Lebenskraft 2019

Zusammen mit meiner Frau habe ich letzten Samstag die Esoterikmesse „Lebenskraft“ in Zürich Oerlikon besucht. Sie ist in ihrer Landeskirche für „Neue religiöse Bewegungen“ zuständig. Da ist diese Messe ein Pflichttermin. Und wenn ich jetzt schon Geistheiler in den Salon um Sechs einlade, könne ich sie auch gleich zur Esoterikmesse begleiten, meinte sie.
In meinem Weltbild gibt es weder Geister, Feinstoffliches noch irgendwelche Energien. Aber ich hatte gehört, dass auch christliche Gruppen unter den Ausstellern sind und war gespannt, wie die sich präsentieren.

Das grosse Package

Wir haben uns für das grosse Package entschieden: Messeeintritt und Heilungssymposium für je 120.- Franken. Da das Symposium erst am Nachmittag begann, hatten wir genügend Zeit, uns die Messestände genauer anzusehen. Komplementärmedizin, Farbtherapien, Heilsteine, Shiatsu, Craniosakraltherapie, Tarotkarten, Nahrungsergänzungsmittel, Wasserfiltersysteme, Strahlenschutz, Aurachirurgie, Trommeln und Flöten für den Schamanen und immer wieder Jesus.

Heilsarmee

Die Messe ist keineswegs spektakulär. Aber wir waren etwas schüchtern, und so kam es uns gelegen, dass wir bei der – immerhin etwas vertrauteren – Heilsarmee unseren ersten Zwischenstopp einlegen konnten. Meine Füsse wollte ich nach drei Stunden in Turnschuhen nicht mehr waschen lassen – man muss christliche Nächstenliebe nicht überstrapazieren – und für das „prophetische Reden“ waren wir viel zu früh, aber der Enneagramm-Test schien uns ein guter Einstieg. Ergebnis: „Ui, zwischen euch gibt‘s immer wieder Spannungen, gell?!“ Sie zieht sich im Konflikt zurück, ich gar nicht. Im Gegenteil. Gut analysiert für einen 2-Minuten-Test!

Heilen wie Jesus

Ich hätte mir dann gerne am Stand gegenüber die Tarotkarten legen lassen. Aber 90.- Franken für 30 Minuten waren mir zuviel. Beim Stand „Heilen wie Jesus“ hat eine sympathische Frau mein Knie geheilt. „Nein, nicht ich! Das ist Jesus.“ Über den konnte ich mich direkt einen Stand weiter links informieren, wo die Gideon-Bibeln verschenkt wurden und mir ein freundlicher Christ erklärte, weshalb Jesus sterben musste. Der Mann strahlte, als ich bewundernd feststellte: „Zuerst stirbt er wegen mir und dann repariert er auch noch mein Knie!“ Nur ein paar Schritte weiter waren „Himmelsbotschaften“ im (kostenlosen!) Angebot. Ich dachte zuerst, dass das irgendwas mit Engeln zu tun habe. Der junge Mann stellte sich aber gleich vor: „Wir lieben alle Jesus und glauben, dass er dir immer helfen kann und eine Botschaft für dich hat!“ Offensichtlich funktioniert die Marketingabteilung hier besser als am Bibelstand: Kein Kreuz, keine Sünde, dafür persönliche Hilfe und viel Liebe. Meine „himmlische Botschaft“ war dann etwas vage. Und bei meiner Frau haben sie „etwas mit Kindern“ gesehen. Ich meine: Come on! Was sage ich einer ca. 30-jährigen Frau, wenn ich nichts weiss? Klar, sage ich dann etwas mit Kindern! Entweder sie will keine, bekommt keine, hat welche… Irgendwie funktionieren Kinder immer. Das ist etwa so naheliegend, wie mit Ü40-Männern über Ausdauersport zu sprechen.

Zwischenfazit beim Mittagessen

Beim ayurvedischen Mittagessen (super fein!) diskutierten wir unsere Eindrücke: Viele Stände bieten kitschige Kleinkunst zu stolzen Preisen an. Craniosakral, Shiatsu und Farbtherapie werden ja bereits von der Zusatzversicherung übernommen – eigentlich seltsam, dass die hier ausstellen. Die Schamanen, Tarotkartenleserinnen und Auratherapeutinnen sind oft etwas einsam an ihren Ständen, wohl auch, weil sie sehr teuer sind. Ganz hoch im Kurs sind die Anbieter von 5G-Strahlenschutz-Massnahmen: Dagegen helfen verschiedene Quarzsteine, Energiepyramiden verschiedener Grösse, feinstoffliche Sprays, Decken und (ziemlich teure) Amulette. Viele Besucherinnen sind Ü60. Die Freikirchen fügen sich super in die Angebotspalette ein und werden gut besucht! Das kann daran liegen, dass sie kostenlos sind, aber auch daran, dass sie konkrete Dienstleistungen anbieten, es an dieser Messe keiner schräg findet, wenn man öffentlich gesegnet wird oder jemand einem segnend Hände auflegt.

Heilungssymposium

Nach dem Mittagessen bleibt uns eine gute Stunde Zeit. Wir entscheiden uns spontan für die „Paarkeepers“. Dort berichten Eugen Bütler und Bettina Baumann mittels vieler Praxisbeispiele von blockierenden Verhaltensmustern, die sich durch Rückführungen in die frühe Kindheit auflösen lassen. Ich hatte auf ein Live-Beispiel gehofft, aber da solche Sitzungen ca. 3 Stunden dauern, war das nicht möglich.

Hilfe für Austherapierte

Das Heilungssymposium beginnt mit einem Vortrag von Prof.(!) Dr. h.c. (!) Drossinakis, der „Anlaufstelle für von der Schulmedizin ‚Austherapierte‘“. Nach einem schlecht verständlichen Vortrag, in dem uns erklärt wird, dass nach Einstein alles Energie sei und Heilung deshalb nicht wie in der Schulmedizin biochemisch, sondern physikalisch erfolgen müsse, werden zwei Frauen – eine mit Rückenschmerzen und eine mit Sehstörungen – geheilt. Die beiden sind begeistert, ich bleibe skeptisch. Danach meditieren wir 10 Minuten und fühlen uns alle besser. Das ist wirklich kein Wunder.

Aura-Operation

Weiter geht es mit Aurachirurgie: Tom Peter Rietdorf versteht seine Operationen an der Aura des Menschen komplementär zur Schulmedizin. Er heilt einen jungen Mann mit Bandscheibenvorfall. Mindestens geht es ihm nach der Behandlung gemäss Selbstauskunft besser. Rietdorf beendet seinen unterhaltsamen Vortrag mit einem klassischen Motivation-Speak: Niemand kann dein Leben ändern oder dich glücklich machen – ausser du selbst! Nimm dein Leben in die Hand.

Bullshit

Nach soviel Empowerment und Heilung muss der Raum „gereinigt“ werden, was der dritte Referent – Alexander Kalenjuk – übernimmt. Er spricht emotionslos und in kurzen Sätzen über die Manipulationen, denen wir täglich ausgesetzt sind. Seine Frau übersetzt seine Aussagen und – soweit ich das verstehe – führt sie aus. Das ist ein düsteres Weltbild! Auf der ersten Stufe werden wir physisch manipuliert: Durch Fake News, Strahlungen (besonders 5G!), Ausserirdische, Lebensmittel und Gifte. Dagegen kann man sich nicht ganz schützen, aber die Wirkungen mittels seiner SVETL-Produkte abschwächen. Auf der zweiten Ebene werden wir mental und geistig manipuliert, durch Flüche, Gedanken, Geistwesen oder Religionen. Dagegen kann Alexander zum Glück einen Schutz aufbauen! Was er dann auch tut… also eigentlich tut er gar nicht viel, ausser mit seinem Blick 5min lang durch die Zuschauerreihen zu gleiten, während wir die Augen geschlossen halten sollen. Auf der dritten Ebene werden wir durch Gott selbst manipuliert. Aber wir wissen nicht, ob das eine gute oder eine schlechte Manipulation ist. Deswegen schlägt Alexander, der Pragmatiker, vor, dass wir Gott erstmal noch beiseite lassen.

Grenzen

Mir wird richtig unwohl. Natürlich glaube ich keinem der Referenten. Aber die ersten beiden nehmen Probleme auf, die Menschen wirklich haben. Vielleicht hilft ihnen die Zuwendung, wenigstens mag es einen Placebo-Effekt geben. Der dritte aber redet Menschen Probleme erst ein! Wie muss sich ein Leben anfühlen, das ständig von physischen und mentalen Manipulationen bedroht ist? Genau: Man bucht dann diese sauteuren Kurse, kauft diese hässlichen Amulette und behandelt sein Trinkwasser mit dem SVETL-Metall…
Mit den Paarkeepern komme ich klar: Mag ja helfen, wenn man sein Problem auf einen bestimmten Punkt projiziert und betrachtet. Sogar den pseudowissenschaftlichen Heilungs-Kram kann ich ertragen. Vielleicht hilft der Placebo-Effekt, vielleicht haben Menschen dadurch Hoffnung, besser zu genesen. Und solange sie sich schulmedizinisch therapieren lassen, passiert wohl nicht viel Schlimmes. Aber diese verschwörungstheoretischen Strahlen-Manipulations-Pfuscher finde ich echt bedenklich! Sie erzeugen Unfreiheit, fixieren ihre „Klienten“ auf Probleme, die durch sie erst entstehen.
Und die christlichen Gruppierungen? Ich merkte es deutlich: Diese Form von Christentum an der Lebenskraftmesse ist nicht meine. Aber sie rührt mich. Sie ist nicht missionarisch – oder wenigstens weniger als die Lebensmittelreinigungs-, Strahlenabwehr-, Trinkwasseraufbereitungs-Freaks. Ihre Angebote sind kostenlos. Ich werde zu nichts gedrängt. Niemand speichert meine Adresse, keiner verlangt Geld oder Zustimmung von mir.

Aber sollen Christinnen und Christen da wirklich als ein Angebot neben andern mitmischen? Ich finde schon. Und ich bewundere, wie selbstverständlich sie das tun können.

Die Meinung des Autors in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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5 Kommentare
  • Susanne Scherpel
    Gepostet um 19:41 Uhr, 17. Mai

    Ich lach mich schlapp….bravoooo…. gleichzeitig kommt mir der eine oder andere Spleen in den Sinn, den ich in mein Leben eingepflanzt hatte. Jaaaaaa, ich gebe es zu: nebst Christin war ich auch Esoterikerin – das hat mich auf eine lange Odyssee geführt?

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  • Kuh
    Gepostet um 00:05 Uhr, 18. Mai

    höre ich „feinstofflich“, werde ich feiner. das ist vielleicht etwas gegen grobstoffliche manipulationen. aber ich belasse es bei diesem intuitiven. näher nachgehen mag ich der sache nicht. bei „stoff“ kommt mir in den sinn: habe es dann noch gemerkt: ph, nicht f. oder wäre f feinstofflicher? der feinstoffliche anteil? oder manipu. . . ?
    https://www.diesseits.ch/der-himmel-ist-leer/#comment-20252

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 11:40 Uhr, 18. Mai

    Wenn ich das lese, fühl ich mich grad wieder in die magische Welt meiner kindlichen Seele versetzt, in der jeder Stein, jede Blume, jedes Tier seine Bedeutung hatte. Auch heute existiert sie noch, meine kindliche Seele, und ich glaube, sie hilft mir viel! Aber anders. In gesundheitlichen Fragen würde ich mich ausschliesslich der Schulmedizin anvertrauen.

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  • Anonymous
    Gepostet um 06:57 Uhr, 20. Mai

    die vielen suchenden Schafe wurden also von der Landeskirche entdeckt…, und was gedenkt sie jetzt zu tun? Was ist denn ihre Message von Hoffnung? Jesus sagte ich bin nicht gekommen um dienen zu lassen sondern zu dienen.

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 12:30 Uhr, 06. Juni

    Mir kommt dazu das Lied in den Sinn, das wir ab und an in der Naturspielgruppe gesungen haben, das unter den Leitenden die runde machte und irgendwem wie es hiess, zugeflogen ist:

    Dank am Füür, wo di wärmt
    Dank am Stei, wo die treit.
    Refrain: Danke und dänk immer draa

    Dank am Wind, wo da isch
    Dank am Wasser. so frisch

    Dank de Weesä, im Wald
    Dank de Ahnä, ur alt.

    Dank de Menschä, wo da sind
    Dank dim innerä Chind
    Danke und dänk immer draa.

    Dieses Lied liegt vielleicht so wie dazwischen? zwischen Esoterik und Glaube an Gott. Der Dank dem Feuer? Klingt ja sehr wohl Götzenanbetungs gleich, Nur, eben dahinter liegt für mich der Dank dem – Gott – der uns Feuer schenkt, die Erde die uns trägt, der Wind, das Wasser …. schliesslich der Dank für unser inneres Kind, der Geist Ruach der in uns eingehaucht ist. Ein Wunder?! Mag das Lied esoterisch klingen, für mich war und ist es immer das darüber hinaus.
    Ich meine was wir als esoterisch bezeichnen, wer sagt uns denn, dass darin nicht gleichsam göttlilches liegt? Alles hat seine Ursprung von Gott, die Natur alles Lebendige…. daraus Heilwirkungen von Pflanzen, Erde, Wasser Luft…. weshalb nicht Stein? Neben der Schulmedizin ergänzend kann die Wirkungskraft aus der Natur absolut behilflich sein, allein, wenn ich an die Homöopathie denke! auch diese möchte ich nicht missen.

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