Die Klinik

Seit ein paar Wochen war er in der Klinik stationiert. Ich konnte meine diffusen Ängste überwinden und habe ihn schliesslich besucht. Im Aufenthaltsraum roch es nach verwelkten Blumen und Desinfektionsmittel. Wir haben uns herzlich begrüsst, dann hat er sich kurz umgesehen und mir dann flüsternd gesagt: „Ich verstehe diese Welt nicht ganz: Menschen stressen ins Yoga, um sich dort zu entspannen, kaufen 72-Stunden-Deos und duschen täglich, haben hunderte Facebook-Freunde und vereinsamen trotzdem. Wusstest du schon, dass es Internet-User gibt, die ihre Geburtstage auf ihre Facebook-Profile wöchentlich ändern, nur damit man ihnen ständig gratuliert? Was man nicht alles für ein bisschen Liebe macht. Wo war ich wieder?“

„Bei den 72-Stunden-Deos, glaube ich“, habe ich ihm leicht verwirrt geantwortet.

„Ja, genau. Diese Phobien mit der Hygiene! Ich kenne Menschen, die ihre Wohnungen reinigen, bevor die Putzfrau vorbeikommt. Sorry, Putzkraft wäre Gender-konform gewesen. Meine kam übrigens aus Kuba, eine hübsche Putzkraft. Wie hiess sie wieder? Clara, Maria oder Maria-Clara? Kam selten pünktlich, ging dafür immer früher weg. Diese Kubanerinnen und Kubaner sind lustige Genossen! Che Guevara, die Ikone des Anti-Kapitalismus, trug übrigens eine Rolex am Handgelenk. Unglaublich! Prüfe es selbst nach, falls du es nicht glaubst. Diese Geschichte hat die Art und Weise verändert, wie ich Menschen betrachte. Und ich hüte mich davor, vorschnell zu urteilen. Die Wahrnehmung kann nämlich täuschen. Je nach Beobachtung verhält sich beispielsweise das Licht entweder als Welle oder als Teilchen. Alles Ansichtssache! Aber das wusstest du sicher bereits. Ich wäre so gerne Physiker geworden, aber die vielen Zahlen… Das war schon immer mein Trauma und gleichzeitig Traum. Apropos träumen: meine Nachbarin, die Rosetta, ist Schlafwandlerin, sie tut es aber am Tag, da fällt es weniger auf.“

Er nippte an seinem Schwarztee und fuhr fort: „Die Mission der Rosetta, und jetzt meine ich die Raumsonde und nicht meine Nachbarin, hat eine Milliarde Euro gekostet. Das habe ich irgendwo in der Zeitung gelesen. Die Wissenschaftler haben dafür herausgefunden, dass Kometen nach Schwefelwasserstoff und Ammoniak riechen. Also nach faulen Eiern und Pferdestall. Spannend, oder nicht? Übrigens: Findet die Fussball-Weltmeisterschaft tatsächlich in der Wüste Katars statt? Oder ist es ein Witz?

Ich konnte nur nicken.

Spielen die Fussballer in klimatisierten Stadien? Oder wäre es energietechnisch besser, wenn man die Spieler vorher herunterkühlen würde? Die Einhaltung des Kyoto-Protokolls hätte wahrscheinlich leistungsmindernde Auswirkungen auf die Fussballer. Das Leben ist so kompliziert geworden! Und spielt richtig verrückt. Die Kämpfer, die in Syrien vom Westen unterstützt werden, heissen neuerdings „moderate Rebellen“ und nicht mehr Dschihadisten. Ich blicke nicht mehr ganz durch. Es fehlen nur noch Komiker, die als Politiker auftrumpfen… Wieso guckst du mich so an?“

„Ehmm…Der ehemalige TV-Komiker Jimmy Morales ist in Guatemala Regierungschef geworden. Der Kabarettist Beppe Grillo führt das Movimento Cinque Stelle in Italien an, und der Comedian Jon Gnarr war Bürgermeister in Reykjavik…“

Er drehte seinen Löffel in der Tasse, obwohl sie fast leer war. Ich spähte gedankenverloren durch das Fenster des Aufenthaltsraumes. Nach einer längeren Pause zeigte er auf die Wanduhr und stellte fest: „Wie spät es bereits ist! Ich muss jetzt weg, meine Therapiesitzung wartet nicht. Mach’s gut und viel Glück dort draussen!“

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2 Kommentare
  • Käthy Bättig
    Gepostet um 07:48 Uhr, 11. November

    Es steckt soviel Wahrheit darin.

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  • Bruno Amatruda
    Gepostet um 13:29 Uhr, 11. November

    Bravo, Luca! Toll geschrieben!
    Erinnerte mich an das Buch von Lutz: Irre! – Wir behandeln die Falschen….. 🙂

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