„Singet, singet singet …“ Vom Singen und Sagen und einem Geburtstag

Die jüngste Sammlung des Liedguts der evangelisch reformierten Kirche ist 20 Jahre alt. 1998 ist es in stattlichem Format zur Welt gekommen. Eine Geburt im ökumenischen Geist: Das dunkelrote, reformierte Büchlein bildet, mit dem hellblauen ein Geschwisterpaar eigenständiger Individuen. Die DNA verrät die gemeinsamen Wurzeln unseres Liedguts.

In den vergangenen Jahren hat diese Gesangbuchherausgabe die Singstimmen zum Klingen gebracht, im alltäglichen und gottesdienstlichen Gebrauch ist es vertraut und erwachsen geworden. Altes und neues Liedgut werden nicht mehr mit „bekannt“  oder „neu“ apostrophiert. Beide Sorten stehen als Teil eines Ganzen nebeneinander. Freilich gibt es häufiger gesungene und weniger gängige Lieder. Ein eigener Kanon im Kanon der Lieder wird wohl nie zu vermeiden sein. Das war schon in früheren Gesangbüchern so.

Warum ausgerechnet singen? Die Einladung zum Singen ist im Gesangbuch eingeschrieben, auch die Begründung dazu. Gleich dreimal kommt am Anfang des Liedes RG 52 die Einladung unüberhörbar daher. „Singet, singet, singet dem Herrn ein neues Lied …“ Ein unüberhörbarer Aufruf zum Singen inspiriert vom 98. Psalm. Freilich, auch dieses neue Lied ist inzwischen nicht mehr neu.  Seine Melodie hat das Lied schon 40 Jahre vor seinem Abdruck in unserem Gesangbuch bekommen. Nach 40 Jahren Wüstenwanderung ist der Kanon auch zur Quelle des neuen Singens in unserer Kirche geworden. In alter Frische feiert das neue Lied also dieses Jahr seinen 60. Geburtstag. Es scheint sich in seiner Stärke bewährt zu haben und ist bei guter Gesundheit. Es nährt unser Vertrauen, dass Wunder alltäglicher sind, als man dem Wort Wunder manchmal zutraut. Wunder geschehen, und wir können darin Gott in seinem Dasein und Tun erahnen erkennen und bekennen.

Schon im Vorfeld der Herausgabe 1998 habe ich als junger Pfarrer neue Lieder in den Gottesdienst mitgebracht, vorgestellt und ausprobiert. Das löste Neugier bei den einen und Skepsis bei den anderen aus. Ob das nötig sei? Die alten Lieder seien doch gut, und dazu auch vertraut, sagten die Kritischen. Wenn wir immerzu neue Lieder anstimmen, gibt es keinen Gemeindegesang der die Generationen verbindet. Aber das „semper reformanda“, das wir der Kirche in dieser Zeit jubilierend in Erinnerung rufen, verlangt eben auch dieses andere: Das Bewährte soll neu Ausdruck finden. „Singet dem Herren ein neues Lied.“

Welche Lieder wirst du singen?“, fragen die Singenden im Lied 182 auf der 4. Zeile im fürsorgenden Blick auf den Täufling am Taufbecken. Das ist eine ganz wichtige Frage. Welche Inhalte des Vertrauens beatmen, geben uns Stimme und Leben? Welche Lieder singen wir? Ist uns überhaupt ums Singen? Und wenn, was erfüllt uns dann, wenn wir singen? Was macht Freude von der Melodie her und was stärkt uns im Wort, das singend oft viel leichter von den Lippen kommt, Gesprochenes.

Es ist erstaunlich, wie die Theologie gesungen oft viel elastischer daherkommt als die in Vorlesungen, Diskussionen und Predigten gesprochene. Es gibt Dinge, die kann man nicht mehr so sagen, wie sie einst gesagt wurden. Es gibt Dinge die kann man nicht sagen, die muss man singen. Die Schwingungen der Töne der Rhythmus und die Bewegung der Melodie wirken auf Singende und Hörende gleichermassen. Und manchmal legt sich die Melodie wie ein Schutzmantel über schmerzhafte Formulierungen schwerverständlicher Inhalte aus Theologie und Zeitgeist. Umso und viel besser, wo Text und Melodie frisch sind und einander ergänzen zur Freude vieler.

Das Lied „Am Morgen will ich singen, im Lied, das du mir schenkst“ ist ein Beispiel dafür. Es ist kein Morgenlied, obwohl es auch als das gut zu gebrauchen ist. RG 50 zeigt seine Herkunft im Psalter und steht darum weit vorne im Gesangbuch. Es ist ein gelungenes Werk sorgfältiger theologischer Arbeit, die mit viel Freude am Singen einhergeht. Es ist 1990 entstanden und findet in der dritten Strophe eine wunderbare hochverdichtete Wendung, die sich traut, das schwere Theologumenon des Gerichts  einfach und redlich neu zu formulieren. “ … du richtest im Verzeihen“.  Genau so. Ich wünschte mir noch mehr solche Lieder, die das schaffen, was nur die Poesie hervorbringen kann. Singbare, lebbare Theologie zum Aufatmen.

Übrigens im Spitalalltag den ich als Seelsorger im Triemli miterlebe und ein kleines Stückchen mitgestalten darf, erlebe ich die Kraft des Singens auch ganz stark. Hin und wieder frage ich Patienten und Patientinnen gegen das Ende einer Begegnung: Mir ist beim Gespräch vorhin eine Gedicht in Erinnerung gekommen, das zu dem passt, wovon wir eben gesprochen haben. Es ist auch ein Lied, darf ich es Ihnen vorsingen. Wenn, dann singe ich auswendig. Par coeur. So ist es weniger Auftritt und Vorsingen. Als Zu-singen, würde ich die Intention umschreiben. Erstaunlich. immer wieder wunderbar, kommt das ganz stark an. Manchmal sehe ich wie sich die Lippen des Gegenübers mit bewegen. Selten stimmen meist ältere Patientinnen oder Patienten gar mit ein. Oft werde ich dann gefragt. Kommen sie wieder? Singen Sie dann wieder ein Lied? Und wenn das Vertrauen gewachsen ist, sage ich dann übermütig: Sie dürfen dann sogar eines wählen.

Nicht immer ist es dann ein neues Lied. Aber von Neuem ein Lied, das erneuert. Und das lässt sich, wie mir eine Pflegerin auf der Intensivstation nach dem Zusummen einer Melodie ins Ohr einer schwerstkranken Patientin im künstlichen Koma sagte, an der sich zur Regelmässigkeit beruhigenden Herzfrequenz  ablesen. Sie hat es auf dem Monitor beobachtet. Und diese Melodie kann sie besser lesen als ich.

Die Meinung des Autors in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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7 Kommentare
  • Samuel Burger
    Gepostet um 08:52 Uhr, 29. März

    Es gibt Dinge die kann man nicht sagen, die muss man singen. Wie wahr!

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  • michael vogt
    Gepostet um 19:14 Uhr, 29. März

    singet dem herrn ein neues lied! für mein ohr seit langem ein widerspruch in sich selbst. da braucht es für meinen geist schon einiges an auseinandersetzung mit dem neuen testament. an einer stelle heisst es nicht jesus ist h e r r , sondern herr ist j e s u s . so geht es schon ein bisschen besser, aber nicht definitiv. ich krame meine biblia hebraica in mehreren bänden hervor. bei den psalmen ist die titelseite abgerissen (habe in meiner studienzeit psalmen vertont und dieses bändchen darum mehr gebraucht als andere). die abgerissene seite ist zwischen zwei seiten aufbewahrt – ganau bei psalm 98, was mich veranlasst, den kommentar doch zu schreiben. „schir la jahwe schir chadosch“, lese ich da. zuerst bin ich unsicher im unterscheiden von s uch sch – aber es ist eben nicht das englische sir.

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    • michael vogt
      Gepostet um 19:21 Uhr, 29. März

      chadasch muss es heissen

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    • schwäbi
      Gepostet um 19:47 Uhr, 29. März

      Ja, diese sprachlichen Unterschiede sind schon frappant. Musik kann auch dazu beitragen, andere Religionen näher kennenzulernen. Habe schon etwa gedacht, dass Musik aus dem arabischen Raum mir näher liegt als Kirchengesang. Und an einem Konzert siehst du ein Kopftuch neben wallendem Haar. Eine wunderbare Erfahrung. Kollektive Intelligenz. Aber ich stimme Thomas Grossenbacher zu, dass Gesang zu einem Leben durchdringen kann, in dem man Worte sie – „wie“ wollte ich schreiben – Herr wieder versteht. Oder dann auch Gedichte aus dem Zen, die sind wie Gesang, die man versteht, obschon man kein Wort versteht.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 08:21 Uhr, 30. März

    Der Blogbeitrag von Matthias Zeidler kommt mir hier in den Sinn, „Von Gott reden.“ Es geht nicht nur ums Singen, sondern auch darum, WAS gesungen wird. Gerade ältere Kirchenlieder zementieren ein sehr einseitiges Gottesbild – Gottvater allmächtig – das zu Recht kritisch hinterfragt wird. Und die Lieder, die heute Karfreitag auf dem Programm stehen – schwerstverdaulich. Nicht immer rettet die Poesie. Auch theologisch differenziertere Liedtexte täten dringend not!

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 08:22 Uhr, 30. März

    Matthias Zeindler, sorry

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  • Andreas Wildi
    Gepostet um 21:57 Uhr, 02. April

    Der Beitrag meines ehemaligen Kollegen, mit dem ich wohl die meisten Gottesdienste meiner gesamten Kirchenmusiktätigkeit gestalten durfte, spricht mir aus dem Herzen. Und es mag mehr als ein schöner Zufall sein, dass die die Psalm-Nummer des Kanons beim Lied RG 52 mit der Hausnummer unserer langjährigen gemeinsamen Wirkungsstätte identisch ist. Zudem löst es mir bei Weitem mehr als nur ein nachösterliches April-Schmunzeln aus, wenn ich den Psalm dahingehend interpretiere, dass Wunder dann geschehen können, wenn wir aufhören, das „Alte Lied“ zu singen. Letzteres will uns weismachen, dass sich grundsätzlich nichts ändern kann, es war ja schon immer so.
    Die Distanzierung vom „Alten Lied“ hat selbstverständlich keinen Bruch mit der Tradition zur Folge – RG 52 illustriert dies wunderbar: Mehr als die Hälfte der Kanon-Melodie entspricht den Anfangstakten von Bachs Triosonate BWV 530, eines der heitersten Werke des Thomaskantors.

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