Das gelobte Land

Vor einigen Jahren fragte mich ein indischer Tourist in der Berner Altstadt nach Informationen. Ich gab Auskunft, und nachdem er sich bedankt hatte, fügte der Inder auf Englisch hinzu: „Wenn Sie in der Schweiz wiedergeboren wurden, dann waren Sie im früheren Leben auf alle Fälle ein guter Mensch. Dieses Paradies muss man sich erarbeiten.“ Ich habe zuerst laut gelacht und ihm dann einen guten Aufenthalt gewünscht. Dann bin ich aber nachdenklich geworden. So deutlich hatte ich es noch nie gesehen. Die Schweiz als gelobtes Land? Ich fühlte mich ertappt. Ich nehme Vieles als selbstverständlich wahr, was mir hierzulande geschenkt wird: Der Zugang zu einem funktionierenden Gesundheitssystem, die Möglichkeit einer sicheren Arbeit nachzugehen, die Meinungsäusserungsfreiheit und ein demokratisches und friedvolles Zusammenleben.

Reiche Könige, die nach Spiritualität betteln

Ist der Mensch tatsächlich unersättlich und undankbar? Als Secondo pendle ich zwischen den Kulturen und wechsle häufig die Perspektive. Es gibt zwei Seiten der gleichen Medaille: Das „Dolce far niente“ geht beispielsweise in Italien mit Unzuverlässigkeit und mehr Lebensfreude einher, Fleiss und Genauigkeit in der Schweiz mit Kleinlichkeit aber auch mehr Wohlstand. Wenn ich diese Themen anspreche, höre ich oft diese Antwort: „Man kann nicht alles gleichzeitig haben!“ Hierzulande müssen wir effizient und produktiv sein, uns mit der weltweiten Konkurrenz messen, damit wir uns diesen Wohlstand nachhaltig leisten können. Wir sind somit gleichzeitig auch Gefangene unserer eigenen, hohen Ansprüche und Errungenschaften geworden. Der fürstliche Lebensstandard führt zu Sachzwängen, und viele Menschen müssen die Projekte ihrer Leidenschaften vertagen und Kompromisse mit ihren Seelen schliessen. Der erhöhte Konkurrenzdruck verändert auch in der Schweiz das Arbeitsklima. Die Menschen heissen auf dem Arbeitsplatz schon lange „Ressourcen“ und als solche werden sie tendenziell behandelt. Das Phänomen des Burn-Outs wird ironischerweise auch von sogenannten Bullshit-Jobs begleitet: unproduktive und überflüssige Arbeiten, die meistens in Dienstleistungsfirmen für die Überwachung oder Verwaltung weiterer Stellen eingesetzt werden. Die Folge: Immer mehr Arbeitskräfte entscheiden sich (un)freiwillig für den Ausstieg. Obwohl wir aus materieller Sicht so viel besitzen und kleine Könige sind, fühlen wir uns trotzdem unvollkommen und arm. Wir sehnen uns nach geistiger Nahrung, und es ist kein Zufall, dass Yoga-Kurse und meditative Angebote so viel Zulauf haben.

Die Entdeckung der Genügsamkeit

Die Schweiz braucht heute wahrscheinlich nicht mehr Wertschöpfung. Sie braucht vielmehr Zeit und Ruheoasen. Stetiges Wachstum ist eine utopische Maxime unserer Gegenwart. Wir gehören der Welt an, diese gehört uns aber nicht. In den westlichen Gesellschaften müssten wir lernen, genügsamer zu werden, echte Werte zu schaffen, anstatt diese zu schöpfen. Der Druck ständig leisten zu müssen, würde abnehmen. Die Pflege sozialer Beziehungen würde mehr Freiraum erhalten. Die Schule würde die Kinder für das Leben, nicht für die Wirtschaftswelt vorbereiten. Die Menschen würden arbeiten, um zu leben, nicht leben um zu arbeiten. Wir würden auch die Nützlichkeit des Unnützen schätzen lernen. Wir könnten sowohl materiell als auch spirituell gesättigt werden. Die Schweiz wäre ein Paradies auf Erden.

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