrung der Ungläubigen auf. Kein Hindu thematisiert den Hindunationalismus. Die Muslime werden von Imam Mustafa Memeti und der Imamin und Feministin Rabeya Müller vertreten. Die drei Rabbiner unterschiedlicher Schulrichtungen bieten ein freundliches und an keiner Stelle kontroverses Gespräch. Trennungsschmerzen? Fehlanzeige. So musste das Schlusspodium, welches die Moderatorin Brigitta Rotach mit Reinhard Schulze, Friedrich-Wilhelm Graf und Hansjörg Schmid bestritt, beinahe als Ruhestörung erscheinen.

Sie forderten eine Debatte über die Bedeutung öffentlich-rechtlicher Anerkennung von Religionsgemeinschaften, theologische Gütekriterien zivilverträglicher Religionen und betonten die Schattenseiten reformerischer Bewegungen: Züriputsch, politisch-religiöser Radikalismus, Zersetzung der Glaubensgemeinschaften in individualistisch konzipierte Heilswege, die sich jedes Korrektivs entziehen. Kurzum: Auf dem Schlusspodium wurde die Gefahr durch Religion in Reformprozessen deutlich.

Theologie der Pluralität

Bräuchte es also, um diesem Reformthema gerecht zu werden, auch die Stimme der Staatsgewalt, als Vertreterin der negativen Religionsfreiheit? Möglicherweise. Wichtiger und bedenkenswerter erscheint mir Reinhard Schulzes Aufgabenstellung an die Religionen, innerhalb ihrer eigenen Religionssemantik eine „Theologie der Pluralität“ zu entwickeln: Erst wenn es den Glaubensgemeinschaften gelingt, aus eigenen Gründen die Pluralität von Weltbildern und religiösen Wahrheiten wertzuschätzen, kann die Basis der Glaubensgemeinschaft innerhalb derselben die Anforderungen des liberalen Rechtsstaates bewältigen.

„Des Kaisers, was des Kaisers ist und Gott was Gott ist“, meint dann nicht das Leben und Denken in zwei Welten und Wertsystemen, sondern eine Ergriffenheit durch einen religiösen Anspruch, welcher die staatsbürgerlichen Tugenden in sich selbst schon mitführt. Der Protestantismus ist dabei ganz sicher nicht der Primus innerhalb der Förderklasse staatsbürgerlicher Tugenden. Er hat aber einen mühsamen, teilweise grausamen und bis heute nachwirkenden Lernprozess ausgelöst: Dreissigjähriger Krieg, Täuferverfolgung, Hexenverbrennungen, Atheismusstreit, Antikatholizismus, nationalistische Grosskolonialphantasien, Führerkult, Antikommunismus, der Kampf gegen die Achse des Bösen, fundamentalistische Abwehr von Frauen- und Menschenrechten. Bis heute.

Zivilisierte Religion

Was kann uns helfen, diese Gräuelgeschichte nicht fortzuschreiben, sondern aus ihr zu lernen? Dazu ein paar Thesen:

  1. Religiöse Anliegen und Weltbilder müssen der öffentlichen Diskussion ausgesetzt werden. Religion ist in diesem Sinne keine Privatsache.
  2. Wir brauchen flächendeckende religiöse Bildung auf allen Schulstufen. Diese Bildung darf keinesfalls alleine in den Händen religiöser VertreterInnen liegen, sondern muss den Gütekriterien unserer Bildungseinrichtungen entsprechen.
  3. Religiöse Bildung geht nicht darin auf, über die Geschichte und die Formen von Religionsgemeinschaften unterrichtet zu werden, sondern muss die Menschen in die Lage versetzen, ein verantwortbares Urteil über gegenwärtige Religionsformen abzugeben.
  4. Wenn sich Religionen vor einem vernünftig urteilenden Forum rechtfertigen müssen, braucht es Kriterien, anhand derer die Gesellschaft die Qualität von Religion beurteilen kann. Ich schlage folgende vor:
    • Akzeptiert die Religionsgemeinschaft aus eigenen Gründen heraus die Überordnung rechtsstaatlicher Bestimmungen und Prozeduren in Fragen der Rechtssprechung?
    • Bekennt sich die Glaubensgemeinschaft zu einer Theologie, welche aus sich heraus den Wert pluralistischer Gesellschaftsordnung denken kann? Kann sie die Vielzahl von Weltbildern und Glaubensvorstellungen innerhalb ihrer eigenen Theologie als etwas Wertvolles erfassen?
    • Akzeptiert die Religionsgemeinschaft aus eigenen Gründen, dass in politischen Orientierungsfragen nicht Offenbarungswahrheiten, sondern allgemein zugängliche Argumente – inklusive Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung – zählen?
    • Kann die Religionsgemeinschaft diese drei Anforderungen so zum Ausdruck bringen, dass diese von den „Gläubigen“ nicht als Fremdkörper, sondern als Produkt ihrer „Glaubenserfahrung“ verstanden wird‘

Gerade in Zeiten, in denen wir von Traditionsabbruch und Religionsschwund sprechen, darf die Tradition liberaler Rechtsstaatlichkeit nicht religiöser Selbstaffirmation geopfert werden. Das sind wir nicht nur den Reformatoren und Reformatorinnen schuldig, sondern vor allem der Gesellschaft, die wir geworden sind, indem wir deren Erbe angetreten haben.

 

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9 Kommentare
  • Daniel Kosch
    Gepostet um 08:41 Uhr, 28. Februar

    Die Thesen und Fragen zur „zivilisierten Religion“ sind sehr hilfreich. Allerdings muss – gerade im Hinblick auf die grossen Landeskirchen – die Frage mitbedacht werden, was es bedeutet, dass es gerade hinsichtlich dieser Fragen auch religionsgemeinschafts-intern unterschiedliche Auffassungen und auch Schattierungen gibt. Wenn ich an die katholische Kirche denke, der ich angehöre, stelle ich z.B. fest, dass jemand wie Papst Benedikt XVI. zwar sehr stark für den Dialog von Vernunft und Glauben plädierte, aber gleichzeitig den absoluten Wahrheitsanspruch der kath. Kirche stark betonte, während andere der Auffassung sind, dass man auch auf eine viel pluralismus-verträgliche Art katholisch sein könne und nach dem 2. Vatikanischen Konzil vielleicht sogar sein müsse. Die Rede von „der“ Religionsgemeinschaft, die dieses oder jenes akzeptiere, wird dieser komplexen Lage nicht gerecht. Vielmehr ist wohl von bestimmten „Spielarten“ einer Religion zu sprechen.

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    • Stephan Jütte
      Gepostet um 08:56 Uhr, 28. Februar

      Noch mehr Differenzierungsbedarf ergäbe sich freilich, wenn man nicht die konfessionellen, sondern die religionsgemeinschaftlichen Unterschiede im juristischen Verhältnis ggü. dem Staat mitbedenkt. Allerdings ging es mir (vorerst) nicht um die Unterschiede in den Voraussetzungen, welche religiöse Gruppierungen mitbringen, sondern um die gemeinsame Anforderung, welche sie alle für sich (und vielleicht ja ab und an im Gespräch untereinander) zu lösen haben. Natürlich haben die katholischen Kirchen andere Voraussetzungen zur Bewältigung der modernitätsbedingten Herausforederungen als Freikirchen oder die reformierte Kirche. Was aber – so behauptete ich in meinen Thesen – keine dieser Gemeinschaften davon suspendiert, diese Problemstellung zu lösen.

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    • Corinne Duc
      Gepostet um 14:13 Uhr, 28. Februar

      Liberale Religionen bzw. Konfessionen setzen voraus, dass die Zugehörigen selber hinreichend vernünftig denken und entscheiden können. Was “hinreichend vernünftig” bedeutet, kann zwar nicht abschliessend und exakt bestimmt werden (John Rawls sprach etwa von einem “reasonable overlapping consensus” über die Grundlagen des öffentlichen Gemeinwesens). Wird jedoch erwartet, dass die Menschen sich an Dogmen halten und diese für unerschütterliche Wahrheiten annehmen, nur weil sie ein paar Jahre oder Jahrhunderte früher einmal eingeführt worden sind, ist das sicher eine Abweichung vom Ideal liberaler Haltung.

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      • Stephan Jütte
        Gepostet um 14:22 Uhr, 28. Februar

        John Rawls dachte aber bei Religionsgemeinschaften an eine staatsbürgerliche Tugend, die quasi als Modul müsste integriert werden können. Schulzes Forderung nach einer Theologie der Pluralität wäre das Reflexivwerden eigener Partikularität unter den Voraussetzungen eigenen Sprachspiels. Davon würde ich mir erhoffen, dass es auch für diejenigen anschlussfähig wäre, die dogmatistisch an nicht hintergehbaren Offenbarungswahrheiten festhalten.

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        • Corinne Duc
          Gepostet um 19:17 Uhr, 28. Februar

          Sind Zölibatsvorschriften, Frauenordinationsverbote, Schwangerschaftsverhütungsverbote usw. zu den “dogmatistisch nicht hintergehbaren Offenbarungswahrheiten” zu zählen – und auch, dass man glauben müsse dass solches einfach “dogmatistisch nicht hintergehbare Offenbarungswahrheit” sein müsse? Wird, z.B. hinsichtlich des Diskriminiungsverbotes, das Kriterium erfüllt, dass die Religionsgemeinschaft die von Schulz genannten drei Anforderungen so zum Ausdruck bringen, dass diese von den „Gläubigen“ nicht als Fremdkörper, sondern als Produkt ihrer „Glaubenserfahrung“ verstanden wird [oder werden]‘?
          Nach Schulz sollte religiöse Bildung die Menschen auch in die Lage versetzen, ein verantwortbares Urteil über gegenwärtige Religionsformen abzugeben.

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          • Esther Gisler Fischer
            Gepostet um 15:07 Uhr, 03. März

            Der Mann heisst Schulze.

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    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 15:10 Uhr, 03. März

      Papst Benedikt mit seinen roten Schuhen hat abgedankt. Franziskus ist es mit seiner lateinamerikanischen Erfahrung zu wünschen. mehr Pluralität zuzulassen.

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  • Christoph Jungen
    Gepostet um 10:32 Uhr, 28. Februar

    Herzlichen Dank für dieses klare und konstruktive Ausziehen der Linien in die Richtungen, die jetzt vonnöten sind. Nur auf dem von dir skizzierten Weg können Religionen „erhobenen Hauptes“ daran arbeiten, von einem „Teil des Problems“ wieder zu einer unverzichtbaren Ressource zu werden und damit Wesentliches zu einem konstruktiven Zusammenleben beizutragen. Das bedingt m.E. jedoch neben der kritischen Selbstreflexion der Religionen im Sinne deiner Kriterien schon auch vermehrte Anstrengung im Bereich religiöser Bildung auf Seiten der säkularen Gesellschaft, bei der damit auch Revisionen weit verbreiteter reduktionistischer Religionsbilder gut täten. Aber das sprichst du ja auch bereits an.

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  • michael vogt
    Gepostet um 20:58 Uhr, 28. Februar

    die frage ist, ob eine religionsgemeinschaft all diese kriterien erfüllem muss, damit sie öffentlich-rechtlich anerkannt werden kann, oder ob sie öffentlich-rechtlich anerkannt werden soll, damit sie diese kriterien erfüllen kann. oder von beidem etwas. und wie das? religion ist im liberalen staat nicht eine autorität, aber eine stimme im demokratischen prozess. die offenbarungsgestützte vernunft hat ihre bedeutung im dialog von vernunft zu vernunft.

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