Zu Gast in der Paartherapie

„Charlotte Roche & Ehemann“ machen einen Podcast. „Paardiologie“. Und ich brauche mehr davon.

Exibitionistische Veranlagung

Zugegeben: Du brauchst eine exibizionistische Veranlagung um sowas zu machen. Und einen Ehemann, der – obwohl ihm die offenbar fehlt – irgendwann nicht mehr „nein“ sagt und mitmacht. Aber was dann hörbar wird, verhält sich zur „Insta-Selbstthematisierungs-ich bin mega wichtig und speziell besonders imfall“-Welt etwa so wie meine echten Kinder zu meinen Facebook-Instagramm-Familienfoto-Selbstdarstellungen: Schriller, lauter, viel anstrengender, dreckiger – aber eben nie trotzdem, sondern genau darum und genau so, als solche, liebenswert, nahe, unaustauschbar.

„Echt“

Sicher ist nicht alles immer ganz spontan. Klar, beide wissen: Wir sprechen in ein Mikro und Spotify wird alles dafür tun, dass uns alle hören. Aber das Geskriptete, Rituelle und Beabsichtigte ist lediglich ein Kontrastmittel für das Unmittelbare. Schnell werden „Markus und Barbara“ – so nennen sie alle Freunde, um deren Privatsphäre zu schützen – oder das wiederkehrende „Du, darf ich dich etwas fragen?“ zum ironisch gebrochenen Running Gag. Die Formatideen funktionieren wie Slalomtore, die irgendwie stehen geblieben sind und nun für die Aprés-Ski-Touristen, die ins Tal schlitteln, Hindernisse darstellen mit hohem Slapstick-Potential. Das ist die Leitidee: Echtheit killt ordnende Erwartbarkeit.

Nicht anhören, zuhören.

Nun ist „Echtheit“ ein schwieriges Wort. Man weiss ja gar nicht so genau, was sie oder ihre intellektuelle Schwester – die Authentizität – eigentlich meinen. Man weiss nur sicher: Alles, das Echtheit für sich behauptet, ist nicht wirklich echt. Authentisch sein und gleichzeitig behaupten echt zu sein, schliesst sich aus. Wie Sex und Sexualtherapie oder Frieden und Friedensgespräche. Solche Sachen gibt es nicht auf der Metaebene. Ich meine mit „Echtheit“ eigentlich bloss, dass mich jemand berührt, ohne dass ich dabei darüber nachdenke, wie er das schafft. Oder anders: Jemand vermag es, mich vom Zuschauer zum Teilnehmer zu machen. Ich höre es mir nicht an, sondern höre zu, fiebere mit, nehme am Gespräch teil.

Macht

Dass das überhaupt möglich ist, dass sich die beiden dieser Öffentlichkeit aussetzen, ist krass. Es ist vielleicht die grösste Macht, die man angesichts der Springer- und Ringier-Medien und der permanenten Verlockung sozialmedialer Selbstausbeutung erringen kann: Den Mut, selbst zu erzählen, wer man ist. Also es selbst zu tun und (!) dabei wahrhaftig sich selbst erzählen. Man gibt dabei viel von sich Preis. Aber man tut es selbst.

Gastgeber

Dabei habe ich etwas Besonderes erlebt: Ich höre auf zu bewerten. Ich frage mich nicht: Boah hey, wie konnte sie nur…!? Ich stehe diesen Menschen nicht gegenüber, sondern bin auf eine eigenartige Weise mit ihnen. Der Stalker oder der Voyeur objektiviert sein Ziel, macht es zum Gegenstand eines Begehrens, will es haben. Der Fan überhöht seinen Liebling, blendet Realität aus, nimmt nur wahr, was ins Fanschema passt. Als Zuhörer bin ich Gast. Und als Gast fühle ich mich „wie Zuhause“, wenn die Gastgeber möglichst entspannt sind und ich nicht das Gefühl habe, sie mit meiner Anwesenheit zu stressen. Als Gast bin ich parteiisch. Ich mag es nicht, wenn jemand schlecht über „meine“ Gastgeber spricht. Gedanklich solidarisiere ich mich mit ihnen, noch bevor sie angegriffen werden.

Über Charlotte Roches erstes Buch „Feuchtgebiete“ hat Marcel Reich-Ranicki gesagt, es sei literarisch wertlos, es sei pornografisch. Ich würde nie mit ihm über Literatur streiten. Über den Podcast würde ich aber sagen: Nein, er ist das Gegenteil von Pornografie. Er ist eher wie man sich einen sehr gut geführten Swinger-Club vorstellt.

Links zum Thema:

Zum Podcast «Paardiologie» bei spotify
https://open.spotify.com/show/5gPesw6C0rJwuzNiSeGrol

Charlotte Roche bei Instagram
https://www.instagram.com/chailatte_roche/

Die Meinung des Autors in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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11 Kommentare
  • michael vogt
    Gepostet um 19:25 Uhr, 05. September

    weder bei spotfy noch bei instagram melde ich mich an. aber etwas ist mir aufgefallen: echt – schlecht – geschlecht. echt ist möglicherweise tatsächlich das, was uns irgendwie auch als sexuelle wesen berührt, und sich nicht in sphären über unserem biosphärischen sein abspielt, diesseits sozusagen. es entsteht so auch ein anderes verständnis von „gut“. das wort „gut“ als erfahrung, um nicht zu sagen als echte erfahrung. und was ist eine „exibizionistische veranlagung“? die neigung, zur ex zu sagen: hier (lat. ibi) bin ich? und „ich bin, wer ich bin“. die untergehende kirche könnte die echtheitsfrage stellen: ob die bedeutung von ex 3.14 ausgeschöpft ist. heute glaube ich allerdings nicht mehr, dass das via gott als sexualpartnerin und heterotheosexualität et al läuft. wer gott ist, sollen die religionen sagen. die vollständigere auslegung geschieht – nicht theologisch, sondern coicidentiologisch – in der aufhebung des gegensatzes von religion und nicht-religion, möglichst ohne irritation der religion.

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    • michael vogt
      Gepostet um 13:31 Uhr, 06. September

      das internet gibt mir keine auskunft darüber, was diologie heisst. was es gibt: dilogie, analog zu trilogie: ein werk in zwei, respektive drei teilen (https://de.wikipedia.org/wiki/Mehrteiler#Zweiteiler). die suchmaschinen springen dann immer gleich auf biologie oder radiologie. verwunderlich, auf wie wenig interesse hier die durchleuchtung des biologischen lebens stösst. dio heisst bekanntlich auf italienisch gott. diologie in dieser konsequenz theologie, lehre von gott. paartherapie ist auch hier angezeigt, wenn wir an die griechischen götter denken, an die trennung von aschera und jahwe. . . auch die trinitarische zeugung eines sohnes ohne mutter stellt die frage nach ihrer notwendigkeit. gott und mensch, zb maria, ein paar? ihre „sexualpartnerschaft“, wie die sekretärin eines bischofs sich schon ausdrückte? dass ich selbst das thema nicht mehr so angehe, habe ich auch hier dargestellt, im zweiten teil des kommentars. first reformed: gott auch als sexualpartnerin oder sexualpartner. second reformed: die post-theologische begründung der freiheit in einer partnerschaft als alternative zu fremdgehen, untreue, trennung oder auch rivalität. wörtlich war mein gedanke: „das ist meine partnerin!“ wie adam: „die ist nun endlich gebein von meinem gebein und fleisch von meinem fleisch!“ nicht „männin“, nicht männliches: menschliches, weibliches gebein und fleisch) „meine“ kann an der betreffenden stelle gestrichen werden.
      https://www.diesseits.ch/first-reformed/#comment-21727

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  • Alpöhi
    Gepostet um 16:52 Uhr, 06. September

    Herr Jütte, heute haben Sie sich selber übertroffen: Ein Paradebeispiel von Meta-Geschwurbel über ein Thema, bei dem wir uns gerne „lebendig“ fühlen würden aber es eben oft nicht sind. Neben Sex ist die Religion bzw. der Glaube das andere Parade-Thema. Auch hier übt sich „diesseits.ch“ fleissig in Meta-Geschwurbel. Freilich sind beides Themen, über die man nicht schwurbeln sollte, sondern bei denen sich das „Lebendig Fühlen“ nur einstellt, wenn man etwas TUT.

    Nicht über Sex schwafeln. Sex haben. (Ich gebe zu: dazu braucht es einen Partner oder eine Partnerin – ohne ist es schwierig.)
    Nicht über Glauben schwafeln. Glauben haben. (Ich gebe zu: Dazu braucht es einen Gott oder eine Göttin oder wenigstens Glaubensgeschwister – ohne wird es schwierig.)

    Herr Jütte, was ist eigentlich die Absicht oder das Ziel von „diesseits.ch“?
    Heute lassen Sie mich ratlos zurück. Nicht zum ersten Mal.

    Alles Gute!

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    • stephan jütte
      Gepostet um 18:46 Uhr, 06. September

      dann wünsche ich ihnen herzlich, dass sie immer eine partnerin und einen gott haben, ohne dass sie darüber nachdenken müssen 🙂

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    • michael vogt
      Gepostet um 23:28 Uhr, 06. September

      „absicht und ziel“ hier sehr schön dargestellt https://www.ref.ch/news/diesseits-von-eden-ein-neuer-blog-der-zuercher-kirche/. Sie sind doch für empathie. etwas mehr davon zum ersten thema wäre nicht weniger. und zum zweiten: auf diesseits gibt es programmgemäss viele berichte aus dem konkreten diesseitigen. und dann eben die vielfalt: sogar eine art jenseits berührende dogmatik wird – zumindest geduldet. 😉 also was Sie schreiben tendiert zur habenorientierten werkgerechtigkeit. Ihre devise wäre doch eigentlich, nicht andern zu sagen, was sie tun sollen und was nicht, sondern es schlicht selbst zu tun. da haben wir ja auch von Ihren beiträgen (kommentaren) schon einiges profitiert. „l’état c’est moi“, sagte ein französischer grosskönig. „diesseits“ c’est vous! 😉

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      • michael vogt
        Gepostet um 23:34 Uhr, 06. September

        respektive nicht zu tun – müsste man den drittletzten satz ergänzen 😉

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        • michael vogt
          Gepostet um 23:35 Uhr, 06. September

          sorry, den viertletzen

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          • michael vogt
            Gepostet um 23:36 Uhr, 06. September

            nein, verletzen wollte ich Sie nicht: den viertletzten

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  • Felix und Regula Reich-Ranicki
    Gepostet um 13:46 Uhr, 07. September

    Ich weiss, „diesseits.ch“ legt Wert darauf, kein offizieller Kirchenkanal zu sein. Trotzdem wird zumindest jeder Text von Herrn Jütte sofort auf dem offiziellen Facebook-Account der Zürcher Landeskirche verlinkt. Deshalb sei – aus der Perspektive von jemandem, dem die Reformierte Kirche (trotz allem immer noch) am Herzen liegt – die Frage erlaubt: Wäre nicht etwas mehr editorische Sorgfalt möglich? Etwas mehr von diesem altmodischen „Arbeit an der Sprache ist Arbeit am Gedanken“, auf das Theolog*innen früher so stolz waren? Werden diese Texte nicht einmal mehr gegengelesen, bevor sie online gestellt werden? Ich gebe zu: Mir hat sich noch nicht wirklich erschlossen, was solche gewollt-radikal-subjektiven Ergüsse, deren theologischer Gehalt doch eher dünn ist, auf einem kirchlichen Blog zu suchen haben. (Aber bei dieser Frage scheiden sich bekanntlich die Geister, und sie ist wahrscheinlich schon deshalb hinfällig, weil dieselbe Person, die diesen Beitrag geschrieben hat, auch über die Publikation des Beitrags entscheidet.) Dennoch sei schüchtern gefragt: Wäre es nicht wenigstens möglich, die Texte zu redigieren, bevor sie publiziert werden? Unfreiwillige (?) Wortschöpfungen wie „Exibizionismus* scheinen mir dann doch, genau so, als solche, etwas gar gewagt. Echt jetzt!

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    • Stephan Jütte
      Gepostet um 11:06 Uhr, 08. September

      Vielen Dank für Ihre Anregung. Der Schreibfehler ist mir peinlich. Wir geben uns Mühe, das zu verbessern. Editorische Sorgfalt finde ich wichtig. Dass Sie den theologischen Gehalt „eher dünn“ finden, kann auch daran liegen, dass Sie und ich unter Theologie etwas Unterschiedliches verstehen. Vielleicht haben Sie aber auch schon bemerkt, dass die Person, die über die Publikation der Beiträge entscheidet, ganz verschiedene Stile zulässt und publiziert: Lustige-leichte, persönliche-nahe, biblisch-exegetisch-genaue, politisch-engagierte…
      Und bitte erlauben Sie mir diese Bemerkung: Alle Autor*innen stehen mit ihrem Namen für ihre Beiträge. Sie positionieren sich und geben dabei etwas von sich selbst preis. Wenn man dann anonym und süffisant fragend sich einbringt, wäre es eine Überlegung wert, ob man das nicht auch ebenso namhaft, offen und angreifbar tun möchte. Das würde mindestens zu Ihrem Künstlernamen passen. Echt.

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    • michael vogt
      Gepostet um 16:26 Uhr, 08. September

      der schreibfehler hat mir via erinnerung an eine ex den zugang zu jener anderen ermöglicht. es kam nicht zum sex. muss es ja auch nicht. schon ihre gegenwart macht das leben zum leben.

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