Das Gymnasium im Spannungsfeld von Chancengerechtigkeit und Begabtenförderung

Chancengleichheit in der Bildung ist ein nie zu erreichendes Ideal. Zu ungleich sind die Voraussetzungen und Startbedingungen, die Schülerinnen und Schüler mitbringen. «Sommer- und Herbstkinder» haben aufgrund ihres Altersvorsprungs bessere Chancen, Kinder deutscher Muttersprache sind im Vorteil gegenüber Kindern, die Deutsch als Fremdsprache lernen und ob Kinder den Sprung ans Gymnasium schaffen, hängt auch von ihrer sozialen Herkunft ab.

Im Schweizer Bildungssystem besteht tatsächlich Chancenungleichheit. So ist in der Westschweiz die Chance ans Gymnasium zu kommen mehr als doppelt so gross als in der Ostschweiz, und die Maturaquote am rechten Zürichseeufer ist fast viermal grösser als in Schwamendingen. Allerdings lassen sich die bestehenden Ungleichheiten nicht ändern, ohne neue Ungleichheiten zu schaffen.

So stand das Langgymnasium in letzter Zeit in der medialen Kritik, da es soziale Ungleichheiten zementieren würde. Dass bereits nach sechs Schuljahren die Weichen in Richtung Gymnasium gestellt würden, sei zu früh: Gerade für Eltern aus weniger privilegierten Schichten sei der Entscheid zu diesem Zeitpunkt schwierig. Später falle der Entscheid weniger schichtabhängig, auch weil die Jugendlichen dann schon selbständiger mitentscheiden können.

Wollte man aber im Bestreben nach Chancengleichheit das Langgymnasium abschaffen, würde man einfach eine neue Ungerechtigkeit schaffen. Denn damit würde sehr begabten Schülerinnen und Schüler die angemessene Förderung entzogen. Neugierige, wissensdurstige und lernwillige Jugendliche kommen im Langgymnasium endlich auf ihre Kosten. Von Vorteil erweis sich hier insbesondere das gymnasiale Fachlehrersystem. Für die Jugendlichen bedeutet es, dass sie in jedem Fach ein Gegenüber haben, das dieses Fach studiert hat und sowohl inhaltlich als auch methodisch fundiert Auskunft geben kann.

Statt Chancen-Gleichheit, ist somit vielmehr Chancen-Gerechtigkeit anzustreben. Unter «Chancengerechtigkeit» verstehe ich das Streben, die ungleichen Voraussetzungen und Startbedingungen auszugleichen. Anders als bei der Forderung nach Chancengleichheit lassen sich Chancengerechtigkeit und Begabtenförderung durchaus vereinbaren.

Der Kanton Zürich kennt verschiedene Wege ans Gymnasium: Der Übertritt nach der Primarschule ins Langgymnasium, nach der 2./3. Sekundarschule ins Kurzgymnasium oder der Eintritt in die Kantonale Maturitätsschule für Erwachsene nach Schul- bzw. Berufsabschluss. Verbunden mit der hohen Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems sind gerade diese unterschiedlichen Zugänge eine wesentliche Voraussetzung im Streben nach Chancengerechtigkeit und Begabtenförderung.

Die Meinung des Autors in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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1Kommentar
  • Fabian Perlini
    Gepostet um 18:07 Uhr, 23. August

    Wer hier ‚langweilig‘ angeklickt hat interessiert sich offenbar nicht für diese Materie. Durch die Begründung eines neuen Begriffs eine lösungsorientierte Perspektive auf ein altes Problem zu bieten, ist alles andere als langweilig. Gut gemacht!

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