Ein „Dschihad“ gegen die Barbarischen

1750, mitten in einer Epoche des Aufblühens wissenschaftlich-technischer Rationalität, stellte die Akademie von Dijon die berühmt gewordene Frage „Ob die Erneuerung der Wissenschaft und Künste dazu beigetragen haben, die Sitten zu bessern“. Wir kennen die Geschichte. Ein gewisser Jean-Jacques Rousseau nahm die Frage zum Anlass einer radikalen Kritik der europäischen Zivilisation.

Eigentlich wäre es an der Zeit, über 250 Jahre danach die Frage erneut zu stellen. Das ganze 20. Jahrhundert schreit im Grunde nur eines heraus: Noch nie war so viel Barbarei! Und dies in einem Zeitalter, das wie nie zuvor wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Durchbrüche feiern kann. Oder haben vielleicht wissenschaftlicher und technischer Fortschritt gar nicht so viel mit zivilisatorischem Fortschritt zu tun? Augenscheinlich verlaufen beide – und hier kann man direkt bei Rousseau ansetzen – mit einer auffallenden Phasenverschiebung. Der politisch-soziale Fortschritt hinkt dem wissenschaftlich-technischen hinterher. Wie uns die Massenpsychologie lehrt, regrediert die Menschheit im politischen, sozialen, moralischen Sinn periodisch auf frühmenschliches Niveau. Zynischer ausgedrückt: Auch die Barbarei verzeichnet Fortschritte.

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Wir im Westen haben uns an eine Sicht gewöhnt, wonach die politische Entwicklung aller Völker universell auf das „höhere“ Ziel einer liberalen und demokratischen Ordnung hinauslaufen würde. Kürzlich hat John Gray, emeritierter politischer Philosoph von der London School of Economy, diesen Fortschrittsmythos angesichts der neuen Barbarei des Daesch (Red.: des selbsternannten IS) einer radikalskeptischen Behandlung unterzogen. Und sein Fazit gibt zu denken: Der Dschihadismus ist kein Rückfall ins dunkle Mittelalter, sondern ein postmodernes Phänomen. Gray schreibt: „Zivilisation ist nicht der Endpunkt moderner Geschichte, sondern eine Reihe von Zwischenspielen in wiederkehrenden Spasmen der Barbarei. Die liberale Zivilisiertheit, die in den letzten paar Jahrhunderten in einigen westlichen Ländern geherrscht hat, trat langsam auf und sie hatte ihre Mühen gegen eine besondere Mischung aus Traditionen und Institutionen. Diese Lebensform erweist sich da, wo sie existiert, als prekär, und sie übt keinen starken Einfluss auf die Menschen aus.“

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Das klingt wie ein Abgesang auf Liberalismus und Demokratie, und Gray ist bekannt für seine flotten kulturpessimistischen und humanismuskritischen Etüden. Aber es geht ihm um etwas ganz anderes. Der Vormarsch des Dschihadismus bringt das „selbstverständliche“ westliche Paradigma ziemlich durcheinander, wonach sich die zwei Jahrhunderte seit der Aufklärung und der französischen Revolution als Parade des zivilisatorischen Fortschritts präsentieren. Und deshalb stellt der terroristische Fundamentalismus in dieser Sicht eine „weltbarbarische“ Anomalie, einen Schlag ins Gesicht westlicher Progressivität dar.

Dagegen schlägt Gray einen Paradigmenwechsel vor: Nicht das Barbarische ist die Anomalie, sondern die Zivilisiertheit. Die liberale Zivilisation ist ein historischer Sonderfall, und deswegen metastabil, das heisst, verletzlich durch Störungen von der Art der Dschihadisten. Das wissen diese nur zu gut. Sie „beweisen“ ja mit ihren blutigen „Experimenten“ die Fragilität unserer Lebensform drastisch genug. Wie sie ihre Irrsinnsakte auch ideologisch verbrämen, sie demonstrieren vor allem eines: die Banalität des Barbarischen. Sie tragen die Barbarei in den Alltag von Flughäfen, Bahnhöfen, Geschäftsstrassen, Redaktionsbüros, Konzertsälen, Restaurants.

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Wir im Westen schauen mit Entsetzen auf die Gräueltaten, und wir zeigen uns verstört und indigniert ob diesem Affront gegen die Zvilisiertheit. Wir sehen niedrigste Atavismen aktiviert, die wir längst überwunden glaubten. Nur stellt sich das spätestens heute als ein fataler Irrtum heraus, in doppelter Hinsicht. Erstens, und das wissen wir nicht erst seit den islamistischen Terrorattacken, lassen sich Atavismen vorzüglich politisch instrumentalisieren; weil sie, zweitens, auch in uns Zivilisierten weiterleben, und wir sie nicht überwinden, sondern bestenfalls zügeln und verdrängen. Der Dschihadismus ist das Musterbeispiel moderner, fast möchte man sagen: rationaler Barbarei. Er setzt Atavismen als politisches Vehikel ein, er mobilisiert die instrumentelle Vernunft der Grausamkeit. Der Terrorist – das klingt vielleicht paradox – will nicht primär töten. Der Tod ist Mittel zum Zweck, und der Zweck lautet: Verbreitung von Angst und Orientierungslosigkeit. Jeder Mensch ist ein  potenzieller Kombattant. Ganz dieser Logik folgt zum Beispiel ein einflussreiches Handbuch des Terrorismus, geschrieben von einem gewissen Abu Bakr Naji, einem Chefdenker der Al Qaida: „Die Verwaltung der Barbarei“, 2006 auf Englisch erschienen („The Management of Salvagery“). Wie schon der Titel sagt, handelt es sich unter anderem um ein Manual der systematisch eingesetzten Grausamkeiten zum Aufbau eines islamischen Staates. In der trockenen Sprache eines wissenschaftlichen Traktats erläutert der Autor die „logischen“ Schritte einer strategisch erzeugten Barbarei, auf die ein theokratisches Regime schliesslich ordnend aufbaut.

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Die Lektion, die wir daraus ziehen sollten, ist klar: Wenn das Barbarische sich brachial Zutritt zu unserem Zivillleben verschafft, dann muss auch unser Weltbild die Konfrontation mit dem Barbarischen zulassen. Nicht in der breitbeinigen Haltung eines Showdowns, sondern in der Erkenntnis, dass das Barbarische uns nicht „von aussen“ entgegentritt, sondern Teil unserer selbst ist. Man denke etwa an rechtsextreme Schlägertrupps, Fussballkrawallanten und andere Saurauslasser.

In seiner „Strukturalen Anthropologie“ las Claude Lévy-Strauss dem Westen die Leviten: Barbar sei, wer an Barbaren glaube. Es handle sich also beim Barbaren notwendig um einen relativen Begriff, der über den, der ihn verwendet, ebensoviel aussage wie über den, auf den er angewendet wird: eine eurozentrische Schablone, in die man mit kolonialem Dünkel alles Andersartige, Nicht-Europäische presse. Und aus diesem Grund müsse der Unterschied zwischen Zivilisiertheit und Barbarei aufgehoben werden. Solchem Relativismus muss heute vehement widersprochen werden. Im dschihadistischen Kartell des Verbrechens nimmt eine Barbarei Gestalt an, die sich als eine solche verstanden wissen will. Der Dschihadist trägt stolz das Etikett, das ihm angeheftet wird. Die Banalität des Barbarischen zu akzeptieren bedeutet also ganz konkret, der unliebsamen Wahrheit ins Auge zu sehen, dass die Barbarei im absoluten Sinne existiert.

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Die Kernaussage dieser Barbarei ist von permanenter Bedrohlichkeit. Sie lautet: Der Barbar ist immer der andere, der Vertreter einer anderen Lebensform, Kultur, Religion, Rasse, Sexualität. Und für ihn gelten nicht die Normen und Gesetze von „unseresgleichen“. Längst hat die Psychologie in zahlreichen Experimenten dokumentiert, dass eine solche Neigung in uns allen existiert, und dass es zu einer der bedeutendesten Errungenschaften der Zivilisation gehört, diese Neigung im Zaum zu halten, obwohl sie stets im Untergrund lauert und unter geeigneten Bedingungen – z.B. Perspektivenlosigkeit, Frustration, Hirndressur –  jederzeit hervorbricht. Die Barbarei, die uns heute im Dschihadismus provoziert, manifestiert einfach ungeschminkt diese Tatsache.

Es ist offenbar schwierig, und es braucht psychische und intellektuelle Anschubenergien, den Fremden als einen Menschen „wie unseresgleichen“ zu behandeln. Der Appell der Aufklärung beinhaltet den Imperativ einer solchen Selbstüberwindung. Es fiel nota bene selbst den Aufklärern oft schwer, ihn zu befolgen. Der Barbar in uns widersetzt sich ihm. Ihm müsste ein „Gegen-Dschihad“ gelten, der ihn zum ungebetenen Begleiter unserer selbst macht, damit man sich mit ihm auseinandersetzen, ihm widersprechen kann. Das gehörte zur Anstrengung einer Aufklärung der Postmoderne. Und sie müsste nicht bloss die Signatur des heute wieder viel beschworenen Abendlandes  tragen.

 

 

 

 

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11 Kommentare
  • Luca Zacchei
    Gepostet um 16:32 Uhr, 18. Oktober
  • Nicolas Mori
    Gepostet um 09:53 Uhr, 20. Oktober

    Selbstverständlich, das Böse war nie weg. Wer je etwas anderes bzw. an das ultimative „Projekt der Moderne“ glaubte, war schon immer unverbesserlich naiv. „Unter dem Pflaster liegt der Strand“, meinten die 68er. Dass da auch ein Sumpf sein kann, zeigt der Blick in jede nächstbeste Zeitung, man muss dafür nicht die „Dialektik der Aufklärung“ lesen.
    Auch die Einsicht, dass das Bedrohliche einem näher ist, als man denkt, ist nicht gerade neu. Das weiss jeder, der seine eigenen Reaktionen und Verhaltensweisen beobachtet. Auch hier: Man muss für diese Einsicht nicht „Der Fremde in mir“ von Arno Gruen lesen. Um den zu bekämpfen, braucht es übrigens auch keinen Anti-Dschihad, da reicht der Dschihad als solcher, aber eben so, wie ihn die Sufi-Mystiker verstanden haben: als Kampf gegen das Widerstrebende in mir, mich zu einem besseren Menschen zu machen. Und ja, es darf natürlich auch eine zeitgemässe Therapie sein.
    Schliesslich: Die Verwirrung um das Verhältnis von Postmoderne und Islamismus stammt nur da her, dass man die Postmoderne zeitlich versteht und für einen Epochenbegriff hält. Das ist aber wenig produktiv. Hilfreicher ist, sie als eine Entwicklungsstufe des Denkens zu begreifen, die vielleicht mit Nietzsche begann und die präsent bleiben wird, so wie auch die Stufen vor ihr. Von diesem Denken sind noch keine 10 Prozent der Weltbevölkerung geprägt (z.B. „kulturell Kreative“ oder Postmaterialisten). Und auch die dschihadistische Weltsicht teilen noch rund 10 Prozent der Bevölkerung, hierzulande einfach unter anderer Flagge (darauf hat Slavoj Žižek hingewiesen). So gesehen können Postmoderne und Islamismus problemlos koexistieren, was sie ja auch tun. Ein postmodernes Phänomen ist der Dschihadimus deswegen noch lange nicht, im Gegenteil.

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  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 16:55 Uhr, 20. Oktober

    Ein Dhijad als Anstrengung, die eigenen barbarischen Impulse zu verstehen, bzw. zu kontrollieren ist durchaus wünschenswert und als aufklärerischer Imperativ ein wichtiges Moment, der eigenen wie der fremden Barbarei zu widerstehen.
    In ihrem Buch „Fremde sind wir uns selbst“ zeigt die Psychoanalytikerin Julia Kristeva in Anlehnung an Freud, dass die Thematisierung des Fremden, des Anderen solange unvollständig bleibt, als sie nicht Freuds »kopernikanische Wende« mit vollzieht, die da lautet: »das Anndere ist mein (eigenes) Unbewusstes«. Ausgehend von dieser psychoanalytischen Einsicht plädiert Kristeva für einen Umgang mit dem Fremden, der in einer Ethik des Respekts für das Unversöhnbare in uns selbst gründet.

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  • Heimito Nollé
    Gepostet um 20:52 Uhr, 20. Oktober

    Unter Banalität des Bösen verstand Hannah Arendt die Gedankenlosigkeit von Tätern wie Eichmann, die sich dem Nachdenken über die Konsequenzen ihres Tuns radikal verweigerten. Das hat nicht das geringste damit zu tun, dass der Terror in den Alltag von Flughäfen und Bahnhöfen getragen wird. Wenn man schon so offensichtlich auf einen prominenten Begriff anspielt, sollte man die Zusammenhänge doch richtig wiedergeben. Der Begriff einer Banalität des Barbarischen ist daher auch denkbar ungeeignet, um den kalkulierten Terror der Postmoderne zu beschreiben, der sich gerade dadaurch auszeichnet, dass er die Konsequenzen sehr bewusst auf sich nimmt.

    Die Vorstellung einer «Barbarei im absoluten Sinne» halte ich für ein Unding, es sei denn Sie wollten das metaphysisch oder theologisch begründen. Das tun Sie aber nicht denn im nächsten Satz schreiben Sie: «Der Barbar ist immer der andere, der Vertreter einer anderen Lebensform, Kultur, Religion, Rasse, Sexualität.». Und das ist auch völlig richtig, Barbarei ist eben kein absoluter Begriff, sondern drückt immer eine Relation aus.

    Ein «Gegen-Dschihad» gegen uns selbst? Eine seltsame Auffassung von Selbstdisziplinierung. Was könnte daraus anderes entstehen als eine Truppe fanatisierter Kampfmönche? Wohin ein solches martialisches Verhältnis zu sich selbst führt, haben wir ja in der Geschichte von Preussentum und Nazismus zur Genüge erlebt.

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    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 14:19 Uhr, 22. Oktober

      Ein so verstandener Djihad generiert keine „Kampfmönche“ (und -nonnen), sondern ist als moralische Anstrengung zu verstehen, die eigenen barbarischen und auch nur gedankenlosen Impulse zu kontrollieren, bevor sie in fatale Handlungen umgesetzt werden. Das Konzept ist keine Erfindung, sondern in den Hadithen des Propheten Muhammad verbürgt.

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      • Heimito Nollé
        Gepostet um 18:52 Uhr, 22. Oktober

        Der Autor hat sich auf den Vernunftbegriff der Aufklärung berufen, und damit hat das Konzept eines Djihads wenig zu tun. Dass auch Religion disziplinierend wirken kann, sei damit gar nicht in Abrede gestellt.

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        • Esther Gisler Fischer
          Gepostet um 10:38 Uhr, 24. Oktober

          Im postmodernen Durcheindander treffen eben auch Konzepte aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen aufeinandner und da hat das Eine sehr wohl etwas mit den Anderen zu tun!

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    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 08:23 Uhr, 23. Oktober

      Besten Dank Herr Nollé für Ihre hilfreichen Präzisierungen!

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  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 14:22 Uhr, 22. Oktober

    Gerne bringe ich an dieser Stelle auch eine interessante Analyse zum Verhältnis von Gewalt und Religion(en) ins Spiel, wie sie von der britischen Religionswissenschafterin Karen Armstrong in ihrem Bch „Im NAmen Gottes-Religion und Gewalt geleistet wurde. Anbei eine Rezension von der Religionsredaktoron von Radio SRF Judith Wipfler:
    http://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/das-buch-zur-stunde-im-namen-gottes-religion-und-gewalt

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  • Felix Geering
    Gepostet um 14:14 Uhr, 29. Oktober

    Exzellente Abhandlung.

    Mein Kommentar: Hassen kann man nur, was man nicht kennt. Dummerweise funktionieren wir Menschen so, dass uns das Fremde nicht wirklich interessiert; lieber umgeben wir uns mit Menschen und Meinungen, die uns in unseren vorgefassten Ansichten bestärken. Neue Gedanken, die zu stark vom Althergebrachten abweichen, werden rundweg abgelehnt und als „Irrtum“ bezeichnet – völlig egal ob der Gedanke an sich wahr sei oder nicht. Das ging längst nicht nur Galilei so.

    Anders gesagt: Der Fremde interessiert uns eigentlich gar nicht. Lieber drehen wir uns um uns selber.

    Selbst dort wo die Oekumene (oder Interreligiosität) funktioniert, ist es in der Praxis meist nicht mehr als ein freundnachbarschaftliches Nebeneinander. Jedenfalls eher kein Miteinander.

    Mit Blick auf die Barbarei, die ja immer die Anderen betrifft (wie Eduard Kaeser exzellent darlegt), wäre es daher schon ein grosser Schritt, wenn wir lernen würden zu sagen: „Du bist zwar Barbar, aber es ist ok, wenn für dich andere Massstäbe gelten als für mich.“ – Hat dann natürlich auch ein paar Implikationen auf westlichen Kulturexport wie z.B. die Menschenrechte, die auch eine „Erfindung des Westens“ sind und die deshalb in anderen Kulturen weder verstanden noch befolgt werden. Das ist ein starkes Stück, ich weiss. Aber wir sollten bei der Aussage „du bist Barbar und das ist für mich ok“ nicht davon ausgehen, dass wir dabei nichts Neues lernen müssten.

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