Gutschweizerische Demokratie in Zwinglis Zürich

Anregung einer «Helvetischen Lightkultur» im Leitartikel von Marc Tribelhorn in der Neuen Zürcher Zeitung am Vortag des 1. August 2017: eine Bankrotterklärung des Wirtschaftsliberalismus! Die Welt sei unberechenbar geworden. Wie wenn sie je berechenbar gewesen wäre: Weltwirtschaftskrise in den 1930ern, 2 Weltkriege im 20. Jahrhundert, Kalter Krieg, Sechs-Tage-Krieg, Ölkrise, Jugend-Revolten um die 1970er und in den 1980ern, Terror der Roten-Armee-Fraktion (RAF), Terror des Islamismus. Der ungebrochene Krisenzyklus seit den 1990ern muss analog dem Schweinezyklus als Symptom betrachtet werden, dass das liberale Wirtschaftssystem nicht funktioniert, vermutlich nie funktioniert hat.

«Mit Schwarz-Weiss-Denken und Absolutheitsphantasien ist hierzulande kein Staat zu machen», sagt Tribelhorn und schiesst dabei auf die CVP, die sich mit ihrer Rückbesinnung auf ein christliches Fundament lediglich Profil verschaffen wolle. Leitkultur impliziere ein hierarchisches Verhältnis zwischen verschiedenen Kulturen: «Kein hochtrabender Wertekanon also, sondern eine Art Leitkultur light».

Eine Light-Version des Wirtschaftsabsolutismus also, wie er gerade in der Politik der Vereinigten Staaten von Amerika auf die Spitze getrieben wird mit intendierter Neuauflage des Kalten Kriegs mit Russland? Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schreiben im Vorwort zur Dialektik der Aufklärung 1944 im US-amerikanischen Exil: Es gehe um die «Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt [mit der Aufklärung] in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.» Und wenn die – durchaus christliche – Leitkultur als Fundament den dringend nötigen Systemwechsel anstossen kann, eine Reformation?

«Mit Schwarz-Weiss-Denken und Absolutheitsphantasien ist hierzulande kein Staat zu machen», meint der humanistisch geprägte Theologe Ulrich Zwingli ab 1519 in Zürich und bezieht sich auf das Evangelium als das christliche Fundament. Er wendet sich gegen die Hegemonie des Papstes in einer Politik und Gesellschaftsordnung, welche die Menschen über den Tod hinaus drangsaliert. Martin Luther spricht in seinen 95 Thesen 1517 von Erpressung, wenn er das Gehabe der katholischen Kirche als Finanzimperium und moralisch-juristische Kontrollinstanz anprangert. Genau das ist der (Er)-Lösungsansatz von Jesus Christus in den Evangelien: Die freie Lebensgestaltung des Menschen jenseits von Korruption und Armut.

Lebensgestaltung ist neben Einbettung ins grosse Ganze (Gott als höchstes Gut) Ansatz für die 67 Thesen, die Zwingli der säkularen Regierung im frühdemokratischen Zürich 1523 zur Diskussion (Disputation) vorlegt. Der Rat von Zürich hatte ohnehin die Erneuerung der städtischen Gesellschaft im Sinn und fand, dass der Realpolitiker Zwingli viel dazu beitragen könne. Mit Verweis auf die helvetische, einzigartige Kompromiss- und Verständigungskultur sagt Tribelhorn in der NZZ: «Die Respektierung der demokratischen Verfahren eint uns viel mehr als die konkreten Inhalte, die verhandelt werden.» Das ist weder Dogmatismus noch helvetische Lightkultur. Das ist Gestaltung und Einbettung ins grosse Ganze!

 

Link zum Thema:

NZZ vom 31.7.2017, Kommentar von Marc Tribelhorn zum 1. August:
Helvetische Ligthkultur

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2 Kommentare
  • Wilfried Floeder
    Gepostet um 21:13 Uhr, 01. August

    Super Artikel, geradezu ein Feuerwerk.

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  • Christian Schenk
    Gepostet um 14:44 Uhr, 09. August

    Ein sehr kompakteren und anspruchsvoller Beitrag. Ich bin in Theoligie ungebildet, finde die aufgezeigten Zusammenhänge aber spannend und bedenkenswert. Ich finde es wertvoll und unerlässlich, dass Theologen das aktuelle Geschehen in grössere historische Zusammenhänge hineinstellen.

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