Die beste Version von dir!

Die Bade- und Urlaubssaison ist da. Und damit auch die Zeit der textilen Sparsamkeit und Körperlichkeit. Es ist die Saison der Instagrammer, die nach einem Dutzend geposteter Milkshakes und Selbstmotivations-Memes endlich Zahltag haben: perfekte Haut, an perfekten Körpern im Sand wunderbarer Strände.

Jep. Ich beneide sie darum. Nicht so sehr die gebräunten und tätowierten Muskelberge, sondern eher diejenigen, bei denen das alles so leicht ausschaut und die auf ihren Fotos nicht einen Shake oder ein Stück kalorienarme Wassermelone umklammern, dafür gutgelaunt mit einem Bier zuprosten. Muss cool sein, sich in Badehose sitzend mit einem Bier fotografieren zu lassen und sich darüber zu freuen, dass die Welt das sehen kann.

Viele Wege bis Rom

Also habe ich mir ein paar Podcasts angehört. Und ich war erstaunt. Der Weg zu einem „Ich darf auf Instagram oben ohne mit einem Bier sitzend zuprosten“-Body scheint viel länger und verzweigter, als ich das vermutet hätte! Nicht dass ich an ein „In zwei Wochen zur Strandfigur“-Programm geglaubt hätte. Aber dass an einem  solchen Foto nicht nur Ernährung und Bewegung, sondern  gleich meine Weltanschauung und Selbstwahrnehmung hängen, hatte ich dann doch nicht erwartet.

Ob man „nur“ nackt gut ausschauen (Mark Maslow) oder die beste Version von sich selbst (Ralf Bohlmann) erschaffen möchte: Die Ratgeber beinhalten nebst Ernährungs- und Bewegungstipps auch Meditationsanweisungen, Hilfestellungen Ziele zu formulieren (die weit über das Körperliche hinausgehen), Anweisungen zum Umgang mit eigenem Scheitern, Präventionsmassnahmen gegen das eigene Scheitern und sie vermitteln einem nebenbei das Selbstbild eines Coaches in Personaleinheit mit einem Selfenhancement-Projekt. Dazu unterstützen einen Fitnesstracker, Körperfettwaagen, die sich über das W-Lan mit den Fitnestrackern verbinden, Sportapps und Hörbücher für Autosuggestionen. Der Leib ist ein Tempel.

Ein Refugium?

Man kann das schnell abtun als Fitnesswahn oder selbstbezügliche Oberflächlichkeit. Aber ich glaube, man macht es sich damit zu leicht. Denn im Hintergrund dieser Massnahmen steht das tiefe Bedürfnis, sich wohl zu fühlen in seiner Haut, gerne sich selbst zu sein. Kritiker bezeichnen das als „Pseudoreligion“. Ähnlich ist man vor einem Jahrzehnt mit Vegetariern verfahren und geht heute mit Veganern ins Gericht. Aber statt „falsch, falsch!“ zu rufen, könnte man diese Techniken und Lebensformen ja auch als Selbstreflexivitäts- und Orientierungsversuche begreifen.

Natürlich gibt es Weltbewegenderes und Wichtigeres als den eigenen Puls, die eigene Kalorienaufnahme, die Schritte pro Tag, die eigenen Tiefschlafphasen, den eigenen Körperfettanteil im Verhältnis zur Muskelmasse etc. Natürlich ist selbst die Massentierhaltung angesichts humanitärer Katastrophen das kleinere Problem. Es gibt immer etwas noch Schrecklicheres, noch Wichtigeres. Das würde wohl niemand bestreiten. Aber wieviel von dem, was wichtig ist, können wir denn beeinflussen? Ist die Fitness- und Ernährungsindustrie uns vielleicht deshalb so nahe gekommen, weil es eines der Refugien geworden ist, in dem wir noch Kontrolle haben können?

Sinn und Selbstliebe

Natürlich lässt sich sinnvolles Leben nicht in den Daten des Fitnesstrackers ablesen und vielleicht stehen die allerbesten Versionen von uns selbst noch aus. Aber wenn Apps, Podcasts, Trainings- und Ernährungspläne Menschen helfen, sich selbst mehr zu mögen – im wahrsten Sinne des Wortes selbstbewusster zu sein – dann sind sie ein erster Schritt zu einem sinnvollen Leben, das zur Nächstenliebe fähig ist.

„Wo euer Schatz ist, ist euer Herz.“ (Mat 6,21) Das heisst doch aber auch: Wenn ich mir wichtig bin, dann kann ich ganz bei mir sein. Das ist halt dann nicht so heroisch weltverneinend. Aber vielleicht schafft es einen Himmel auf Erden. Denn das stimmt schon: Man kann niemanden mehr lieben, als sich selbst. Und wer sich selbst wirklich liebt, muss sich nicht ständig der Nächste sein.

Und natürlich: Es gibt viele Wege, seine Selbstachtung und sein Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit zu stärken und Liebe für sich zu empfinden.  Jeder dieser Wege kann pervertiert werden, so dass wir uns, indem was wir tun, nur noch um uns selbst drehen. Aber deswegen alle Versuche ein Selbst zu sein, das man mag, zu verteufeln, trifft den Punkt eben auch nicht. Denn sich selbst zu lieben ist vielleicht eine der grössten und schönsten Auf-Gaben, die wir Menschen haben. Und darauf „Prost“! …mit oder ohne Shirt 😉

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16 Kommentare
  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 07:39 Uhr, 24. Juli

    Ganz schöner Beitrag. Ich glaube auch, dass die Fitness- und Ernährungsbranche einen möglichen Ausweg aus der eigenen Hilflosigkeit darstellt, die wir so oft empfinden.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 07:39 Uhr, 24. Juli

    Schade, das Diesseits-Abo funktioniert irgendwie nicht mehr ….

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 09:50 Uhr, 24. Juli

    Ich denke egal wo jemand ansetzt, sei das bei der Fitness oder Ernährung, es umfasst schliesslich den Menschen in seinem Ganz. Und vom einen kommt sie / er zum anderen. Erstmal braucht es dazu doch einfach Disziplin und Durchhaltevermögen, in der einen Sache (Fitness oder Ernährungsumstellung) und führt unweigerlich auch zum anderen, ich glaube wir funktionieren so und in unserer wohlhabenden Gesellschaft hier, ist das auch möglich. Darin ein eigenes Menschenbild über sich selbst anstrebend. Ich glaube wer sich verändern will, wird auch seine „Weltanschauung verändern“ oder sich derer, die er oder sie vielleicht schon lange in sich hat, annähern wollen. Wer sich selbst liebt, liebt auch seinen Nächsten. Die Gefahr, was man selbst tut, das auch von anderen zu erwarten, ansonsten ist „man selbst Schuld“, geht immer mit. Ich glaube, ein Mensch verändert sich durch seine körperlichen Wahrnehmungen, Veränderungen.
    „Menschenbilder“ werden ja auch erzeugt, manipuliert, Frames in den Köpfen …
    Und umgekehrt, wie ist da mit dem Glauben? Exerzitien im Alltag braucht auch Disziplin.. was verändert sich durch den Glauben Persönlich, gibt es dadurch Ambitionen an Gewicht verlieren zu wollen, Fitness zu betreiben? Das Bedürfnis sich bewusst oder irgendwie anders zu ernähren.. sich körperlich entschlacken.. wie geistig? da kommen mir die Fastenzeiten. Also, die körperliche Ebene gehört doch schon immer dazu!? – Pilgern, Schweigen Fasten… ?

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  • Friederike Kunath
    Gepostet um 14:03 Uhr, 24. Juli

    Danke sehr für diesen Beitrag! Spricht mir sehr aus der Seele. Wir sind oft viel zu schnell damit, scheinbar oberflächliche Trends zu verurteilen. Und haben dabei unsere körperlich-geistig-seelische Einheit einfach nur vergessen.

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  • Marc Bonanomi
    Gepostet um 20:37 Uhr, 24. Juli

    Veganismus als Selbstreflexivitäts- und Orientierungsversuch zu umschreiben greift zu kurz: Als Leiter eine veganen Flyergruppe kenne ich sehr viele VeganerInnen, und frage oft: warum lebst du vegan?. Die Antwort ist fast immer: weil das Leiden der „Nutz“-Tiere für mich unerträglich geworden ist, oder ähnlich. Ich bekomme Briefe von VeganerInnen, die mir klagen, sie können nachts nicht mehr schlafen, weil sie die Bilder von Kuhmüttern, denen ihr Kind entrissen wird, nicht abschütteln können, oder Bilder von Massenställen mit dem unendlichen Leiden der eingesperrten feinfühligen Tiere.

    Und wer gibt uns das Recht, zu sagen: „Natürlich ist selbst die Massentierhaltung angesichts humanitärer Katastrophen das kleinere Problem“. Zählen Menschen und ihr Leiden mehr als Schweine, einfach weil wir besser töten können als diese?

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    • stephan
      Gepostet um 20:58 Uhr, 24. Juli

      lieber marc, ich wollte keinesfalls das tierleid kleinreden. selbstreflexivitäts-und orientierungssysteme verstehe ich als obergruppen derjenigen mentifakte, zu denen weltanschauungen, religionen und ideologien gehören. vielmehr geht es mir darum, gegen dieses billige „es gibt wohl wichtigeres als…“ anzuschreiben. ich bin froh um euren einsatz für die sache! herzlich, stephan

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  • Marc Bonanomi
    Gepostet um 20:54 Uhr, 24. Juli

    Im Übrigen finde ich den Beitrag von Stephan Jütte überaus wertvoll. Die Formulierung: „gerne sich selbst zu sein“ habe ich mir gleich in meine Agenda notiert. Und den Abschnitt: Sinn und Selbstliebe habe ich mir als Ganzes herauskopiert. Ich danke Stephan herzlich für den Beitrag.

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  • michael vogt
    Gepostet um 02:26 Uhr, 25. Juli

    „alle Versuche ein Selbst zu sein, das man mag, zu verteufeln, trifft den Punkt eben auch nicht. Denn sich selbst zu lieben ist vielleicht eine der grössten und schönsten Auf-Gaben, die wir Menschen haben. Und darauf „Prost“! …mit oder ohne Shirt ;)“ die intension verunmöglicht aber nicht selten das intendierte. darum prost auf das wort buddhas „das selbst ist eine illusion“. die durchgehende kausalität bis zur aufhebung der person – die daraus hervorgeht. die illusion wird zur person und die person, die etwas von sich aus kann, zur illusion.

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    • michael vogt
      Gepostet um 08:55 Uhr, 25. Juli

      zwei „falsch“ zuviel: wollte meines wegnehmen und ein „inspirierend“. das ging, aber das falsch ging nicht weg, im gegenteil.

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  • Claudia Mehl
    Gepostet um 10:39 Uhr, 25. Juli

    Danke, Stefan Jütte, für diesen ehrlichen und gut tuenden Beitrag. Wir sind oft viel zu schnell mit (ver)urteilen und lassen uns nur allzugern vom Mainstream leiten. Öfter nachdenken, reflektieren und ehrlich zu sich selbst sein täte uns allen gut.

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    • Ruth Floeder-Bühler
      Gepostet um 11:27 Uhr, 25. Juli

      Ich bin nicht WIR. Genau das ist Mainstream, sich mit einer gedachten, vorverurteilenden Allgemeinheit zu solidarisieren und dann zu bestimmen, was „uns allen“ gut täte. Es GIBT Menschen, die reflektieren und ehrlich zu sich selbst sind 🙂

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      • Claudia Mehl
        Gepostet um 16:51 Uhr, 25. Juli

        Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel. 🙂

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  • Ruth Floeder-Bühler
    Gepostet um 11:19 Uhr, 25. Juli

    Wer sich selber liebt, SCHEITERT NICHT, denn er gibt sich Raum und Zeit, sein Leben zu gestalten. Scheitern tut man an Grenzen und Standards, die einem andere setzen. Gestaltung von Leben und Lebensraum für sich und andere Menschen – die «Nächsten» – findet ausserhalb der Werteskala der Allgemeinheit statt. Jeder Mensch ist anders und scheitert deshalb unweigerlich, wenn er das zu BEEINFLUSSEN sucht, was «man» für wichtig und richtig, beziehungsweise für schrecklich und falsch hält.
    PSEUDORELIGIÖS? Die meisten Vegetarierinnen der ersten Stunde (in den 1980/1990ern) glaubten, die absolute Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Ihre Bekehrungsversuche scheiterten zwar letztlich, konnten aber eingefleischten Wurstessenden doch den Genuss vergällen. Mahl für Mahl erklärten sie, wie schrecklich und falsch es sei, sich mit Fleisch zu ernähren. Die Predigt endete stets mit dem Bekenntnis, sie verzichteten darauf, Tierleichen zu verspeisen. Auf den Einwand hin, Pflanzenleichen seien aber offensichtlich genehm, erntete man Blicke, die hätten töten können. Die Selbstliebe gebot, nicht mehr mit solchen Vegetariern essen zu gehen.

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    • michael vogt
      Gepostet um 20:29 Uhr, 25. Juli

      und wenn Sie’s mal nicht umgehen können: ich habe schon sehr gute vegetarische speisen auswärts gegessen. „wer sich selbst liebt, scheitert nicht“ – es sei denn an der liebe zu sich selbst, wenn sie nicht gelingt.

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    • Barbara Oberholzer
      Gepostet um 08:01 Uhr, 26. Juli

      Ich bin nach wie vor keine Vegetarierin, obwohl ich dran arbeite. Mein Antrieb allerdings sind nicht die Tierleichen, sondern Haltung und Leben der Tiere vor ihrem Tod. „Was du nicht willst, das man dir tu …“

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