Denn jeder Mensch muss doch irgendwo hingehen können….

Kennen Sie Mary Poppins? – Welche Frage! Die australische Kinderfrau, die Zauberfee mit der grossen Tasche, in der alle Dinge verstaut sind, die man für eine glückliche Kindheit braucht – wer kennt sie nicht?! Mary Poppins löst alle Probleme, ob die von Kindern oder die von Erwachsenen. Das Buch von Leïla Slimani „Dann schlaf auch du“ erzählt ebenfalls die Geschichte einer Kinderfrau, dort jedoch entwickelt sich eine ganz andere Erzählung. Gleich zu Anfang erfährt der Leser/ die Leserin, dass die beiden Kinder, ein und fünf Jahre alt, tot sind, erstochen von ihrer Nanny. Und dann wird die Geschichte bis zum Verhängnis erzählt.

Myriam und Paul, ein junges Paar, suchen eine Betreuung für ihre Kinder. Sie wähnen sich im Paradies, als Louise, die erfahrene französische Nanny, sich bewirbt. Eine Referenz lobt sie überschwänglich. Wo Myriam und Paul Mühe hatten, ihren Haushalt und die Kinderbetreuung neben ihrem Berufsalltag zu bewältigen, ist Louise spielend Herrin der Lage. Abends liegen die Kinder glücklich erschöpft im Bett, die Wohnung ist perfekt geputzt und aufgeräumt und ein köstliches Essen steht auf dem Tisch bereit. Es kommt dem jungen, erfolgreichen Paar wie ein Märchen vor.

Paul kommt aus einem gesellschaftskritischen Elternhaus, deshalb schwanken er und seine Frau Myriam auch, wie sie ihre neue Rolle verstehen: Sind sie Arbeitgeber oder ist Louise eine Freundin? Paul ist pragmatisch: Louise kommt aus einem anderen Milieu. Woher genau muss ihn nicht interessieren. Immer tiefere Gräben werden allerdings für den Leser sichtbar. Louise Wohnsituation ist furchtbar. Paul und Myriam ahnen nichts davon. Sie kennen nur die geschönte Perspektive, die Louise ihnen erzählt. Sie bezahlen sie doch auch, also sollte sie in der Lage sein, ein akzeptables Leben zu führen. Sie laden sie gelegentlich zu Essen mit ihren Freunden ein, aber Louise ist dort, so empfinden beide Seiten, deplatziert. Warum eigentlich, fragen sie sich aus Zeitmangel und Bequemlichkeit nicht.

Eines Tages kommt ein Brief von der Finanzbehörde an die Arbeitgeber. Louise bezahlt keine Steuern. Paul ist dieser Brief ungeheuer peinlich. Er fühlt sich blossgestellt. Er ist jedoch in dieser egoistischen Scham nicht fähig, den Grund für Louises Verhalten herauszufinden. Er stellt sie zur Rede, demütigt sie dabei jedoch seinerseits schon wieder, so dass sie Ausflüchte sucht und er sich damit zufrieden gibt. Sie ist in einem für ihn völlig unvorstellbarem Mass unfähig, die Funktionen von Institutionen (Briefe, Mahnungen, Rechtsansprüche) zu verstehen, geschweige darauf irgendwie zu reagieren. So häufen sich die Schulden in einer Weise, die sie überhaupt nicht durchschauen kann. Scham auf ihrer Seite, Analphabetismus und eine Schwindel erregende Einsamkeit führen schliesslich in die Katastrophe.

Was tun Menschen wie Paul und Myriam, wenn sie sich nicht um das Leid der Menschen kümmern, die täglich für sie die Kinder betreuen, Essen zubereiten, putzen und aufräumen? Nannys aus Polen, aus Tschechien, aus Bolivien, aus Kolumbien oder auch aus dem eigenen Land? Prekäre Arbeitsverhältnisse oder Care-Arbeit, die bezahlt wird? Die Autorin stellt ihrem Buch ein Zitat aus Dostojewskis Roman „Verbrechen und Strafe“ voran: „Denn jeder Mensch muss doch irgendwo hingehen können“. – Auch mit der Scham über ein „unvollkommenes“ eigenes Leben?! Und muss ein Arbeitgeber sich darum kümmern? Leïla Slimani wirft Fragen auf, sie hat keine fertigen Antworten. Aber die eigene Unbedarftheit gefriert in den Adern.

Leïla Slimanis Roman von 2016 Dann schlaf auch du (frz. Chanson Douce) wurde 2017 mit dem Prix Goncourt, dem höchsten französischen Literaturpreis, ausgezeichnet.

Die Autorin ist für diesen Beitrag verantwortlich und der Inhalt entspricht nicht in jedem Fall der Meinung oder dem Standpunkt der Landeskirche.

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1Kommentar
  • michael vogt
    Gepostet um 09:06 Uhr, 01. März

    „zusammen mit meiner hundertfachen partnerin habe ich hundert kinder.“ (mk 10.30 und synoptische parallelen) die eine zeitung streicht das „hundertfach“ vor partnerin (ich krümme mich vor lachen um einige grade), die andere kürzt die passage ganz weg. dieses leben habe ich nicht zuletzt im gedanken gewählt, dass andere den platz gut brauchen können. am streichen und kürzen kann man sehen, wie „weit“ wir darin sind, allen einen ort zum leben zu gewährleisten.

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