Tierversuche sind unerlässlich

Tierversuche und Tests an informierten menschlichen Probanden sind unerlässlich für die Grundlagenforschung, die darauf aufbauende Entwicklung neuer Therapien und für die Verbesserung bereits vorhandener Ansätze. Nahezu alle heute verfügbaren medizinischen Therapien basieren auch auf Tierversuchen. Einige der prominentesten Beispiele sind der Impfstoff gegen Kinderlähmung, Organtransplantationen und die Insulintherapie, die allesamt ohne Tierversuche nicht entwickelt worden wären und bis heute Millionen von Leben gerettet haben. Die Initiative „Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot“ fordert sowohl ein vollständiges Verbot von solchen Tierversuchen und Tests an Menschen als auch ein Nutzungsverbot von Produkte, die mit Hilfe solcher Versuche entwickelt wurden. Die zentralen Argumente der Initianden für ein vollständiges Verbot von Tierversuchen sind:

a)    Nur ein geringer Prozentsatz der in Tieren getesteten Substanzen oder Verfahren finden schlussendlich den Weg in die klinische Praxis.
b)    Tierversuche können grundsätzlich nicht für die Entwicklung neuer Therapien genutzt werden, denn deren Ergebnisse sind nicht auf den Menschen übertragbar und in der Regel ist die Qualität der Versuche nicht ausreichend bzw. die Ergebnisse im Sinne der Autoren manipuliert.
c)    Es gibt bessere Methoden als Tierversuche, um neue Therapien zu testen und zu entwickeln, die aber nicht im Interesse der Forschung und Industrie sind.
d)    Der Mensch hat Selbstheilungskräfte, mit denen er z.B. Schmerzen überwinden und auch sonst gesund bleiben kann, wenn die Lebensumstände geeignet sind.

Diese Argumentation zeugt von einem fundamentalen Unverständnis, wie Wissenschaft und Therapieentwicklung funktioniert und ist zynisch gegenüber Menschen mit derzeit nicht-therapierbaren Erkrankungen. Die Initiative versperrt den Weg zu neuen Entwicklungen bzw. bietet Alternativen an, die in Wirklichkeit keine sind. Effektiv würde die Annahme dieser Initiative einen nahezu vollständigen medizinischen Entwicklungsstopp bewirken.

Es ist richtig, dass nur ein geringer Prozentsatz der im Tiermodell getesteten Substanzen oder Therapien letztendlich für den Menschen genutzt werden können, mit allerdings grossen Unterschieden zwischen verschiedenen Erkrankungen (Erfolgsrate sämtlicher klinische Phasen: ~10%, Paul et al. (2011) in Nature Reviews Drug Discovery). Aber: wenn die Vielzahl an  möglichen  Therapien nicht mehr im Tiermodell getestet werden dürfen, bleibt nur noch der Mensch als Testobjekt. D.h. für eine erfolgreich zugelassene Therapie müssten vermutlich hundert oder mehr verschiedene Ansätze im Menschen getestet werden anstatt nur etwa ein Dutzend,  wie es  derzeit der Fall ist.

Es ist auch richtig, dass Erkenntnisse aus Tiermodellen nur begrenzt auf den Menschen übertragbar sind. Tiermodelle sind, wie der Name bereits sagt, „Modelle“, also eine Annäherung an das eigentlich zu untersuchende Objekt, dem Menschen. Sie werden den Menschen und seine Erkrankungen nie perfekt nachbilden können (dann wären es Menschen), aber sie ermöglichen immerhin eine Vorauswahl von möglichen Therapien und Ansätzen. Dass dieses System funktioniert zeigt die niedrige Zahl von ernsthaften Zwischenfällen bei den ersten klinischen Tests in Menschen (etwa 1%, Johnson et al. (2016) in Clinical Trials). Allerdings wären solche Tests in Menschen nach dieser Initiative ja ebenfalls verboten.

Dieses Paradox (keine Tests in Tiermodellen aber auch nicht in Menschen) lösen  die Initianden, indem sie angeblich bessere Alternativmethoden vorschlagen. Diese Methoden umfassen u.a. Computermodelle, Chromatographieverfahren, Zell- und Organkulturen. Nach der scharfen Kritik an der Unzulänglichkeit und mangelhaften Übertragbarkeit der Tiermodelle sind dies interessante Vorschläge. Computermodelle physiologischer Prozesse basieren in der Regel auch auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, die in Tiermodellen gewonnen wurden und sie werden auch in solchen validiert. Wenn, wie von den Initianden behauptet, schon die zugrunde liegende Tiermodelle unzulänglich sind, dann ist es ein abgeleitetes Computermodell erst recht. Das gleiche gilt für die anderen Verfahren. Eine völlig artifizielle, isolierte menschliche Zellkultur oder gar ein Chromatographieverfahren ist sicherlich nicht per se ein besseres Modell für eine menschliche Erkrankung als ein vollständiger, lebender Säugetierorganismus.   Hinzu kommt, dass für  solche  Zell- und Organkulturen in grossem Umfang Tierprodukte benötigt werden (z.B. fötales Kälberserum, Wachstumsfaktoren etc.), was sie nach dem Initiativtext wiederum als Alternativmethode ausschliesst, da die Tiere dafür i.d.R. getötet werden. Und schliesslich sind all diese Methoden bereits inhärenter Bestandteil der industriellen Entwicklungspipeline von Therapien, da sie schneller und billiger sind als Tests im Tiermodell. Aus diesem Grund investiert die Industrie und Forschung massiv in die Entwicklung solcher alternativer Methoden (um nur einige solcher Projekte zu nennen: SEURAT-1, EU-ToxRisk, AXLR8). Kostspielige und zeitaufwändige Tierversuche kommen erst zum Einsatz, wenn die Ersatzmethoden ausgereizt sind.

Generell lässt sich bei den Initianden ein doppelter Standard gegenüber wissenschaftlichen Veröffentlichungen feststellen. Publikationen mit Tierversuchen werden von den Initianden pauschal als fehlerhaft, manipuliert und statistisch schwach dargestellt. Wieso dies nicht auch für die wissenschaftliche Grundlage der vermeintlichen Alternativmethoden gelten soll, bleibt offen. Interessant wäre es auch noch zu wissen, wie sich die Initianden den Nachweis vorstellen, dass für  ein Produkt oder Therapie keine direkten oder indirekten Tierversuche durchgeführt wurden. Da unser Grundlangewissen über biologische Prozesse v.a. mit Hilfe von Tierversuchen gewonnen wird, müssten sämtliche Neuentwicklungen auf dem Wissensstand von heute basieren und dürften neue Erkenntnisse und Methoden nicht berücksichtigen.

Vor diesem Hintergrund kann die Initiative zum Verbot von Tierversuchen nur als zynisch betrachtet werden, da sie keine realistischen Alternativen anbieten und sie somit vielen Erkrankten eine mögliche zukünftige Therapie verweigert. Stattdessen lassen die Initianden die Patienten auf ihre Selbstheilungskräfte hoffen, die sicherlich stark sind, aber bei bereits Erkrankten offensichtlich nicht ausreichen. Die grossen Wissenschaftsakademien und medizinische Standesorganisationen  lehnen ein Tierversuchsverbot ab, ebenso wie das Stimmvolk eine vergleichbare Initiative 1993 umfassend ablehnte. Somit kann dieser erneute Vorstoss durch eine sehr kleine Personengruppe nur als die kreative Nutzung des demokratischen Instruments der Volksinitiative zur Öffentlichkeitsarbeit betrachtet werden.

Zum Beitrag von Irene Varga, der Befürworterin der Initiative „Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot“:
https://www.diesseits.ch/tierversuchsverbot-problem-oder-entwicklungsschritt

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7 Kommentare
  • michael vogt
    Gepostet um 08:21 Uhr, 31. Oktober

    „reformiert.“ fragt nach anregungen zu dossierthemen: beenden des eigenen lebens, um weltweit gesehen nicht noch mehr opfer zu fordern (das nicht als rat, sondern als thema, das diskutiert werden sollte)
    https://www.facebook.com/reformiertpunkt/photos/a.879020192238229.1073741828.620168161456768/986690731471174/?type=3&theater

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    • michael vogt
      Gepostet um 13:04 Uhr, 31. Oktober

      soweit ich sehe, kommt meine nachricht bei beiden adressen nicht an. darum hier. sie darf publizert werden, muss aber nicht.

      sebstverständlich habe ich verständnis dafür, dass Sie einen solchen kommentar (vorerst) nicht publizieren. er bezieht sich aber direkt auf die beiden beiträge. wäre mir etwas gescheiteres in den sinn gekommen, hätte ich es vorgezogen. sein vielleicht schockierender inhalt stammt aus der sterbehilfediskussion, wo ich es schon als schwer erträglich emfpfunden habe, dass das der tod einer person als ein so grosses problem gesehen wird, während andere nichts haben und kaum die möglichkeit haben, etwas zu sein. ich habe mich auch gefragt, wie ich den einen satz verständlicher machen könnte. das problem besteht darin, dass dieser versuch zur ansicht führen könnte, ich beziehe meine aussage im besonderen auf die, die medikamente etc brauchen, die aus tierversuchen stammen. der kommentar kommt aus der betroffenheit durch die grausamkeit von tierversuchen.

      dass es nicht so leicht ist, die beitäge zu kommentieren, zeigt sich an der anzeige „keine kommentare“. mein kommentar versteht sich nicht als affront, sondern als solidaritätskundgebung mit den schreibenden. vielleicht gäbe es eine bessere bezeichnung, aber ich kann mich so annähernd verständlich machen, hoffe ich. ich bin nicht beleidigt, wenn Sie den kommentar nicht bringen – es wird sich zeigen, ob es möglich ist, zu dieser tragik etwas anderes zu sagen.

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      • michael vogt
        Gepostet um 13:07 Uhr, 31. Oktober

        entschuldigung, beiträge muss es heissen

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      • michael vogt
        Gepostet um 13:15 Uhr, 31. Oktober

        warum der link? die schönheit einer berglandschaft, die freude am leben.

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  • michael vogt
    Gepostet um 17:15 Uhr, 31. Oktober

    der ominöse satz wird wohl nicht mehr freigeschaltet (man findet ihn auf meiner webseite). es ist mir, einem, der die initiative trotz allem nicht unterschreiben wird, ein besserer eingefallen: beide beiträge zusammen eine motivation in richtung tierversuch 0.

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  • Irene Varga
    Gepostet um 19:29 Uhr, 31. Oktober

    Bei so vielen Falschaussagen, kann ich gar nicht schweigen. Zu den Dogmas rund um die Quelle des Fortschrittes am besten hier einlesen: http://contra-pro-test-deutschland.ch/

    Der Autor unterstellt uns unter anderem diese Aussage: «Nur ein geringer Prozentsatz der in Tieren getesteten Substanzen finden schlussendlich den Weg in die klinische Praxis.» – Dies ist verwedelnd abgekürzt. Richtig ist: Es sind gemäss Interpharma etwa 50% der Wirkstoffe, die «heil» durch den Tierversuch kommen und für den Menschenversuch freigegeben werden. Was im Tierversuch zweifelhaft ist, bleibt auf der Strecke, obwohl vielleicht für einige Menschen nützlich. Was wir aber am meisten betonen und entblössen wollen: «Die Mehrzahl der Wirkstoffe, die im Tierversuch als vielversprechend eingestuft werden, dürfen nach dem Menschenversuch nicht auf den Markt!» Dies offenbart: Der Menschenversuch ist skandalöser Weise (noch) das wichtigste Forschungsinstrument statt eine Heilversuch mit dem Besten, was die Wissenschaft anzubieten hat. Der Wissenschaft fehlen heute die geeigneten, echten Modelle, um vor der Erstanwendung vorhersagen zu können, was im Patienten passieren wird. Es ist ein Hohn, unter solchen Umständen vom «informierten Probanden» zu sprechen. Niemand weiss, was auf ihn zukommt. Dieser Missstand muss (und kann auch!) dringend behoben werden.

    Nein, wir verzichten ohne Tierversuch nicht auf wertvolle Erkenntnisse sondern bekommen die Chance, diese viel früher zu erhalten, indem wir Wissen sorgfältiger aufbereiten und uns unsinnige Umwege ersparen. Ja, auch Computermodelle und viele Alternativmethoden, die anhand Tierdaten der einen Spezies erstellt werden, sind für eine andere Spezies nicht verlässlich. Intelligenter Umgang mit Software und Leben erfordert Erfahrungsdaten, die auch tatsächlich einen problembezogenen Wert haben. Pannensubstanzen und «Pannensituationen» gab es dazu genug.

    Es werden Sachzwänge vorgegaukelt, die keine sind: Ja, heute wird fötales Kälberserum für Zellkulturen verwendet. Einzige Option? Mitnichten! Dazu: https://www.aerzte-gegen-tierversuche.de/de/projekte/stellungnahmen/2487-stellungnahme-fetales-kaelberserum

    Der Autor unterstellt uns sogar, wir wollten das Ende jeder Medizin. Auch dies ist falsch. Wir wollen Medizin und Heilbehandlung, die endlich zum individuellen Patienten passt, statt zum Zebrafisch oder zum Kanarienvogel oder zum theoretischen «Durchschnittspatienten». Vermutlich hat sich der Autor noch zu wenig mit dem Wunder «Leben» auseinandergesetzt. Sonst wüsste er: Jede Heilung ist Selbstheilung. Ob nun mit oder ohne Medikament. Ein gutes Medikament unterstützt den Patienten bei diesem Prozess lediglich.

    Und weil der Autor wohl ahnt, auf welch wissenschaftlich dünnem Eis er seine mutigen Pirouetten dreht, holt er noch zur Absicherung die Demokratie-Keule hervor: weil es den Initianten 1993 nicht gelang, den Vorhang zum Unsinn Tierversuch zu lüften, sollen alle weiteren Kritiker/innen schweigen. Natürlich sagt er das nicht so. Er benennt lediglich alle weiteren Versuche, den Tierversuch aus der Welt zu schaffen, als «kreative Nutzung» der demokratischen Instrumente. Den Wert des Vorstosses für Menschheit und Zivilisation erkennt er leider nicht. Dabei ist jetzt die grosse Gelegenheit, «Experten» und Lobbisten in die Pflicht zu nehmen und ethisch und wissenschaftlich endlich in jeder Beziehung gute und zivilisierte Prozesse zu fordern und zu fördern.

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  • michael vogt
    Gepostet um 10:41 Uhr, 02. November

    „ich kann ich nicht schweigen“ – man könnte es als mangel ansehen, dass in diesem blog am 31.10.2017, wo luthers „ich kann nicht anders“ vom 31.10.1517 gefeirt wird, kein beitrag zu den damaligen ereignissen in worms erscheint. bei näherem hinsehen überzeugt die gewollte oder ungewollte logik. ich halte es für einen grossen haken der reformation, dass sie die rechtfertigung „aus glauben“ so gross geschrieben hat. man muss sich fragen, wie das für die ohren eines atheisten, einer atheistin klingt, für die genau dasselbe gilt, wie für die, die glaubende genannt werden, ohne dass sie in diesen glauben vereinnahmt werden. und eben auch für die tiere. da stellt sich die frage, ob einer tatsächlich kategorial anders ist, zu recht gottes sohn genannt wird, der sich zwar so sehr für die menschen eingesetzt hat, aber, im verhältnis dazu, so wenig für die tiere, ob nicht zumindest die frage gestellt werden müsste, ob seine botschaft mitveranwortlich ist für die grausamkeit unseres lebens auf kosten der uns unter die füsse gelegten (psalm 8), was zwar nicht zuletz als verantwortung für sie zu verstehen ist, aber an einem relativ kleinen ort.

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