Wie christlich sind „christliche Werte“ ?

Christliche Werte sollen unserer Politik zugrunde liegen schreibt Regierungsratspräsident Mario Fehr in seiner Carte Blanche. Und der Parteivorsitzende der christlichen Volkspartei, Gerhard Pfister, ruft zu einer Wertedebatte auf. In einem Interview mit der NZZ (8.10.2016) meint er, dass sich christliche Werte wie Freiheit, Gleichheit und Solidarität, in der Politik konkretisieren müssen! Eigentlich sollten diese Aufrufe mein christliches Theologinnen-Herz höher schlagen lassen. Allein, ungetrübte Freude will bei mir nicht recht aufkommen. Woran liegt das?

Ich habe den Eindruck, dass es den PolitikerInnen, die von christlichen Werten sprechen, weniger um eine fundierte Auseinandersetzung mit diesen zu bestimmenden Werten geht, als vielmehr darum,  ein „christlich-abendländisches Wir“ als Bollwerk gegenüber „den Anderen“ – insbesondere Menschen mit muslimischen Hintergrund – zu errichten.  Es wird nicht wirklich debattiert, sondern eigentlich mit dem Aufrufe schon vorausgesetzt, was christliche Werte sein sollen und damit Trennlinien gezogen, ja schlimmer noch, Menschen ausgeschlossen. Gerhard Pfister verdeutlicht das gleich selbst, wenn er im besagten Interview sich gegen eine öffentliche Anerkennung der islamischen Gesellschaften ausspricht. Und das obwohl er den christlichen Wert Gleichheit und Solidarität hochhält. Sein Verständnis von Gleichheit kommt offensichtlich bei unseren muslimischen MitbürgerInnen abrupt zu einem Ende.

Die Rede von christlichen Werten suggeriert zudem, dass es diese als klar definierbare, allgemeingültige Werte gäbe. Das ist aber nicht der Fall! Denn schon Gerhard Pfister und ich sind uns darüber nicht einig.  Dieser sagt im oben genannten Interview: „In der Asylpolitik gehört es auch dazu, den Rechtsstaat in individuellen Härtefällen durchzusetzen. Es ist nicht christlich, wenn beispielsweise der Kanton Waadt nach dem Abschluss von einwandfreien juristischen Verfahren abgewiesene Asylbewerber nicht ausschafft.“ Wahrscheinlich spielt Herr Pfister auf das Kirchenasyl in Lausanne an, das schon vielen Flüchtlingen vor einer Abschiebung nach Italien bewahrt hat. Ich persönlich finde es gerade christlich, wenn in „individuellen Härtefällen“ Leute sich dafür einsetzen, dass geflüchtete Menschen ein Bleiberecht in der Schweiz und damit zumindest die Aussicht auf ein Leben in Würde bekommen. Die konsequente Umsetzung des Dublin-Regimes, das die CVP sich auf die Fahne geschrieben hat, finde ich hingegen unchristlich! Besonders wenn dadurch sogar Familien auseinander gerissen werden, wie das in letzter Zeit häufiger der Fall war. Minderjährige Asylsuchende werden nach Italien zurück geschickt, obwohl die Eltern hier ein Bleiberecht bekommen haben.

In der Migrationscharta „Freie Niederlassung für alle: Willkommen in einer solidarischen Gesellschaft“ (www.neuemigrationspolitik.ch), die eine Gruppe von TheologenInnen im letzten Sommer herausgegeben hat, gehen wir noch einen Schritt weiter. Wir erachten ein Leben in Würde als ein Grundrecht– und darum auch das Recht auf freie Niederlassung! Was (noch) utopisch klingen mag, begründen wir mit „biblischen Traditionen, die nach wie vor als Grunderzählung und Grundlage zur Verwandlung der Verhältnisse dienen können“. Herr Pfister hat diese Charta bis jetzt nicht unterschrieben, obwohl auch wir uns von den drei Grundsätzen Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität leiten lassen, die Herr Pfister als wichtige christliche Werte bezeichnet.

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11 Kommentare
  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 06:26 Uhr, 22. November

    Ooch, sooo weit würd ich glaub gar nicht studieren, wenn PolitikerInnen „christliche Werte“ hochhalten. Geht es dabei nicht vor allem darum, wiedergewählt zu werden, die serbelnde Partei wieder auf Kurs zu bringen, auf den zunehmenden Populismus – von dem in diesem Blog auch schon die Rede war – aufzuspringen der Stimmen willlen? Echte christliche Werte sind einiges vielfältiger, differenzierter und auch manchmal stuationsabhängig, wie Verena Mühlethaler völlig zu Recht schreibt! Und: notabene: Nicht nur MuslimInnen sind unter Druck dieser „christlichen Werte“. Auch für Frauen bedeutete und bedeutet es kaum je etwas Gutes, wenn sie hochgehalten werden wie DIE Standarte des Abendlands.

    Heute Morgen war ich wieder mal die erste – Thomas G., ich grüsse dich ?

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    • Verena Mühlethaler
      Gepostet um 08:45 Uhr, 22. November

      Ja, da hast Du recht, dass die Hochhaltung der „christlichen Werte“ nicht nur MuslimeInnen, sondern oft auch Frauen – vor allem emanzipierte Frauen – und insbesondere auch Homosexuelle in ihren Rechten angreift. Alle, die eben „anders“ sind, d.h. nicht dem weissen, heterosexuellen, christlichen, bürgerlichen und männlichen Subjekt entsprechen, das sich hinter diesen sogenannt christlichen Werten versteckt. Dabei liess sich Jesus gerade auf diese „Anderen“ ein: Frauen, Prostiutierte, Andergläubige, Andersliebende etc. -alle diejenigen, die gesellschaftlich an den Rand gedrängt worden sind, stellte er ins göttliche Scheinwerferlicht!

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  • Käthy Bättig
    Gepostet um 07:17 Uhr, 22. November

    Wenn Politiker von christlichen Werten reden, fällt es mir schwer, diese wirklich ernst zu nehmen.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 15:46 Uhr, 22. November

    Müssen Gott, „christliche Werte“ eigentlich zwingend immer ewiggestrige Identitätsstabilisatoren (Begriff nicht von mir) sein? Oder nicht auch oder vielmehr die Dynamis, sich auch in Wandel und Veränderung für Menschenrechte und
    -würde einzusetzen? Leben und leben lassen?

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  • THOMAS GROSSENBACHER
    Gepostet um 06:54 Uhr, 23. November

    Werte werden oft wie Wertpapiere an der Börse der menschlichen Meinungen gehandelt. Die Bibel aber ist weder Wertebörse noch Dogmenkatalog..
    Das weiss aber auch Herr Pfister.

    Das wertvolle an der Bibel ist, dass sie uns jede Art Rechthaberei aus der Hand nimmt. Das trifft sowohl politisch rechts wie politisch links Argumentierende. Das „ecce homo“ richtet den Blick dahin, die Verletzlichkeit aller Menschen* nie aus den Augen zu verlieren.
    Genau hinschauen und -hören, bewahrt davor, die Meinung über andere und Andersdenkende – auch Politiker – vorschnell als gemacht anzusehen.

    *unabhängig ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihrer Sprache, ihrer sexuellen Ausrichtung, ihrer religiösen Prägung, ihrer Kleidung ….

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  • Angela Wäffler-Boveland
    Gepostet um 16:01 Uhr, 23. November

    Von Ina Praetorius habe ich gelernt, lieber von „Würde“ als von „Wert“ zu sprechen, wenn es um Menschen geht; eben weil es nicht um quantifizierbare Werte geht, die gemessen und gegeneinander ausgespielt werden können, sondern um das Einmalige, Unverwechselbare, das jeden Menschen zum Menschen macht. Das würde die Werte-Forderungen (die ja meist genau nicht in eine Debatte führen, sondern voraussetzen, dass über diese Werte Konsens besteht) in eine Würde-Wahrnhemung transformieren und damit ganz neue Perspektiven eröffnen.

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  • Verena Mühlethaler
    Gepostet um 16:09 Uhr, 23. November

    Danke für diese gute Anregung!

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  • Heimito Nollé
    Gepostet um 19:08 Uhr, 23. November

    Ja, ja.. das christliche Abendland. Ist es das wirklich? Werte wie Freiheit als genuin christlich zu reklamiert, setzt schon sehr viel Geschichtsblindheit voraus. War da historisch nicht schon vorher was? Ich finde diese Vereinnahmungen inakzeptabel – auf allen Seiten des politischen Spektrums. Wer hätte das Recht, das sog. Abendland für sich zu beanspruchen? Europa ist auch christlich geprägt, aber eben bei weitem nicht nur. Geschichte ist eben nicht ein homogenes Werte-Gebäck, gerade in Eruopa ist das sehr viel Verschiedenes aus sehr vielen verschiedenen Kulturen und Traditionen zusammengeflossen. Im Umkehrschluss heisst das: Es hat auch für sehr viel Verschiedenes weiterhin Platz. Wann immer die Rede vom christlichen Abendland ist, sind das Platzhalter-Diskussionen. Gemeint ist in der Regel ein politisches Programm.

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  • Verena Mühlethaler
    Gepostet um 09:59 Uhr, 24. November

    Danke für diese Weiterführungen! So wie wir als Mensch ja auch nicht nur eine Identität, sondern viele haben (das Ich ist vielstimmig! – und wandelbar – „Christsein bedeutet das Recht, ein Anderer zu werden¨“ (Sölle)), genau so verhält es sich auch mit Nationen und noch mehr mit Geschichtsäume über Jahrhunderte hinweg. Eine eindeutige und einfache Identifizizierung von etwas, birgt immer schon der Samen der Gewalt und des Ausschlusses in sich. Und wenn ChristenInnen die Freiheit (was immer das auch genau bedeutet) in die Gesellchaft eingebracht haben sollten, dann sollen sie das auch zeigen und leben: im Respekt gegenüber der Freiheit der Andersdenkenden und Andersglaubenden!

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    • Anonymous
      Gepostet um 12:07 Uhr, 24. November

      Liebe Frau Mühlethaler, wenn Sie sagen, dass sie viele Identitäten haben und wandelbar bleiben wollen, dann kann ich das zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Ich stelle heute aber auch eine Tendenz fest, die ebenfalls ein Stück Totalitarismus in sich trägt. Nämlich „den Wandel“ zum Dogma zu erheben. „Sich nicht festlegen zu dürfen“, „keine Grenzen ziehen zu dürfen“, aus dem einfachen Grund, weil sich mit jeder Abgrenzung andere ausgegrenzt fühlen könnten. Das zielt m. M. n. in die falsche Richtung. Ist es nicht gerade Freiheit den respektieren zu können, auch wenn ich ganz anders glaube? Ich habe manchmal den Eindruck, dass die, die zum Respekt vor dem „Andersglaubenden“ aufrufen, eigentlich alle „Andersartigkeit“ in Glaubensfragen am liebsten negieren wollen. Aber das ist keine Freiheit mehr. Für mich besteht die christliche Freiheit darin, den anderen lieben zu können, auch wenn dieser andere mir nicht passt. Und dass heisst ich mache ihn nicht „passend“ und ich mache mich nicht „passend“. Sondern ich bin frei und er ist frei.

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  • Verena Mühlethaler
    Gepostet um 17:28 Uhr, 24. November

    Und wer sind Sie denn? Ich anworte nicht gerne einem „Anonymus“!

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