Change 2016

Nein, wirklich: Ich habe das nicht erwartet, nicht wirklich für möglich gehalten. Donald Trump, der nächste Präsident der USA.

Nicht Hillary Clinton, die in den TV-Debatten mit Dossierkenntnis geglänzt hat, sondern Trump: Die Mauer gegen Mexiko, die Angst vor dem Islam, der Sexist.

Wie konnte das passieren? Nun, es ist nicht „passiert“, die Menschen haben gewählt. Nicht das Geld hat die Wahl gewonnen – Hillary Clinton hatte mehr davon. Es ist nicht das Ergebnis irgend einer bösen Verschwörung der kapitalistischen Grosskonzerne – sie fürchten Trump. Es ist ein Sieg gegen das Establishment, gegen die bewährte Politik, gegen die Vorhersagen der Umfrageinstitute, gegen den Anstand, ja kurzum: gegen das, was die meisten von uns denken, erwarten und hoffen wollten und konnten.

Wenn es wirklich stimmt, dass Trump die Wahl der „Politikverdrossenen“ ist, dann ist deren schiere Zahl beängstigend. Dann ist die Mehrheit der Wahlberechtigten der Politik überdrüssig und bereit dazu, die Ungewissheit Trumps der Berechenbarkeit Clintons vorzuziehen.

Bleibt zu hoffen, dass uns all das nun nicht zu einer „Demokratieverdrossenheit“ oder einem „USA-Bashing“ führt: Nein, es ist nicht falsch, dass der Präsident vom Volk gewählt wird und nein, die USA sind keine Ansammlung irrer Hinterwäldler. Vielmehr mahnt uns diese „unmögliche“ Wahl daran, dass demokratische Verfahren von Voraussetzungen leben, die nicht im Wahlakt selbst enthalten sind. Demokratie, wenn sie keine blinde Gefühlskundgebung einer sich selbst fremden Masse sein soll, ist auf eine Kultur angewiesen, in der man sich zu verstehen sucht, einem selbst fremde Perspektiven probehalber einzunehmen bereit ist und die (Selbst-)Verpflichtung fühlt, für seine Wahl Gründe angeben zu können.

Demokratie ist mehr als der befriedete Kampf um Macht. Demokratie ist das Versprechen, das man sich zuerst und vorallem selbst gibt: Ich werde zuhören, versuchen zu verstehen, was der andere meint und ich werde abwägen – und mich auch gegen eigene vordergründige Interessen stellen, weil ich einer sein will, dem das Allgemeinwohl wichtiger ist, als die Durchsetzung meiner unmittelbaren Interessen, mir die Freiheit aller bedeutender erscheint, als meine Angst und mein Frust.

Es ist nun an uns, dieser Wahl wegweisenden, historischen Charakter zu geben. Lasst uns Demokraten bleiben – oder wenigstens wieder werden.

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7 Kommentare
  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 11:01 Uhr, 09. November

    GOD SAVE AMERICA ??
    – dessen way of life ich in ganz vielen Bereichen liebe und bewundere. Aber jetzt – ich zitiere aus dem Blogbeitrag von Michael Mente: Tammisiegegoffetammi!

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    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 11:27 Uhr, 09. November

      Ups, eine fluchende Pfarrerin! Das gibts doch nicht in einem Blog der Zürcher Landeskirche: EIne Modertion muss her! 😉

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  • Verena Mühlethaler
    Gepostet um 12:21 Uhr, 09. November

    Erhellende Worte, danke! Ja, auch ich reibe mir die Augen, was da weisse ältere Männer (klar, nicht nur) angerichtet haben! Ob es wohl einen Zusammenhang zwischen Sexismus, Rassismus und Populismus gibt? Ich vermute es – es geht in allem um die Abwertung der Anderen! Zu meinem Demokratieverständnis gehören nach wie vor die klugen Worte von Adolf Muschg, die in der Präambel in unserer Verfassung stehen, nämlich dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst. Auch bei uns scheint mir das in den letzten Jahren immer mehr in Vergessenheit zu geraten, respektive wird dieser Grundsatz pervertiert und z.B. eine Asylpolitik betrieben, die immer mehr die Starken vor dern Schwachen schützt. Letzteres ist wohl auch in Trumps Ruf „Make America Great Again“ mitgemeint.

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    • Stephan Jütte
      Gepostet um 19:25 Uhr, 09. November

      merci, für das freundliche feedback an einem tristen tag und ganz besonders für die erinnerung, dass unsere demokratie auch starke wurzeln hat!

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  • Elisabeth Stuck
    Gepostet um 14:26 Uhr, 09. November

    Klare und differenzierte Stellungnahme, danke! Gut, dass hier auf ein allgemeines AmerikanerInnen-Bashing verzichtet wird. Viele von uns wurden ja in der Schweiz auch mit ‚unmöglichen‘ Abstimmungsergebnissen konfrontiert und sind nichtsdestotrotz Menschen, die Demokratie so leben wollen, wie sie Stephan Jütte überzeugend beschreibt.
    Zu denken hat mir hingegen gegeben, dass nicht nur die ‚weissen Männer“ Trump zum Sieg verholfen haben. Gemäss Auswertung der Ergebnisse war eine Mehrheit der christlichen Wählenden für Trump.

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    • Stephan Jütte
      Gepostet um 19:24 Uhr, 09. November

      ja, und dazu kommen viele nichtwählerInnen und 42% wählerinnen. schwer zu verstehen. auf facebook habe ich ein paar diskussionen evangelikaler christen in der schweiz mitbekommen. es scheint für viele kein problem darzustellen, dass man sich völlig daneben benimmt, solange man gegen abtreibung ist. manche vergleichen befürworter für die straffreiheit von abtreibungen gar mit den nazis. es ist zum schreien.

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  • Hans-Peter Geiser ZH ausgesteuerter Pfarrer, Dr. theol. M. Div.
    Gepostet um 15:09 Uhr, 09. November

    Ich weiss gar nicht, was die Aufregung soll. Nachdem ich jahrelang in den USA studiert, gelebt, gelitten und mitgekämpft habe, dass eine Gesellschaft anders wird, als sie sein will, erstaunt mich die gestrige Wahl keineswegs. Michael Moore hat in einem Interview bereits gesagt, er erwarte in der Irrationalität der Amerikaner, dass alles am US Tuesday Wahltag möglich sei. Sogar eine Wahl von Donald Trump. Dies ist nun geschehen, bis hin zur absoluten Mehrheit der Republikaner in Senat und Kongress.

    Die Amerikanische Gesellschaft ist seit Jahrzehnten halbiert. Halbiert in die Habenden und die, die nichts haben oder neu auch als Mittelstand – jung oder alt, meine über 90-jährige Schwiegermutter in Kalifornien genauso – am verarmen sind. Dass eine ganze Bernie-Sanders Generation gestern von einer Elite im politisch- wirtschaftlichen Exzess ihrer Macht und ihres Reichtums durch einen hemmungslosen Faustschlag an der Urne vor den Kopf gestossen wurde, macht höchstens noch sprachlos.

    Selbst Hillary Clinton ist heute Nacht in New York nur noch still und leise in das Verstummen ohne Wahlabschied vor ihren Leuten verschwunden. Gebrochen. Verstummt. Ohne Worte.

    Jede 4-jährige Wahl in den USA fürs Präsidium ist diese Schaukelschlacht um 50% herum. Jede immer wieder. Die eine Hälfte, die sich um das Elend der anderen Hälfte futiert.

    Doch sind wir in einer ZH Landeskirche und in den CH Kirchen wirklich anders?

    Wir sind es nicht.

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