Einmal Gehirnwäsche, bitte!

Charta soll Mission am Zürcher Jugendfestival verhindern“ lautete der reisserische Titel eines Beitrags auf ref.ch letzte Woche. Im Artikel geht es darum, dass wir als OK des «YAY Refor-Motion-Day» vom 2. November eine Richtlinie erarbeitet haben, um zu entscheiden, welchen Jugendorganisationen wir eine Plattform für Workshops, Stände und Aktionen bieten. Verbände, bei denen nicht bereits eine Partnerschaft mit der reformierten Landeskirche besteht, können mitwirken, wenn sie die Charta christlicher Kinder- und Jugendarbeit unterzeichnet haben und damit für eine in ihren Zielen und Arbeitsweisen transparente und verantwortungsbewusste Jugendarbeit stehen.

Bereits 350 Gruppen haben die Charta unterzeichnet. Sie hat allerdings nicht das Ziel, Mission zu verhindern. Zum Glück: Wenn es nicht mehr erlaubt ist, für Weltanschauungen zu werben oder sich als Organisation einem Auftrag zu verpflichten, verlernen junge Menschen die Kunst der Auseinandersetzung. Ich bin überzeugt: Auf dem Boden neutraler Schulzimmer oder in Biotopen Gleichgesinnter lernt es sich viel schlechter, einen respektvollen Dialog zu führen und eine kritische Position zu entwickeln, als in der Auseinandersetzung mit Menschen, die für starke Überzeugungen einstehen. Jugendverbände dürfen deshalb eine Mission haben: Sei es die Verbreitung des Evangeliums, der Kampf für vegane Ernährung oder die Einführung der Ehe für alle. Wichtig ist, dass diese Mission ohne Machtmissbrauch, Zwang und Manipulation erfolgt.

Liebesbeziehungen verboten

Mit 16 habe ich ein Jahr in den USA verbracht und in einer Familie gelebt, die in einer grossen Freikirche (dort: nondenominational church) engagiert war. Da ich selbst freikirchlich aufgewachsen bin und schon früh mit verschiedenen christlichen Strömungen in Berührung kam, war ich zunächst nicht vor den Kopf gestossen. Die moderne Musik, die aktive Jugendgruppe (rund siebzig Jugendliche nahmen an wöchentlichen Treffen teil) und die grosse Leidenschaft, die ich antraf, beeindruckten mich. Ich entdeckte den Glauben neu, liess mich begeistern.

So weit, so gut. Relativ bald lernte ich die theologischen Besonderheiten kennen, die meine neue Gemeinde auszeichneten. Die fünf Pastoren der Gemeinde waren (ziemlich gutverdienende) Autoritäten, deren Ansagen direkt von oben kamen und nicht hinterfragt wurden. Dann war da das Prinzip „Courtship statt Dating“: Liebesbeziehungen waren streng verboten, bis Mann und Frau (eine andere Kombination wäre nicht denkbar gewesen) in heiratsfähigem Alter waren und der Mann die Erlaubnis der potenziellen Brauteltern eingeholt hatte. Wenn sich Jugendliche nicht daran hielten, drohte ihnen der Ausschluss aus der Jugendgruppe. Sie mussten sich öffentlich für ihren Fehltritt entschuldigen.

Subtiler Gruppendruck

Rückblickend stehen mir bei der Vorstellung die Haare zu Berge. Damals stand ich etwa fünfhundert Menschen gegenüber, die sich völlig einig waren und denen es ein Herzensanliegen war, mich zu überzeugen. Ich weiss nicht, ob es der starken Erziehung meiner Eltern oder meiner (mit einem Antiautoritätsreflex versehenen) Persönlichkeit zu verdanken ist; aber auch ein Jahr konstanter Gehirnwäsche und subtiler Gruppendruck brachten mich nicht dazu, meine kritische Distanz zu diesen Lehren aufzugeben. Fast wöchentlich folgte nach einer Predigt ein Aufruf, dass nach vorne kommen sollte, wer sich diesem oder jenem Prinzip unterordnen wolle. Praktisch alle Anwesenden folgten dem Ruf. Ich blieb sitzen, wenn ich nicht überzeugt war. Und das war so oft der Fall, dass ich bis zum Schluss nicht in den engeren Zirkel der Jugendgruppe Eingang fand – trotz grossem Engagement für den Glauben.

Sollte ich mich nach dieser Erfahrung nicht vehement dafür einsetzen, jede Missionierung und Indoktrination zu verhindern? Für mich steht es ausser Frage, dass Machtmissbrauch und psychologischer Druck schädlich und gefährlich sind und in keiner Jugendarbeit Platz haben. Was ich miterlebt habe, war für viele der Jugendlichen, die nicht nach einem Jahr wieder nach Hause fliegen konnten, traumatisierend. Besonders nachdem es Jahre später zu einer grossen Krise und Auflösung der Gemeinde kam.

Auseinandersetzung schützt

Nichtsdestotrotz muss ich sagen: die Auseinandersetzung damals hat mich stark gemacht und mein Interesse an Theologie mitbegründet. Ich habe gelernt, mich nicht von starken Überzeugungen blenden zu lassen, zu differenzieren, zu hinterfragen, zu opponieren, aber auch meine eigene Prägung wahrzunehmen und in Frage zu stellen. Die Konfrontation mit starken Überzeugungen schadet nicht. Missioniert zu werden schadet nicht. In einer multikulturellen, offenen Gesellschaft müssen wir lernen, mit anderen Standpunkten klarzukommen, uns dazu zu verhalten, uns selbst darin zu reflektieren. Für meine Kinder, die als reformierte Gelegenheitskirchgänger aufwachsen, wünsche ich mir keine Abschirmung, keinen Schutz vor Organisationen mit einer Mission. Sollen sie ins ICF gehen, am Praisecamp Feuer fangen oder bei Life on Stage evangelisiert werden! Die Auseinandersetzung, die das mit sich bringen wird – die kritischen Diskussionen an unserem Küchentisch (ich freue mich schon darauf), die Rückfragen in der Schule – wird sie darin bestärken, ihre eigene Position zu entwickeln. Und sie wird sie genau vor dem schützen, vor dem ich sie schützen möchte: Machtmissbrauch, Zwang und Manipulation.

Die Meinung der Autorin in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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10 Kommentare
  • Andreas Baumann
    Gepostet um 14:34 Uhr, 16. Juli

    Super Statement! Danke.

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  • Andreas Baumann
    Gepostet um 14:34 Uhr, 16. Juli

    Super Statement. Danke.

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  • Corinne Duc
    Gepostet um 23:07 Uhr, 16. Juli

    Was im ref.ch-Beitrag (https://www.ref.ch/news/charta-soll-mission-am-zuercher-jugendfestival-verhindern/) zu lesen ist, scheint mir sehr bedenkenswert. Da wird von einer früheren Festausgabe folgendes berichtet: „In einer Predigt sei beispielsweise Scheidung als Sünde hingestellt worden, war damals auf Twitter zu lesen. Das welsche Portal protestinfo.ch berichtete gar von einem Workshop-Leiter, der Homosexuelle als «eine Bedrohung für unsere Gesellschaft» bezeichnet haben soll.“
    Wenn der Eindruck entsteht, die Zürcher Landeskirche unterstütze diese fundamentalistischen Kreise und stehe hinter solchen diskriminierenden Äusserungen, brauchen wir uns nicht zu wundern wenn wieder eine neue Austrittswelle folgt. M.E. ist es nicht einfach eine Frage von Image und Meinungsvielfalt, sondern durchaus auch von ethischen Grundsätzen bzw. Orientierung an allgemeinen Menschenrechten.

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    • Alpöhi
      Gepostet um 09:47 Uhr, 19. Juli

      Auch Freikirchen bestehen aus Menschen. Auch Menschen in Freikirchen können (und dürfen) sich weiterentwickeln. Oder mit dem berühmten Zitat eines Politikers: „Was gehen mich mekne dummen Reden von gestern an?“

      Sie, Frau Duc, wecken in mir oft die Assoziation der „liberalen reaktionären Landeskirchlerin“, für die alles Freikirchliche suspekt-schädlich oder gar vom Teufel ist. Es gibt viele solcher liberal-reaktionärer Menschen in der Landeskirche. Insofern ist Ihr Beitrag wichtig, weil prototypisch.

      Der Punkt ist einfach: Man kann nur fürchten (oder hassen), was man nicht kennt.

      Ich selber war und bin Landeskirchler, und habe durch die Freikirchen wichtige Impulse für meinen Glauben bekommen. Dafür bin ich Gott dankbar.

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    • Alpöhi
      Gepostet um 10:10 Uhr, 19. Juli

      Und ausserdem: Wenn ich schaue, worum es Frau Stöcklin in ihrem Beitrag geht, dann geht es zwar um „Mission ja gerne (muss möglich sein im Kontext der Kirche)“, aber eben auch – und das ist offenbar der Hauptzweck der Charta – um „Auseinandersetzung statt Gruppendruck“ und „freiheitliches Christsein statt Moralkeule“. Als Liberale müssten Sie das gut finden, oder? 😉

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  • michael vogt
    Gepostet um 23:38 Uhr, 16. Juli

    sich zusammentun, dann doch nicht zusammenleben können, als leidvolle erfahrung für die kinder – das kommt tatsächlich aus dem biochemischen konglomerat sünde. das herkömmliche eheverständnis sagt, dass er ihr und für sie sein leben hingeben soll. aktualisiert heisst das in meinen augen: das zusammenleben gelingt soweit, als beide gestorben sind. trennung kann einerseits auch aus dem konglomerat kommen, kann andererseits auch befreiung sein. die predigt des evangeliums, die damals von der landeskirche her als alternative gesehen wurde, schliesst eine solche analyse nicht aus. und ich finde, es kann durchaus o.k. sein, wenn jugendliche das als prävention und motivation mitbekommen.

    menschen sind generell eine bedrohung für die menschheit. warum homosexuelle das mehr sein sollten als heterosexuelle durch die vermehrung, sehe ich nicht ein. bisher sah ich ihre „mission“ in der abwendung der definitiven überlastung der erde durch uns.

    mission als solche und ohne anführungzeichen hat den nachteil, dass sie zum vornherein der meinung ist, sie habe der*dem andern etwas besseres zu vermitteln, als sie*er bereits kennt. mission wird heute als dialog verstanden, dh nicht als einbahn. der begriff bleibt ein problem.

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  • Vanessa Buff
    Gepostet um 09:19 Uhr, 18. Juli

    Liebe Frau Stöcklin

    Wir freuen uns immer, wenn einer unserer Artikel Anlass zur Diskussion gibt. Dass man Mission unterschiedlich verstehen und auch beurteilen kann, ist uns ebenfalls klar. Wenn Sie nun aber den Titel als „reisserisch“ kritisieren, dann müssten Sie fairerweise auch erwähnen, dass dieser auf ein Zitat von Projektleiter Jens van Harten zurückgeht. Er sagte wörtlich, dass es bei dem Festival nicht um Mission gehen soll.

    Freundliche Grüsse,

    Vanessa Buff
    Stv. Redaktionsleiterin ref.ch

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  • Corinne Duc
    Gepostet um 17:16 Uhr, 21. Juli

    „Mission“ hat bekanntlich ein weites Bedeutungsspektrum. Ursprünglich aus lat. Sendung / Auftrag (insbes. in militär. Kontexten – also nicht primär religiös motiviert) wurde es in christlicher Tradition für oder anstelle von „Entsendung zur Verkündigung des Evangeliums“ oder aber auch bei Zwangschristianisierungsaktionen verwendet. Dass bei christlicher „Mission“ nicht selten Mittel wie Unterwerfung, Nötigung und Folter zur Anwendung kamen oder jedenfalls den zu missionierenden Menschen nicht in respektvoller Weise begegnet wurde, hat dazu geführt dass der Begriff „Mission“ zuweilen unter Generalverdacht geraten ist.
    Die Ankündigung, dass religiöse Gruppierungen an einer Veranstaltung mal schnell noch Kinder und Jugendliche missionieren, würde wohl nicht ganz ohne Grund die Erwartung aufkommen lassen, dass einseitige Beeinflussung, Überredung oder andere manipulative Strategien zur Anwendung kommen würden.
    In dieser Hinsicht jedenfalls scheint es dem Zweck der angesprochenen Charta durchaus zu entsprechen, (blosses) „Missionieren“ innerhalb der „Mission“ zu verhindern, wenn es etwa unter Art. 1 („Religions- und Meinungsäusserungsfreiheit“) heisst: „Wir respektieren die Gewissens-, Religions- und Meinungsäusserungsfreiheit der Kinder und Jugendlichen in allen unseren Aktivitäten. […] Die Überzeugungen und Entscheidungen in Glaubensfragen jedes Teilnehmenden werden respektiert.
    Wir fördern den aktiven Meinungsaustausch, in welchem unterschiedliche Standpunkte willkommen sind. Wir berücksichtigen insbesondere die Beeinflussbarkeit und Verwundbarkeit der Kinder und Jugendlichen. Wir lehnen Machtmissbrauch, Zwang und Manipulation ab. Wir reflektieren die Entstehung von Gruppendynamik selbstkritisch und versuchen, destruktive Phänomene zu vermeiden.“
    Natürlich ist es wieder etwas anderes, wenn bald mündige Jugendliche aus gesunder Interesse heraus mal eine ICF-Veranstaltung besuchen oder gezielt mit Vertretern irgendeiner anderen dieser Gruppierungen, die nicht zu den Unterschreibenden dieser Charta gehören, diskutieren wollen.
    Die Argumentationen der Verfasserin des obigen Beitrages ist für mich allerdings nicht ganz transparent. Einerseits schreibt sie „Ich weiss nicht, ob es der starken Erziehung meiner Eltern oder meiner (mit einem Antiautoritätsreflex versehenen) Persönlichkeit zu verdanken ist; aber auch ein Jahr konstanter Gehirnwäsche und subtiler Gruppendruck brachten mich nicht dazu, meine kritische Distanz zu diesen Lehren aufzugeben. […] Für mich steht es ausser Frage, dass Machtmissbrauch und psychologischer Druck schädlich und gefährlich sind und in keiner Jugendarbeit Platz haben. Was ich miterlebt habe, war für viele der Jugendlichen, die nicht nach einem Jahr wieder nach Hause fliegen konnten, traumatisierend.“
    Als Gast in einer fremden Gemeinde, mit zuvor entwickeltem Selbstbewusstsein gerüstet, und im Wissen um die beschränkte Aufenthaltszeit lassen sich solche Erfahrungen vielleicht sogar recht einfach mit distanziertem Blick verfolgen. Dass sie dann andererseits gleichwohl wie selbstverständlich die verallgemeinernde Ansicht zu vertreten scheint, missioniert zu werden schade nichts, scheint mir zumindest nicht von einer differenzierenderen Herangehensweise zu zeugen als jenem Titel des ref.ch-Artikels, den sie selber als „reisserisch“ bezeichnet, unterstellt wird.
    Offenbar sind aber doch (fast) alle der Ansicht, dass die Verpflichtung der am landeskirchlichen Jugendfestival engagierten Gruppierungen auf jene Charta ein vernünftiger Schritt war. Diese Rahmenfestlegungen schaffen Raum für offene Diskussionen (auch wenn die Einhaltung der Grundsätze von Nicht-Diskriminierung, Nicht-Manipulation etc. letztlich nicht garantiert werden kann).

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    • michael vogt
      Gepostet um 18:48 Uhr, 21. Juli

      danke für die historische einordnung etc . der „generalverdacht“ ist auch durch die zu selbstverständliche annahme, der sendende sei in jeder hinsicht der beste, zu stande gekommen. das verhältnis zwischen Ihrem kommentar und dem beitrag kann ich zu wenig beurteilen, warum ich mich einer wertung enthalten muss.

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  • Florian Homberger
    Gepostet um 15:12 Uhr, 04. September

    Liebe Sara, ich danke dir ganze herzlich für diesen Artikel und auch alle anderen, die ich immer mit Gewinn und Freude lese!

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