«Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu»

Grenzerfahrungen eines freien Christenmenschen

«Nächster Halt: Eboli». Ich hebe meinen Kopf und folge mit meinen Blicken nachdenklich der vorbeziehenden kargen süditalienischen Landschaft. Hier geschieht etwas – in mir, mit mir. Ich bin väterlicherseits Italiener, meine Mutter ist Schweizerin. Beides prägt mich. Ganz bewusst reise ich immer wieder «heimwärts», um beiden Seiten meines Ichs gerecht zu werden und im Begegnen meiner bzw. Vaters Wurzeln meiner selbst und meinem Selbst wieder ein Stück bewusster zu werden. «Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu.»

Noch gut zwei Stunden Fahrt Richtung Matera, dieser Felsenstadt im Süden Italiens, so reich an Geschichte, eingegraben in einer Landschaft ausserhalb der Zeit. Auch das Dorf meines Vaters in unmittelbarer Nähe dieser Stadt atmet den hier herrschenden Geist und hat damit über ihn einiges auf mich übertragen.

Grenzen finden in den Köpfen statt: Obwohl ich bereits mindestens 1000 km innerhalb Italiens Zug gefahren bin, gelange ich erst jetzt – zunächst geografisch bei Eboli – an den Punkt, wo sich die zwei Seiten meines Ichs begegnen, reiben und stets neu finden. Hier treffen sich Geografie und Identität auf besondere Weise.

Eboli ist zum Symbolort für eine ganze Region, insbesondere die gleich folgende Region Basilicata, geworden. «Christus kam nur bis Eboli», so lautet der Titel eines Klassikers italienischer Literatur und hat den kleinen Ort, etwa 100 km südlich von Neapel, weltberühmt gemacht. Hier, wo Eisenbahn und Strasse von der Küste Salernos Richtung Landesinneres abbiegen, beginnt der Mezzogiorno, der lange vergessene Süden Italiens und endete für den Norden die Zivilisation. Darum wurde der Turiner Carlo Levi, der Autor des Romans, 1935 wegen seines antifaschistischen Wirkens nach seiner Verhaftung in die Basilicata, verbannt. In der Isolation, zutiefst beeindruckt von der bitteren Armut und den Menschen, verarbeitet er die Eindrücke der für ihn so andersartig erscheinenden Gegend als eine in sich geschlossene Welt, verhaftet in Magie und Aberglauben, von Gott und der Welt vergessen. Christus sei ebenso wenig hierhergekommen – obwohl natürlich der Süden nach einer byzantinisch-oströmischen Episode zutiefst katholisch durchdrungen und das Pantheon der Heiligen bis heute stets erweitert worden ist (Padre Pio lässt grüssen) – wie die Zeit: Wie im Mittelalter, ohne Sinn für die sich wandelnde Zeit, so lebten die Menschen hier. Keine individuelle Seele, wie sie gerade in Italien seit der Renaissance erwacht, über Humanismus und Reformation in die Welt gedrungen ist, hat hier sich je entfaltet. Individualisten wandern aus.

Eines der Probleme des Südens war und ist aber vermutlich nicht einmal die wie auch immer geartete Rückständigkeit an sich, sondern die Tatsache, dass sich die Menschen hier das Fremdbild zu Eigen gemacht haben: «Wir sind keine Christen», werden sie bei Levi zitiert, «Christus ist nur bis Eboli gekommen». Die Lukanier – so nennt man die Menschen in der Basilicata aus historischen Gründen – reden in ihren Dialekten vom «Cristiano» – vom Christen –, wenn sie über den Mensch oder eine bestimmte Person sprechen. Über die Jahrhunderte voller Eroberungen, Fremdherrschaft und Unterdrückung, politischer Fehlleistungen haben sich die Menschen, so Levis Beobachtung, aufgegeben. Alle, die sich etwas zutrauen, haben den Ort verlassen, um etwas aus sich zu machen. «Wir gelten nicht als Menschen, sondern als Tiere, als Lasttiere […], denn wir müssen uns der Welt der Christen jenseits unseres Horizontes unterwerfen […].» Dieses Reden ist Ausdruck eine jahrhundertelang gewachsenen, trostlosen Minderwertigkeitskomplexes, dem man sich erst seit wenigen Jahren, spätestens mit dem Wiedererblühen Materas im Blick auf den Titel der Kulturhauptstadt 2019 mühsam zu entwinden sucht. Stolz und Selbstbewusstsein wachsen.

Nun kehrt einer jener «Cristiani» jenseits des Horizonts wieder in seine «Wahlheimat» zurück. Mit einem kathartischen Schmunzeln nehme ich die folgende Durchsage im Zug zur Kenntnis, die meine Ahnung, dass hier noch immer eine Grenze liegt, zu bestätigen scheint: «Eboli. Attenzione: Passagiere, die hier aussteigen möchten,…» – man meint zu hören, dass es ohnehin kaum 10 sein werden – «…werden gebeten, sich in der Mitte des Zuges einzufinden, da der Bahnsteig kürzer als unser Zug ist.»

Ich frage mich, ob ich darauf vorbereitet bin, was mich diesmal erwarten wird. Freude und Spannung halten sich die Waage. Ferien vom Ich sind nicht mein Ding; ich bin mir bewusst, dass ich mich auf Reisen immer selber mitnehme. Das merkt man bereits am übermässigen Volumen meines Gepäcks. Das langsame Ankommen per Zug gehört damit zum Prozess. Selbsterfahrung als CO2-freundliche Erfahrung ist mir wertvoller als passiver Sonnenkonsum am Strand in irgendeiner Umgebung, die mir eigentlich fremd, letztlich nicht zugänglich ist.

«Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu». – Mich macht aufmerksam, wenn ich Menschen reden höre: «In den Ferien konnte ich endlich wieder einmal mich selber sein», «Ich konnte endlich wieder einmal etwas für mich tun». Fragt man nach, worin das denn besteht, verkürzt sich das Gespräch auf Erholung, mal wieder etwas tun, das Spass macht. Dergleichen und Ähnliches lässt mich fragen, warum wir uns im Alltag beständig von dem entfernen, wer wir eigentlich sind. Was macht uns aus, leben wir unsere Leidenschaften und Talente? Warum lenken wir uns davon ab bzw. lassen wir uns davon ablenken – gerade in der Freizeit? Heute spricht doch alles von Selbstverantwortung und noch nie wären wir theoretisch so frei, ja sogar Freizeit steht angesichts des einst dafür gelobten Fortschritts in so reicher Fülle zur Verfügung. Man will etwas erleben oder abschalten. Beides ist zwar legitim und wie für alles sollte für beide Anliegen eine Zeit sein. Wo aber bleibt das Ich zwischen Er-Leben und Abschalten?

Nun haben auch die Touristen das Ferienmachen in der Basilicata entdeckt. Früher waren die «Turisti» die regelmässig zurückkehrenden Auswanderer mit ihren Familien. Nolens volens war auch ich dabei. Unterdessen habe ich die Gegend lieb gewonnen und verstehe ein anderes Sprichwort, wonach man weint, wenn man ankommt (ganz nach Levi) und weint, wenn man diese wunderschöne Gegend mit all ihren Vorzügen wieder verlässt. Mittlerweilen habe ich zu Hause schon Heimweh.

Natürlich trifft man unterdessen auch in der Basilicata die Moderne, eine zukunftsorientierte Generation und Gesellschaft an. In einem Dokumentarfilm über die Basilicata sagt ein Orangenbauer aus Tursi nachdenklich: «Nun ist dieser Fortschritt auch bei uns angekommen. Mit dem Durchbrechen einer archaischen zyklischen Zeitvorstellung wird auch hier Fortschritt möglich: Die Zeit wird linear, plötzlich kommt damit Christus doch noch an – säkular, aber dafür umso vehementer, indem etwa Traditionen schneller als anderswo zerbrechen. Ich habe verstanden, was der Bauer meint, als ich auf einem Hügel stand und in die Weite dieser biblisch anmutenden Landschaft, die für viele Monumentalfilme schon Kulisse war, blickte: Genauso müssen es Menschen schon vor Jahrhunderten gesehen haben. Die Gegend lässt einen nicht unberührt; plötzlich erwischt man sich bei existenziellen Gedanken und wird auf sein eigenes Menschsein zurückgeworfen. Fortschritt hin oder her: Die Welt in dieser Gegend ist einfach anders als die hektische, in die ich hineingeboren bin.

Es ist die Jugend meiner Grossmutter, die Levi beschreibt. Noch heute mache ich mir Gedanken darüber, was davon sie meinem Vater, einem jener Individualisten, der etwas aus sich gemacht hat, und er mir direkt oder indirekt weitergegeben hat. Mir, der ich in der Schweiz geboren und sozialisiert, reformiert (nach meiner Mutter) getauft und erzogen worden bin.

Mein Vater musste auswandern, vordergründig natürlich, um Arbeit zu finden, letztlich aber auch, um seine Individualität leben zu können. Der Preis war hoch und der Schmerz der Trennung von Heimat und Mutter wurde wie bei vielen Italienerinnen und Italiener seiner Zeit in der verwundeten Seele durch das Aufrechterhalten eines Rückkehrmythos unterdrückt.

Die Reformatoren haben uns an unsere Selbstverantwortung erinnert und uns zur Individualität ermutigt. Doch unterdessen haben wir begonnen, uns Christus zu entledigen, der Fortschritt wird ökonomisiert. «Etwas aus sich machen» wird gerne und breit anerkannt in ökonomischer Dimension verstanden. Verloren gehen andere Aspekte, kreative im eigentlichen Sinn, die unser Menschsein ausmachen.

«Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu»: Das so betrachtete Zitat von Horvàth drückt die bittere Ahnung eines ungelebten Lebens aus. Was ist der Preis dafür, wenn eine Gesellschaft aus Individuen besteht, die – sofern sie noch darüber nachdenken und sich nicht aufgegeben haben – beständig den Rückkehrmythos zu einem Leben jenseits des nicht mehr nur selbstbestimmten Alltags aufrechterhalten? Was tun wir, um nicht zu jenen Tieren werden, die sich nur noch dienend und zunehmend ohne Sinn arbeitend für die fremden Herren hinter dem Horizont bücken? Christus ist in unseren Gegenden auf dem Rückzug, die Säkularisierung schreitet voran – können wir uns wahrhaft noch «Cristiani» nennen?

Diesen Beitrag fand ich...
  • wichtig (8)
  • inspirierend (43)
  • fundiert (34)
  • frech (2)
  • berührend (26)
  • langweilig (7)
  • falsch (2)
  • schlecht (0)
  • lustig (0)
4 Kommentare
  • Rossella Gualtieri
    Gepostet um 20:56 Uhr, 06. Oktober

    Spannend, berührend, ein bisschen wehmütig und – für mich – sehr familiär. Interessant…..tanti complimenti! 🙂

    1

    0
    Antworten
  • Patrick
    Gepostet um 11:09 Uhr, 11. Oktober

    Michele, bravo!

    1

    0
    Antworten
  • Anonymous
    Gepostet um 09:18 Uhr, 28. Oktober

    Sehr rühend geschrieben, wunderschön! Als ein Chinese, der seit 25 Jahren Inder Schweiz lebt und arbeitet, verstehe dieses Gefühl zu tiefst. Ja, ich wollte auswandern, nach Europa. Auf welche Kosten, weiss ich nur selber. In italien bin ich seit lange verliebt. Begleitet von deiner Erklärung über Geschichte, Religion, versänkte ich in einer Gedanken vom unbeschreibliche Heimwehr!

    1

    0
    Antworten
  • Florin, Andri
    Gepostet um 22:46 Uhr, 29. November

    Das Land der Väter mit der Seele suchend – das geflügelte Wort (Iphigenie auf Tauris) hat mir seinerzeit sehr geholfen, pädagogisch die „eiserne Ration“.

    1

    0
    Antworten

Kommentar abschicken