Schweizer und Schweizerinnen, betroffen von Zwangsfürsorge, gestalten ihre Geschichte vom Über Leben

Aktionstage 25.- 27. Mai Rote Fabrik

Haben wir es nicht unglaublich gut in der Schweiz? Vor allem in puncto Rechtssicherheit? Niemand landet im Gefängnis, solange es nicht einen staatlich anerkannten Grund gibt. Niemand landet im der Psychiatrie, weil er nicht so lebt, wie andere es ideal finden, so zumindest glauben wir. Erna Eugster weiss, dass es anders ist. Sie hat vierzig Jahre nach ihren Aufenthalten in der Psychiatrie ihre Zelle für eine Ausstellung nachgebaut: Ir Chischte. Zusammen mit den Werken anderer ist dieser Raum vom 25.-27. Mai in der Roten Fabrik in Zürich Wollishofen zu sehen und zu begehen.

Ein „liederlicher Lebensstil“ – Grund genug für die Psychiatrie

Freie Meinungsäusserung, auch die Äusserung von Zorn über Zumutungen?! Freie Wahl des Lebensstils! In sozialer wie in sexueller Hinsicht? Arm sein – und nicht persönlich dafür haftbar gemacht werden? Wie lange gibt es diese Freiheiten schon?

Schockierend die Erkenntnis: Bis in die 80iger Jahre des 20. Jhrds hinein wurden Menschen in die Psychiatrie, sogar ins Gefängnis geschickt, ohne dass es ein rechtsgültiges Urteil dazu gab. Armut, ein „liederlicher Lebensstil“, ein nicht in einer Ehe geborenes Kind, Alkohol und Drogenkonsum, eine Scheidung reichten aus, um jemanden in den Fokus von staatlichen fürsorgerischen Massnahmen zu bringen.

Wir sind nicht asozial!

 Erna Eugster, eine Betroffene von Massnahmen dieser Art von Zwangsfürsorge, erzählt von Behandlungen, die man nur als Sadismus des Aufsichtspersonals sehen kann. Einmal war sie drei Wochen in einer unmöblierten Zelle eingesperrt, weil sie eine junge Mitpatientin gegen die tätliche Gewalt des Personals zu schützen versuchte. Sie rechnet mir zudem vor, dass vermutlich jeder in der Schweiz Lebende, der bis in die 80iger Jahre in die Schule ging, mindestens ein Kind oder einen Jugendlichen kannte, die von staatlichen Fürsorgemassnahmen betroffen waren.

Ich selbst erinnere mich an eine Mitschülerin, die ihre Familie vorstellte, sechs Geschwister waren es: „Aber wir sind nicht asozial!“ Asozial war ein Begriff, den ich bis dahin gar nicht gehört hatte, dessen Zuschreibungen ich jedoch schon als unbewusste, moralisierende Frames abgespeichert hatte: Sechs Kinder in einer Familie, das war „verdächtig“. Wie kommen solche Urteile in die Köpfe von Kindern? Wir wissen es, aber es ist schwierig, sie aufzulösen und Menschenfreundliches an die Stelle zu bringen.

Vernachlässigung und Gewalt – das tägliche, ungeniessbare Brot

Erna Eugster kommt aus einer Familie, in der Vernachlässigung und Gewalt den Alltag bestimmten. Kein Tag ohne die unkontrollierten Zornausbrüche der Mutter gegen sie. Aber die Eltern werden nicht für die schlimme Erziehung belangt. Erna, die Tochter, gerät in den Fokus der Fürsorge, weil sie „renitent“ ist und sich gegen die Zumutungen ihres Daseins wehrt. Am Ende, nach über neun Jahren erzwungener Aufenthalte, „kennt“ sie verschiedene, über die Schweiz verstreute psychiatrische Anstalten und es droht ihr das damals berüchtigte Frauengefängnis Hindelbank im Kanton Bern. „Da wäre ich nie wieder herausgekommen“, meint Erna Eugster. Alles das findet ohne jede konkrete Diagnose, geschweige eine rechtskräftige Verurteilung statt. Ein vielleicht „schwacher Moment“ des Psychiatriedirektors erspart ihr den Psychoterror und die rohe Gewalt, die sie dort erwartet hätten.

Irgendeine göttliche Kraft

 Fügungen, so meint Erna Eugster, haben sie davor bewahrt, dass ihre zuzeiten unkontrollierbar durchbrechende Wut zu einem realen Grund für Gefängnis geführt hätte. Sie rechnet fest mit göttlicher Gegenwart in ihrem Leben, im Gegensatz zu vielen anderen Betroffenen, die bitter gegenüber der Kirche sind, weil sie so Schlimmes auch von Pfarrern und kirchlichen Angestellten erlebt haben. Was sie sich heute am intensivsten wünscht, ist die Freiheit von den Flashbacks, die sie immer wieder einholen und die ihr noch manchen Tag schwer machen. Plötzlich ist sie wieder „im falschen Film“ – und das reale Leben erscheint ihr düster und feindlich. – Obwohl das tatsächlich nicht mehr der Fall ist. Sie wünscht sich die Freiheit von den Auswirkungen der Vergangenheit für alle, die von Zwangsmassnahmen gezeichnet sind.

Auf Augenhöhe erzählen

 Erna Eugster, Moritz Flisch, Erna Goetz, Ruth Ruch und eine Unterstützergruppe realisieren nun vom 25.-27. Mai eine Ausstellung in der Roten Fabrik in Zürich-Wollishofen. Alle haben sich intensiv mit ihrer Geschichte beschäftigt und sie selber, als Subjekte ihrer Biografie,„in Szene gesetzt“, Erna Eugster die Zelle, in der sie gefangen war. Sie möchte, dass Menschen in diesem begehbaren Raum nur einen Moment lang nachspüren, was es bedeutet eingesperrt und entwürdigt zu werden. Lisa Goetz schleift Steine zu wunderschönen kleinen Objekten, die Struktur und Farbe des Materials betonen. Man kann es mit ihr zusammen tun. Und sie erzählt eine Kurzgeschichte dazu, die einen ins Nachdenken über missachtete und geleugnete Begabung bringt. Moritz Flisch hat immer wieder Sonnenaufgänge fotografiert: Bilder der Hoffnung, dass das Leben jeden Tag neu anfängt. Alle Beteiligten erzählen ihre Geschichte in diesen Objekten, kleinen Prosatexten, Szenen selber – und sie wollen auf Augenhöhe mit den BesucherInnen der Ausstellung ins Gespräch kommen.

Informationen zur Ausstellung und weitere Links

Mehr über die Aktionstage von Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen
https://ueber-leben.org/

Ausstellung, Gesprächsrunden und Podium „Über-leben“ in der Roten Fabrik
https://rotefabrik.ch/de/programm.html#/events/524 

Die Meinung der Autorin in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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1Kommentar
  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 17:59 Uhr, 24. Mai

    Danke Frau Ramöller für Ihre berührende Schilderung eines dunklen Kapitels schweizerischer Sozialgeschichte. Dazu gehört auch die Zerschlagung jenischer Familien, deren Kinder anschliessend auch oft Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen geworden sind. Immerhin hat Frau BR Sommaruga sich bei den Betroffenen entschuldigt und sind inzwischen Unterstützungsgelder geflossen …

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