Nächstenliebe

Eine Freundin fragt mich in regelmässigen Abständen angriffig, mit welchem Recht wir ChristInnen die Nächstenliebe für uns beanspruchen würden: alle Menschen, sagt sie, würden gegenüber Familienmitgliedern, FreundInnen und NachbarInnen – also allen, die zum engen sozialen Netz und Rahmen gehören – solidarisches Handeln selbstverständlich finden. Das sei ein Gebot der Menschlichkeit. Und etwas anderes sei doch die vielbeschworene „Liebe“ auch nicht.

Die Reformierte Kirche identifiziert sich mit dem Liebesgebot. Keine Predigt, keine Stellungnahme ohne sie. Sie ist zur Zeit das Mantra der Reformierten. Der geradezu inflationäre Gebrauch nervt manchmal gewaltig. Aber was ist das eigentlich: Nächstenliebe?

Jesus beruft sich laut Matthäus (Mt 5,43-47) auf die levitische Weisung (Lev. 19,18), hält aber im selben Atemzug fest, dass diese nichts Besonderes ist, sondern kultur- und religionsübergreifend. Wie die sogenannte „goldene Regel“ (Mt 7,12), die Hans Küng  in den 1990ger Jahren als Mitte für eine religionsübergreifende Basis für Weltfrieden formulierte, ist Nächstenliebe das gemeinsame ethische Gut aller Kulturen und Religionen. Sie mag das Gebot der Stunde sein – doch etwas Besonderes ist sie nicht.

Für den Paartherapeuten Klaus Heer (Blick am Abend vom Donnerstag 20.10.2016) scheint „Liebe“ ohnehin ein hormongesteuertes Naturereignis zu sein, dem Menschen ausgeliefert sind: „…sie macht, was sie will“ und man kann sie „höchstens unterdrücken“. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die biblische Rede von der Nächstenliebe diese Beschreibung unterstützen würde. Gemäss dem Matthäus-Evangelium pointiert Jesus die allgemeine Menschenpflicht zur Fürsorge und Wertschätzung in doppelter Weise:

Zum einen stellt Jesus nach Markus (Mk 12, 28-31) die Gottesliebe (Dtn 6,5) als Fundament jeglicher Liebe an den Anfang: damit ist sowohl Gottes Liebe zu den Menschen als auch die menschliche Liebe zu Gott gemeint. Ohne die Anbindung an und Bezogenheit auf Gott ist Nächstenliebe undenkbar. Dabei geht es wohl weniger um emotionale Empfindungen als um Vertrautheit und Treue im Umgang, um eine Verpflichtung, die manchmal leicht aber manchmal auch schwer einzulösen ist. Die Gefühle Gott gegenüber können schwanken. Sie sind nicht zuverlässig. Doch die Bezogenheit gründet auf Konstanz und Dauerhaftigkeit.

Zum anderen erweitert der Jesus des Matthäus-Evangeliums die Pflicht gegenüber Nahestehenden zur sogenannten Feindesliebe: nicht nur den vertrauten, nahen Menschen gegenüber gilt diese Pflicht, sondern auch gegenüber den Fremden, ja sogar den Feinden. Damit wird klar, dass hier mit „Liebe“ keine warmherzigen Emotionen gemeint sein können, sondern eine Verantwortung für das Wohlergehen der „anderen“ im Blick ist. Ich schulde GegnerInnen, Fremden, Straffälligen, ExtremistInnen, keine emotionalen Gefühle, aber die Verantwortung für die Wahrung ihrer Würde. Nicht Verbundenheit durch Gefühle, nicht Hochachtung oder Wertschätzung, jedoch die Achtung ihrer Menschlichkeit sind gefragt.

Im Überschwang der Gefühle Bananen bei der Öffnung der deutsch-deutschen Grenzen oder Plüschtiere für syrische Flüchtlinge zu verschenken, hat mit dem Gebot der Feindesliebe nichts zu tun. Damit äussert sich eine Emotionalität, die auf sehr unsicherem Boden steht und genauso rasch in ihr Gegenteil kippen kann wie sie aufgebrochen war. Feindesliebe hingegen ist die Bereitschaft, in ausnahmslos jedem Menschen das Ebenbild Gottes zu sehen, gerade auch dann, wenn Welten uns trennen, wenn Verletzungen, Kränkungen, Gewalt, Missbrauch, Bedrohung im Spiel sind. Feindesliebe bedeutet nicht, alles akzeptieren zu müssen, den Kopf hinzuhalten oder sich den Mechanismen von Unterdrückung auszuliefern (so könnte 1Kor 13 gelesen werden). Im Gegenteil: Feindesliebe nimmt Partei für die Menschlichkeit – und macht Feinde zu Nächsten…

Meine Freundin hat Recht: auf die Nächstenliebe hat das Christentum kein Monopol. Darum plädiere ich für eine Begriffsabstinenz. Radikalisieren wir im Sinne der Evangelien die Nächstenliebe zur Feindesliebe: nicht gefühlsduselige Emotionalität sondern die Erhaltung der Würde jedes Menschen. Ich bin überzeugt, das gelingt nur dank der Liebe Gottes zu den Menschen.

 

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9 Kommentare
  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 08:39 Uhr, 17. Mai

    Liebe Angela, danke für diesen kritischen und gerade deshalb ermutigenden Beitrag! An dieser Nächstenliebe können wir arbeiten, sie ist nicht utopisch. Und danke auch für die Befreiung davon, bei jeder anständigen Tat grad noch edle Gefühle mitliefern zu müssen bzw. edle Gefühle mit Nachhaltigkeit und Zuverlässigkeit zu verwechseln. Einfach wohltuend, dieser Blog ?!

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  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 13:19 Uhr, 17. Mai

    Liebe Angela
    Da kann ich Barbara nur beipflichten: Du bringst es in deinem sowohl anregenden wie berührenden Beitrag auf den sprichwörtlichen Punkt!
    Besten Dank und weiter so!
    Herzlich Esther.

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  • Claudia Mehl
    Gepostet um 14:58 Uhr, 17. Mai

    Vielen Dank, Frau Wäffler, für diesen sehr guten blog. Sie beschreiben sehr anschaulich, was Nächstenliebe, auch für mich, bedeutet und sprechen mir damit aus dem Herzen. Liebe hat in der Tat nichts mit „Gefühlsdusselei“ zu tun, sondern viel mehr mit Verantwortung. So schreibt die britische Moralphilosophin Iris Murdoch in ihrem Buch „The Sovereignity of Good“ auch sehr schön:

    „Love is the extremely difficult realisation, that something other than oneself is real.”

    Zu lieben heisst demnach erkennen, dass andere Menschen genauso real sind wie man selbst. Lieben ist eine moralische Tätigkeit (besser: Haltung) und ein lebenslanger Prozess.

    Wichtig ist mir, dabei zu betonen, dass Liebe sowohl eine kognitive als auch eine emotionale Dimension aufweist. Beide Ebenen sind ineinander verwoben, bedingen sich gegenseitig und lassen sich demnach auch nicht voneinander trennen. Die Philosophie von Raimond Gaita und Christopher Cordener beschreibt das sehr gut.

    Lev 19,18 weist ja im Übrigen im Hebräischen eine Besonderheit auf. So ist das Verb „ahaw“ (lieben) mit dem Dativ „le“ konstruiert, während es sonst im Tanach mit dem Akkusativ „et“ verwendet wird. Übersetzt heisst das dann eher *tue deinem Nächsten Liebes“ und nicht etwa „liebe deinen Nächsten“ (bzw. Du sollst Liebes tun oder du sollst lieben). Vielleicht eine Nebensächlichkeit? Zufall? Exegeten folgern daraus:

    „Die Liebe der Persönlichkeit des Nächsten, eine Liebe, die aus der Quelle eines warmen Herzens strömt, ist eine Forderung, deren Erfüllung ausser dem Bereich des Denkbaren liegt. Was die Tora hier von uns fordert, ist nicht, dass wir die Persönlichkeit eines jeden zu lieben haben, als ob die bezaubernde Anziehungskraft einer sympathischen Harmonie der Persönlichkeiten nicht existiere, und als ob es den seelischen Impuls der Antipathie manchen Menschen gegenüber gar nicht gäbe. Was von uns verlangt wird, ist die praktische Forderung des Wohls unserer Nebenmenschen in demselben Masse wie wir für uns selbst sorgen, d.h, Menschenliebe in die Tat umzusetzen.“

    Ich empfinde diese Interpretation als sehr befreiend. 🙂 Im Übrigen stimme ich Ihnen voll und ganz zu, Frau Wäffler, wenn Sie schreiben, dass das Christentum kein Monopol auf die Nächstenliebe hat.

    Herzlich
    Claudia Mehl

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    • Verena Thalmann
      Gepostet um 08:37 Uhr, 21. Mai

      Danke für Ihre sehr hilfreichen Gedanken und „Erklärungen“, die zu einem positiven Weiterdenken und Nachspüren anregen.

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  • Angela Wäffler
    Gepostet um 15:21 Uhr, 17. Mai

    Vielen Dank für die hilfreichen Ergänzungen, Claudia Mehl, und natürlich die wohltuenden Echos, liebe Frauen.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 17:05 Uhr, 17. Mai

    Und noch einige Beispiele aus andern Religionen ….

    http://www.glaube-und-kirche.de/goldene_regel.htm

    Von meinem iPhone aus gesendet

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  • Michael Mente
    Gepostet um 19:31 Uhr, 17. Mai

    Wunderbarer Beitrag; danke, Angela. Mir kommt damit zusammenhängend doch auch no h etwas anderes – genausowenig Gefühlsdusseliges, aber Fundamentales – in den Sinn, das viele zu verlernen, dirch die vielen Ablenkungen vergessen oder falsch interpretiert anwenden: Die Liebe zu sich selbst. Wie heisst es schön: „…wie dich selbst.“ – Wie schwierig, wenn nicht gar der Anfang?

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  • Michael Scharfenberger
    Gepostet um 14:23 Uhr, 21. Mai

    Ein Monopol auf die Nächstenliebe? Nach dem Gesagten, wäre es möglich, eine human-humanistische Position der Nächstenliebe zu entwickeln, nach der in allen Religionen gefragt werden müsste? Schließlich noch eine Bemerkung zum Verhältnis von Selbstliebe, Selbstsucht und Nächstenliebe: Heißt es nicht ursprünglicher: Liebe deineN NächsteN, er/sie ist wie Du? Was bedeutete das dann gewendet auf das Gebot der Feindesliebe? Das scheint mir doch über den Küng’schen Welethos hinauszugehen,

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    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 15:27 Uhr, 30. Mai

      Das Doppelgebot der Liebe ist wohl so etwas wie der kleinste Nenner im Umgang der Menschen untereinander. Insofern ist dieses wohl transkulturell und transreligiös etwas zutiefst Humanes.

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