Der Rock und ich

 

Als Jugendliche litt ich unter einer sehr speziellen Variante des Stockholm-Syndroms. Ich verteidigte die Kleidungsvorschriften des religiösen Milieus, in das ich mangels Alternative eingebunden war. Ich durfte keine Hosen tragen. Und – ich identifizierte mich mit den absurden Ideen der Menschen, die mir diese Vorschriften machten.

Die Gründe für die Forderung, als Mädchen nur Röcke zu tragen, waren mir eigentlich schleierhaft. Da ich jedoch niemals zum eigenen Denken und zur Entwicklung von Argumenten ermutigt wurde, blieb mir der Verweis auf die heiligen Schriften der einzige Anhaltspunkt. So entschied ich mich also «freiwillig», den Vorschriften zu Kleidung und Kopfbedeckung zu folgen. Ich wurde auf ehrfurchtgebietende Autoritäten verwiesen. Was sie sagten, beruhe, so dachten ich und andere, auf Güte und Wohlwollen. – Und natürlich weiserer Einsicht.

Kürzlich erzählte mir eine Schweizerin mit Wurzeln in Serbien – sie ist viel jünger als ich -, dass ihr Vater sie angeschrien habe: «Wer hat dir erlaubt zu denken!» Geistesgegenwärtig antwortete sie ihm: «Du sagst nie wieder einen solchen Satz zu mir!» Ich bewundere die Energie, die in dieser Antwort liegt. Ihr Vater hat die produktiven Veränderungen, die seine Tochter in seinem Geschäft initiieren konnte, hingenommen. Heute müsste er zu ihr sagen: «Du hast mir mit deinem Denken mein Geld und meine hart erarbeitete Art zu leben erhalten.»

Dankbar bin ich für meinen Teil den Entwicklungen in der Folge der 68iger-Revolten. Sie ermöglichten mir, zum Gymnasium zu gehen. Niemals hätte man mir zuvor, einem Kind aus einfachen Verhältnissen, zugestanden, höhere Bildung anzustreben. Mir wurde also erlaubt zu denken. Ich wusste es nur noch nicht richtig. Aber ich blühte auf. Noch immer verteidigte ich die religiösen Vorschriften meines Herkunftsmilieus gegenüber meinen Mitschülerinnen. Ich wusste nicht warum. Wieder waren es gelernte religiöse Sätze in meinem Kopf, die mir die verständnislosen Reaktionen der anderen plausibel machten und die mir halfen, den Spagat zwischen dem einen und dem anderen Milieu zu ertragen. Aber so langsam nisteten sich neue, revolutionäre Wünsche in meinem Kopf ein. Ich wollte endlich auch eine Hose tragen.

Und zu Hause: Ich kämpfte um jeden Zentimeter, der mich dem Ziel, eine Hose tragen zu können, näherbrachte. Zum Glück gab es dann «Übergangsformen». Eines Tages trug ich einen Hosenanzug, dessen Oberteil eigentlich ein kurzes Kleid war. Ein erster Schritt zur «richtigen» Hose war getan. Ich war überglücklich.

Vielleicht half es, dass die anderen Mädchen in meiner Klasse sorglos Hosen trugen. Vielleicht half der weitgehend religionsfreie Raum der Schule. Vielleicht half, dass ich meine Deutschlehrerin dafür liebte, dass sie uns Welten des Denkens und der Literatur öffnete. – Und sie trug natürlich Hosen!

Eines weiss ich sicher und das erinnert mich an die Versuche heute, bestimmte Kleidung zu verbieten: Ein Verbot von Röcken hätte es sicher nicht getan. Ich wäre zutiefst verwirrt gewesen und wäre in hässliche Loyalitätskonflikte gegenüber meinem Herkunftsmilieu geraten. Heute bin ich eine begeisterte Hosenträgerin. Auch Kleider liebe ich sehr. Bei Röcken habe ich komischerweise Aversionen. Was ich am meisten an diesen Geschichten liebe: Einer Frau bei der Entwicklung ihres eigenen Denkens zuzuschauen. Ich setze auf Bildung!

Die Meinung der Autorin in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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9 Kommentare
  • michael vogt
    Gepostet um 07:51 Uhr, 28. Dezember

    eigenartiger zufall, eben bin ich auf den pc gekommen, um folgendes zu notieren (rock habe ich entsprechend zuerst als rockmusik gelesen):

    und was war das, als ich vor dem geramten bild von fis stand, einem waldkauz, auf der umgehängten gitarre improvisierte und dabei unversehens songs für unsere band komponierte?

    zurückgehen bevor ich in die theologische mange geriet

    das bild wandelt sich in die ursprünglichste wahrheit

    als ich mit eberhard jüngel wanderte
    ein lächeln oder lachen
    in meinem gesicht

    68 war bei uns schon vor 68 selbstverständlich. ich wollte aber nicht den drogenweg meines vaters gehen. die alternative war zuerst sport, dann theologie. auch die elektronische wiedergabe von ton und bild. ein umgekehrter generationenkonflikt. nun werde ich wieder meinen meditationsumhang umhängen, lang wie ein maxirock, und mich noch ein stündchen hinsetzen. ach so, der spaziergang mit dem berühmtesten nachfolger karl barths anfang 1979: ein zeichen, dass ich – obschon ich auch immer davon ausging, dass andere besser seien, und wenn sonst niemand, dann jesus – mich doch nicht immer beeindrucken liess.

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    • michael vogt
      Gepostet um 07:10 Uhr, 29. Dezember

      zurückgehen als reintegration

      das gesamte erinnerungsbild wandelt sich

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 10:20 Uhr, 28. Dezember

    DANKE für diesen berührenden, spannenden und sehr aufschlussreichen Beitrag! @All jene, die „langweilig“ geklickt haben: Warum? Was genau ist daran langweilig? Ich verstehs echt nicht.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 10:48 Uhr, 28. Dezember

    In meiner reformiert-distanziert-gleichgültigen Herkunftsfamilie waren Verstand, Ehrgeiz, Prestige, Leistungsbereitschaft das „muss“ auch für Frauen. Davon habe ich sehr profitiert. Jeans trug ich schon als Zweijährige, es gibt ein ganz süsses Bild ☺️. Dafür fehlten Gemeinschaftssinn, (Mit)Gefühl, Solidarität, Glauben und Staunen bis hin zur Psychotherapie. Und eigene Wege gehen waren genauso ungern gesehen. Extrem spannend, was in der Kirche alles für Lebensläufe vorhanden sind. Eigentlich eine grosse Chance. Wir sollten öfter darüber sprechen.

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    • Anonymous
      Gepostet um 17:00 Uhr, 30. Dezember

      Ich vermute, dass die Lebensläufe von Frauen aus allen Religionen durchaus spannend zu vergleichen wären. Sehr beschäftigt hat mich in dieser Hinsicht der Dokumentarfilm „Female Pleasure“. Das eigene Begehren im Leben zu entdecken ist für Frauen zumindest in den Generationen, die bis 1970 auf die Welt kamen, immer noch erschreckend eingeschränkt (gewesen). Das betrifft alle Lebensbereiche: die Intellektualität, die Art und Weise, wie Frauen auftreten, die Wünsche, die sie zu formulieren wagen…

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      • Esther Gisler Fischer
        Gepostet um 15:52 Uhr, 07. Januar

        Sagt nicht die dem orthodox-jüdischen Milieu entsprungene Deborah Feldman im Film, ihr Grossvater hätte ihr gegenüber geäussert, die Frauen würden zuviel denken und fragen? Passt vortrefflich zu Ihrem Bericht!
        Ich mit Jahrgang 1968 habe immer schon Hosen getragen, da ich aus praktishen Gründen die Kleider meines groses Bruders nachtragen durfte. 😉 Noch nichts also von rosa Klamotten für Mädchen.

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    • Anke Ramöller
      Gepostet um 17:10 Uhr, 30. Dezember

      Vielen Dank für deine Rückmeldungen! Mich erstaunt an meiner eigenen Geschichte in der Rückblende, wie kompliziert es (für Frauen) ist, sich aus oktroyierten Ideologien zu befreien. Durch ein aktuelles Gespräch meiner Tochter mit ihrer Grossmutter zum Thema „Hose an Frau“ ist auch nochmals deutlich geworden, wie sehr religiöse Überzeugungen sich mit kulturellen Perspektiven mischen. Es ist nicht einfach die Religion, die Frauen klein macht. es ist die fatale Mischung von Religion und patriarchaler Kultur. Ideologisch aufgeladenen Kleidungsstücke einfach zu verbieten hilft wahrscheinlich den wenigsten Frauen.

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      • Esther Gisler Fischer
        Gepostet um 15:54 Uhr, 07. Januar

        Ja, das meine ich auch. Deshalb stört mich, wenn Männer meinen, solche Debatten dominieren zu müssen, wie unlängst auf diesem Blog zur Ganzkörperverschleierung.

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  • Anonymous
    Gepostet um 21:32 Uhr, 29. Januar

    Wie angenehm mal etwas zu der Kleiderthematik im Zusammenhang mit religiösen Vorstellungen und Erwartungen zu lesen, das nicht schwarz-weiss ist. „Ein Verbot von Röcken hätte es sicher nicht getan. Ich wäre zutiefst verwirrt gewesen und wäre in hässliche Loyalitätskonflikte gegenüber meinem Herkunftsmilieu geraten“ ist mein Lieblingssatz in diesem Text!

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