Gott und die Quantenphysik

Der Materie-Begriff in der Quantenphysik

Während in der klassischen Physik die Existenz der Materie nicht hinterfragt wurde, wirft die Quantenphysik diesbezüglich Fragen auf: Gibt es überhaupt so etwas wie Materie oder eine gegenständliche Realität? Wenn die kleinsten Elementarteilchen zerlegt werden, was bleibt dann am Schluss übrig? Nur Wahrscheinlichkeiten bestimmter Phänomene? Der verstorbene Physiker Hans-Peter Dürr dazu:

„Eine konsistente Erklärung der Quantenphänomene kam zu der überraschenden Schlussfolgerung, dass eine objektivierbare Welt, also eine gegenständliche Realität, wie wir es bei unserer objektiven Betrachtung als selbstverständlich voraussetzen, gar nicht ‚wirklich‘ gibt, sondern dass sie nur eine Konstruktion unseres Denkens ist, eine zweckmässige Ansicht der Wirklichkeit, die uns hilft, die Tatsachen unserer unmittelbaren, äusseren Erfahrung grob zu ordnen.“ [1]

Nach Hans-Peter Dürr ist die Wirklichkeit als ständiger Prozess von Veränderungen zu verstehen. Ihre Umschreibung liegt ausserhalb von Begrifflichkeiten, währenddessen sich die Realität als die beschreibbare, stoffliche Welt auszeichnet. Die Materie kann als geronnene Beziehung verstanden werden. In Wirklichkeit würden wir aber mehr erleben, als wir „be-greifen“ und kategorisieren können. Auch einer der Begründer der Quantenmechanik, Erwin Schrödinger warnte uns davor, Atome und Teilchen materialisieren zu wollen: „Es ist besser, sich Teilchen nicht als dauerhafte Einheiten vorzustellen, sondern eher als Augenblickereignis. Mitunter formen diese Ereignisse Ketten, welche die Illusion erwecken, dass wir es mit einem dauerhaften Objekt zu tun haben.“ [2]

Geist und Materie

Grundsätzlich können diese Perspektiven auf Geist und Materie eingenommen werden:

  • Alles ist immateriell und nur eine Illusion in unserem Kopf
  • Alles ist materiell und kann deshalb gemessen werden
  • Die Welt ist sowohl Geist als auch Materie, Geist und Materie bedingen sich gegenseitig.

Nach Meinung des englischen Philosophen George Berkeley (*1685; †1753) hätten Menschen keinen anderen Zugang zur Welt als über menschliche Vorstellungen bzw. Ideen. Er vertritt somit die These, alles sei immateriell. Es gibt zwei Standbeine, auf denen menschliche Kenntnisse beruhen: Auf etwas, das wahrnimmt (esse est percipere) nämlich wir selber, und auf etwas, das wahrgenommen wird, nämlich auf unseren Vorstellungen, auch Ideen genannt. George Berkeley behauptete, dass alles, was wir wahrnehmen, nur Phänomene unseres Bewusstseins seien. Ein Ding sei überhaupt nichts anderes als eine konstante Summe von Empfindungen im Bewusstsein.

Die Sicht der indischen Philosophie

Die Lehre des Vijñānavāda (Bewusstseinslehre) hat viele Parallelen und Gemeinsamkeiten mit der Immaterialismus-These von George Berkeley: In den Gedanken und Vorstellungen schaffen wir uns eine vermeintlich reale Welt, die in Wahrheit aber nur in der kreativen Phantasie des Betrachters besteht. Alles ist nur Bewusstsein, nur Geist (citta) und nicht wirklich. Den Dingen kommt deshalb kein Eigensein, keine eigentliche Realität zu. Die Welt ist nichts mehr als eine mentale Konstruktion, somit nur Traum, nicht seiend. Nichtseiend ist aber auch der Träumer (Ich), denn ist die Welt nur Traum, dann ist auch der Träumer (Ich) nur geträumt. [3] Die Nyaya-Lehre setzt hingegen auf der anderen Seite des Spektrums voraus, dass es Substanzen und Eigenschaften gibt, welche wahrgenommen werden können und existieren. Diese Sichtweise entspricht der Sicht der klassischen Physik, in der Elemente beobachtet und Substanzen gewogen, gemessen und beschrieben werden können. Die Charvaka-Schule ist ebenfalls weltbejahend und ausschliesslich auf das Diesseits gerichtet: „Alleiniges Mittel der Erkenntnis ist die Perzeption. Alles was sinnlich wahrgenommen werden kann, ist wahr.“ [4] Die Madhyamaka-Schule scheint hingegen eine „neutralere“ Zwischen-Position einzunehmen, welche mit den aktuellen Erkenntnissen aus der Quantenphysik eher im Einklang stehen. [5]

Der Mittelweg

Einen Mittelweg wurde im Buddhismus vom Mönch Nāgārjuna (ca. 2. Jahrhundert) beschritten (Madhyamaka-Schule): „Wenn der Urbuddhismus seine Erlösungslehre auf einen Mittleren Weg zwischen den Extremen von Lust und Leid gegründet hatte, so beschreitet Nāgārjuna mit seinem Agnostizismus nun einen Mittelweg zwischen Sein und Nicht-Sein, zwischen Saṃsāra und Nirvāṇa. Er bedient sich der sophistischen Dialektik, insbesondere der Methode der reductio ad absurdum (doṣaprasaṅga), die sich einander bedingende Gegensätze in der Aporie auflöst und als Illusion, als māyā, erweist.“ [6]

Nach Auffassung der Madhyamaka-Schule müssen die unterschiedlichen Standpunkte, die uns binden, zurückgewiesen werden. Nur so können wir die Wirklichkeit verstehen. Daher wird von der Leerheit aller Gesichtspunkte gesprochen (drishti-shunyata). [7] Die Komponenten des Seins bedingen sich darin wechselseitig: „Beispielsweise ist ein Baum abhängig von den verschiedensten bedingenden Faktoren: Wurzeln, Stamm, Ästen, Zweigen, Blättern, Nährstoffen im Boden, Wind, Regen, Sonneneinstrahlung usw. Der Baum ist aus diesem Betrachtungswinkel für sich genommen gar nicht ‚da‘, sondern erst durch das Ineinandergreifen der diversen Faktoren, die ihn ‚ins Dasein erheben‘ – dazu gehören z.B. auch die Wahrnehmung und die sprachliche Zuordnung. Das gesamte Universum wirkt mit an diesem einen Baum, da alle Bedingungen ihrerseits wieder von anderen Faktoren bedingt werden. Fiele ein Faktor weg, fielen alle anderen ebenso weg. Sie sind untrennbar miteinander verwoben.“ [8] Es ist ein Wirklichkeitsbegriff, der das ganze dualistische Denken auflöst, der alles in Teile zerfallen lässt und diese Teile wiederum in kleinere Teile. Diese Einsicht gleicht stark den Resultaten aus der Quantenphysik: „Man kann das ein dürftiges und mageres Ergebnis nennen. Aber, […] die hauptsächliche Funktion einer Philosophie besteht weniger darin, die eigene Denktradition zu schaffen, die in einem Lehrbuch verbreitet werden kann, als vielmehr darin, falsche Konzepte aufzudecken und zu pulverisieren.“ [9]

Terra incognita

Die Quantenphysik beisst sich in den kleinsten Dimensionen die Zähne am „Messbaren“ aus. Dort, wo die Konventionen scheitern, die Sprache und die Messinstrumente versagen, beginnt eine terra incognita, eine Welt jenseits unserer Vorstellungen. Diese Erkenntnis kann, negativ betrachtet, ernüchternd sein. Oder dann, positiv gewertet, einem aufklärenden Zweck dienen: das gesprochene oder geschriebene Wort taugt bspw. als Erkenntnismittel nicht. Die „absolute Wahrheit“ ist nicht beschreibbar, vielleicht erlebbar.

Am Schluss bleibt eine gute Portion Zweifel und Mysterium bestehen: Wir können die verborgenen Gesetze der Wirklichkeit erahnen oder im besten Fall persönlich erleben (wie z.B. bei Mystikern, Sufisten oder erleuchtete Yogis). Sobald wir aber mit Konventionen, Konzeptionen und Kategorien (wie z.B. mittels der Sprache oder der Mathematik) die „göttliche“ Erfahrung oder das Erlebnis der „Leerheit“ mitteilen möchten, versagt die Kommunikation. Eine intersubjektive Beweisbarkeit ist nicht möglich, denn „jeder Versuch etwas Absolutes darzustellen, ist eigentlich zum Scheitern verurteilt. Etwas Absolutes oder Unabhängiges hätte als Kennzeichen, in keinem Abhängigkeitsverhältnis zu etwas anderem zu stehen. Wer könnte das Absolute wahrnehmen oder darstellen, ohne mit dem Absoluten in eine Wechselwirkung zu geraten, was das Unabhängige zu etwas Abhängigem, das Absolute zu etwas Relativem machen würde?“ [10]

Wem das zu kompliziert oder zu abstrakt erscheint, kann zum Schluss in dieser kleinen Abhandlung bei Johann Wolfgang von Goethe nach Rat suchen:

„Schau‘ alle Wirkenskraft und Samen, und tu‘ nicht mehr in Worten kramen.“

Was im übertragenen Sinne auch heissen kann: Erfreue dich an der Lebendigkeit des Tuns und versuche nicht, alles in Worten zu fassen.

 

Literatur:

[1] Dürr, Hans-Peter: Physik und Transzendenz. Die grossen Physiker unseres Jahrhunderts und ihre Begegnung mit dem Wunderbaren, Bern 1986/7, S. 11.

[2] Schrödinger, Erwin: Science et Humanisme, in: Physique quantitique et représentation du monde, Paris 1992, S. 47.

[3] Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Vij%C3%B1%C4%81nav%C4%81da.

[4] Mall, Ram Adhar: Indische Philosophie, S. 62.

[5] Vgl. dazu Kohl, Christian Thomas: Buddhismus und Quantenphysik.

[6] Weber-Brosamer, Bernhard/Back M., Dieter: Die Philosophie der Leere, Vorwort.

[7] Vgl. Mall, Ram Adhar: Indische Philosophie, S. 147.

[8]  http://de.wikipedia.org/wiki/Nagarjuna.

[9] Kohl, Christian Thomas: Buddhismus und Quantenphysik, S. 133.

[10] Kohl, Christian Thomas: Buddhismus und Quantenphysik, S. 140.

 

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7 Kommentare
  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 10:34 Uhr, 11. August

    Danke für diesen spannenden und herausfordernden Beitrag Herr Zacchei!
    „Die Materie als geronnene Beziehung“ gefällt mir sehr gut und scheint mir anschlussfähig zu sein an feministisch-theologische Konzepte, wie ich sie kenne.

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  • Alpöhi
    Gepostet um 15:46 Uhr, 16. August

    Geist und Materie sind beide Ausdruck derselben Wirklichkeit… Welcher Wirklichkeit? Der Wissenschaftler muss sagen: „Ich weiss es nicht.“ Die Glaubenden sagen: „Ist ja klar“ 🙂

    „Materie als geronnene Beziehung“ ist in der Tat ein schöner Denkansatz. Denn Beziehung ist das, was sich von vorne bis hinten als roter Faden durch die Bibel durchzieht: Gott schafft Beziehung; sie geht den Menschen kaputt; Gott flickt sie wieder; sie geht den Menschen wieder kaputt; Gott flickt sie wieder; usw. usf. bis hin zur neuen Schöpfung, in der die Beziehungen nicht mehr kaputt gehen.
    Aber, Frau Gisler, mit feministischer Theologie hat das nichts zu tun, denn alles wirkliche Leben ist Beziehung.

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    • michael vogt
      Gepostet um 15:43 Uhr, 20. August

      lieber alpöhi, was du über beziehung sagst, ist mir dann doch etwas zu schematisch-einfach. beim flick bist du eindeutig, beim riss bleibst du unbestimmt. von den heiligen schriften gibt es aber zahlreiche, die sagen, der stoff, der riss und der flick hätten denselben ursprung. karl barth hat die meinung vertreten, der riss komme daher, dass da etwas dazukomme, was noch eine andere herkunft habe, eine unbekannte, also auch nicht vom menschen herrühre: das nichtige, das keine substanz habe. sein bekanntester schüler hat dann gesagt, das könne nicht sein, es gebe keine antwort. nun, bevor dir die sache mit der beziehung, auch durch die beziehungsgenerierende mobilität und den beziehungsstiftenden mobilfunk zum alptraum wird, möchte ich dich daran erinnern, dass es neben dem nicht-metaphysischen denken mit seinen grundkategorien beziehung und ereignis noch das metaphysische denken gibt mit den grundkategorien wesen, natur und substanz. es ist, wie wenn du in deinem garten eine hängematte ausspannst. du gehst vom nicht-metaphysischen ins metaphysische. und spannst aus. da entlädt sich das ganze drama mit der beziehung bei dir vielleicht wiederum in einem alptraum. danach bist du eigenartig entspannt. wieder beziehungsfähig sozusagen. du hast deine position auf der alp nicht schlecht gewählt: wenn du einen berg mit zwei linien zeichnest, bist du, solange du auf der linie bist, immer am aufsteigen oder absteigen. bist du zuoberst, gibt es nur noch eines. wo aber keine zweiheit ist, ist auch keine beziehung. dasselbe, wenn du absteigst: hast du den fuss des berges erreicht – du kannst ihn mit einer linie zeichnen – gibt es auch wiederum nur noch eines. ein traum, wie du beides von deiner alp aus erreichen kannst! während die urbanen zuerst auf ihren bahnen anfahren müssen. für diese erfahrung des einen ist im letzten jahrhundert ein wort aufgkommen, von dem ich mir immer wieder etwa wünschen würde, es würde – zusammen mit seiner verwandten spiritualität – wieder abtauchen: mystik. du siehst die nähe des metaphysischen zum mystischen: die ruhe von der beziehung, in der die beziehung von grund auf erneuert wird. du kannst auch im beitrag sehen: dort, wo die rede auf das absolute, auf das losgelöste kommt, ist sense mit der beziehung. und doch ist das leben, französich gesagt, nicht sens beziehung. zugleich muss man sich aber fragen, ob es gesund ist, jede substanz in beziehungen aufzulösen. da ist immer unser rationales, diffenzierendes bewusstsein am werk. substanz heisst soviel wie ereignislosigkeit. es gibt eine verwandtschaft von substanz und sabbat. und sonntag. die sonne muss auch mal untergehen, damit sie wieder aufgehen kann. beziehung und nicht-beziehung verhalten sich zueinander wie leben und tod, der, soweit er in das leben integriert und transformiert ist, das leben lebendig macht. als in die jahre gekommener kannst du dich nicht mehr so flink anziehen wie heidi. wie kannst du auf einem fuss stehen, ohne das gleigewicht zu verlieren? am fuss des berges. oder zuoberst. oder auf der alp. überall. nur darf es nicht mehr geben als eines.

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  • michael vogt
    Gepostet um 00:49 Uhr, 17. August

    am ende wird nicht erwogen, ob es eventuell sein könnte, dass das absolute sich selbst in worten menschlicher sprache offenbart, und sich damit seiner absolutheit begibt. so wie das ganze universum am baum mitwirkt, könnte das sich seiner absolutheit begebende ja auch an einem wort mitwirken.

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    • Luca Zacchei
      Gepostet um 11:51 Uhr, 23. August

      Mir ist schwindelig! Ich werde wohl heute so tun, als ob es draussen wirklich und echt sei und die Sonne am Mittag geniessen 😉

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      • michael vogt
        Gepostet um 00:45 Uhr, 25. August

        ich empfehle die übung, die ich am ende alpöhi empfehle https://www.diesseits.ch/gott-und-die-quantenphysik/#comment-4271. was mir nicht gefällt, ist die unvollständigkeit der alternativen, die Sie am ende bringen. pater lassalle, das genie unter den westlichen zen-meistern, hat immer wieder gesagt: „zen sagt: wenn du es nicht sagen kannst, ist es nicht erleuchtung.“

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        • michael vogt
          Gepostet um 17:09 Uhr, 25. August

          in einem früheren jahrhundert war es üblich, ein erleuchtungsgedicht zu schreiben. meister kessu, der später zum christentum konvertierte, fragt in der ersten zeile:

          ah, dürrer baum, wer hat dich gepflanzt?

          er würde mir vielleicht zustimmen, dass es verschiedene antworten gibt, die alle „stücke“, wie ein weiser sagt, desselben gebäcks sind, das sich selbst gebacken hat. da kessus zeile gleich zwei mal zu Ihrem beitrag passt, würde wohl sogar charles darwin ihr durchsetzungskraft zugestehen.

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