Kanton «Übrig» und erübrigte Fragen

Sie sprechen den gleichen Dialekt wie die Leute auf der anderen Seite des Rheins, fahren Ski und verstehen wie auch wir etwas von Wellness in alpinem Ambiente, Zürich ist ihnen näher als Wien und überhaupt: Grenzen finden – einmal mehr – in den Köpfen statt. Und doch sind sie eben nicht Eidgenossen geworden. Wissen Sie, was der «Kanton Übrig» ist? Ich verrate es Ihnen:

Vor 100 Jahren, am 11. Mai 1919, in der noch unsicheren Lage nach dem Ersten Weltkrieg wurde im Vorarlberg eine Volksabstimmung durchgeführt. Die Frage lautete, ob man sich der Schweiz anschliessen wolle. Unter den grössten Vorbehalten, die hierzulande geäussert worden sind, befanden sich Gründe konfessionspolitischer Natur: zu viele Katholiken! Trotz überaus erfolgreicher Abstimmung (81 % Ja) entschieden schliesslich andere über Vorarlbergs Schicksal: Aus Österreich-Ungarn wurden zwei Staaten und der Anschluss an Deutschland, unseren «Grossen Kanton», wurde verboten. Aber seither kursiert in Vorarlberg nach der Enttäuschung ob der Schweizer Ablehnung die Eigenbezeichnung «Kanton Übrig».

Natürlich spielten auch andere Faktoren in einer beständig um Ausgleich und Konsens ringenden «Willensnation» eine Rolle: die Gegensätze von Stadt-Land, die deutliche Vergrösserung des deutschsprachigen Teils, neutralitätspolitische Erwägungen nach der zerreibenden Erfahrung des Weltkrieges … Und doch: 400 Jahre nach Zwingli waren die konfessionellen Argumente immer noch stark genug. Und sollten es noch eine Weile bleiben: Noch in der Generation meiner Eltern wusste man, gerade in einem gemischtkonfessionellen Kanton wie mein Herkunftsort Thurgau, bei welchem Metzger man einkaufte und bei welchem nicht.

Und heute? Müssig, darüber nachzudenken, wie eine derartige Abstimmung heute über die Bühne ginge und bewertet würde. Abstimmungen sind auch immer Kinder ihrer Zeit, davon weiss man in der Frage des Frauenstimmrechts ein Lied zu singen, die gerade einmal vor dreissig Jahren (30.4.89) in Appenzell Ausserrhoden eine der letzten Hürden erst genommen hat.

Soweit zum Kanton «Übrig». – Nicht erübrigen darf sich natürlich das stete Bemühen um Ökumene, die – gerade im Zeichen des Reformationsjubiläums und angesichts gesellschaftlicher Trends – in steter Entwicklung ist. Konfessionelle Gegensätze aber spielen in der Schweiz heute für die Gestaltung des politischen und gesellschaftlichen Alltags kaum mehr eine Rolle. Die Betonung der Unterschiede, wenn man denn überhaupt noch Bescheid weiss, ist nicht mehr zielführend und können wir uns angesichts der Tatsache, dass Reformierte und Katholiken bald gemeinsam in der Minderheit sind, kaum mehr leisten. «Dominus providebit» – Der Herr sorgt vor; noch heute ziert diese Zuversicht den Fünfliber und gilt für beide, für alle. Vorbei die Zeiten der gegenseitigen Sticheleien, als man noch am Karfreitag Gülle ausfuhr, einander mit dem Geläute ins Gehege kam. Heute ist man pragmatisch, und auch das haben gemischtkonfessionelle Kantone schon längst eingeübt: Sinnbild ist für mich ein Schalter in der paritätischen Kirche Ermatingen, der mit «reformiert» und «katholisch» angeschrieben ist. Stromrechnungen werden gerecht geteilt.

Und doch, damit zum Ende des Reformationsgeschichts-Trivia: Dass «Europa ohne Grenzen» auch mit konfessionspolitischen Linien immer noch zu hadern hat, stimmt gerade mit Blick auf eine der baldigen (neuen) Aussengrenzen nachdenklich, wenn wir an Nordirland denken. Wo ist da der Schalter, um dem endlich ein Ende zu bereiten?

Die Meinung des Autors in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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5 Kommentare
  • Inspofalso
    Gepostet um 06:24 Uhr, 14. Mai

    einen solchen beitrag könnte ich nicht schreiben, ohne auf die wirren im vatikan einzugehen, die uns in letzter zeit beschäftigt haben

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    • Paul Vogt
      Gepostet um 14:45 Uhr, 14. Mai

      Was haben denn „Wirren im Vatikan“ mit dieser Thematik zu tun?
      Das kapiere ich wirklich nicht!

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      • Inspofalso
        Gepostet um 04:28 Uhr, 15. Mai

        eben wurde gesagt, die katholische kirche befinde sich in der grössten krise seit der reformation. sechs frauen haben ihre kirche aus protest verlassen. . . ich könnte nicht sagen, der unterschied katholisch/reformiert erübrige sich, ohne mich damit auseinanderzusetzen.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 15:50 Uhr, 14. Mai

    Ich weiss nicht, ob es daran liegt, dass ich auch als basisnahe Spitalseelsorgerin doch eine akademische Seite behalten habe. Aber ich find deine (historischen) Beiträge, Michael, einfach immer extrem spannend und informativ. Grazie!

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  • Andri Florin
    Gepostet um 00:24 Uhr, 15. Mai

    Das Vorarlberg spricht allemannisch, aufgesetzt auf ein zuvor romanisiertes Rheintal (via rhetica). Die „ethnischen“ Voraussetzungen WAREN ALSO GEGEBEN, die wirtschaftlichen sicher auch ! Allerdings war der Raum Bregenz die ideale Schnittstelle für Verkehrsströme nach Süden. So haben verschiedene Herrschaften (Württemberg/Bayern/Oesterreich) sich den gemeinsamen Zugriff vorbehalten und den Bereich aufgeteilt
    Noch ein Hinweis aus der (kath.) Kirche: zur Untersuchung der Ungereimtheiten in gewissen Klöstern östlich vom Arlberg hatte die Wiener ‚Kurie‘ explizit einen ‚vorarlbergischen‘ Experten ernannt, weil man dessen allemannische Nüchterheit den Vorzug gab gegenüber einer erwarteten bajuvarischen Volatilität bei den ‚eigenen Leuten‘, der man eben misstraute. Diese Begründung wurde offiziell bekanntgegeben – damals in den Sechzigern.

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