First Reformed

Paul Schrader (Jahrgang 1946) kommt aus einem streng calvinistischen Elternhaus. Erst mit 17 Jahren hat er seinen ersten Film gesehen. Fasziniert von diesem Medium gab er seinen ursprünglichen Wunsch – Priester zu werden – auf und studierte Filmkunst. Bekannt wurde Schrader zunächst durch ein Buch, in dem er die spirituell evokativen Techniken bestimmter Regisseure untersuchte. Mit First Reformed wollte er – jetzt im Alter – selbst einen Film über das Spirituelle machen.

Das ist ihm gelungen. Die erzählte Geschichte, die Dramaturgie, die filmischen Mittel und die Musik bringen das Spirituelle zum Ausdruck, das entsteht, wenn Glaube und Zweifel auf die Realität treffen. Es zeigt sich vor allem in den Ambivalenzen, die durch dieses Aufeinandertreffen entstehen, und von denen Reverend Ernst Toller einmal sagt, dass man beide Aspekte einer Sache im Kopf behalten müsse, weil beide wahr seien.

Reverend Ernst Toller ist Pfarrer der First Reformed Church in Snowbridge, einer kleinen Gemeinde im Staat New York. Die Kirche wurde 1767 von westfriesischen Siedlern gegründet und steht kurz vor ihrem 250 Jahre Jubiläum, das als Renewal, Erneuerung gefeiert werden soll. Organisiert wird das Jubiläum durch die Abundant Life Church, eine grosse, moderne Kirche, die durch Pastor Jeffers geleitet wird.

First Reformed ist der historische Ursprung von Abundant Life; eine karg eingerichtete und aus weissem Holz gebaute Kirche, die Ernst Toller einmal als Souvenirshop bezeichnet, weil mehr Touristen sie als Museum besuchen, als dass Gemeindeglieder am Gottesdienst teilnehmen.

Toller beginnt den Gottesdienst mit der ersten Frage des Heidelberger Katechismus:

«Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?

Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.»

Ob er das eher zitiert oder damit selbst ein Bekenntnis ablegt, bleibt offen. Ernst Toller stammt aus einer Familie, in der alle Männer zum Militär gingen. Darum hatte er seinen Sohn ermutigt, gegen den expliziten Willen seiner Frau ebenfalls zum Militär zu gehen. Er war im Irakkrieg gefallen. Seine Frau hatte ihn daraufhin verlassen.

Um seinen Glaubenszweifeln und seiner Verzweiflung über sein zerbrochenes Leben zu begegnen, beginnt er, ein Jahr lang Tagebuch zu schreiben, in dem er alle seine Gedanken und alle Ereignisse des Tages festhält. Am Ende des Jahres will er das Tagebuch zerstören. Diese Einträge sind im Film aus dem Off zu hören. Sie reflektieren, was erzählt wird und wie sich Toller selbst als Handelnder erlebt und beurteilt.

Eines Tages wird Toller von einem Gemeindemitglied, Mary Mensana um Hilfe gebeten. Ihr Mann Michael, ein Umweltaktivist verzweifelt am Zustand der Erde oder genauer an der Unfähigkeit der Menschen, der Klimakatastrophe wirksam zu begegnen. Er will das Kind nicht, das Mary erwartet. Er wolle nicht in die Augen des erwachsenen Kindes schauen, wenn es ihn unter den für 2050 prognostizierten katastrophalen Umständen fragen wird, warum er es in die Welt gesetzt habe.

Toller nimmt die Verzweiflung von Michael angesichts der Tatsachen genau wahr; es ist die seine:“ I know, that nothing can be changed, and I know, there is no hope“, sagt die Stimme aus dem Off. Trotzdem versucht er, Michael für die Hoffnung zu öffnen, auf die er wohl selbst gerne setzen würde. Ob er glaube, dass Gott ihnen vergeben werde, fragt der atheistisch gesinnte Michael. Wer kennt schon die Gedanken Gottes, antwortet ihm Toller.

Bei einem nächsten Treffen findet Toller Michael tot an dem verabredeten Ort. Michael hat sich erschossen.Die Beerdigung findet auf Michaels Wunsch hin in einer verwüsteten Industrielandschaft statt. Der Chor der Abundant Life Church singt Neil Youngs Umwelthymne «Who’s Gonna Stand Up?» Mary verstreut seine Asche im Fluss.

Michael hat Toller die Augen geöffnet für ein Thema, das er zuvor nicht im Blick hatte: die bedrohte Schöpfung. Ed Balq, ein Geschäftsmann mit einem grossen ökologischen Fussabdruck sponsert die Abundant Life Church wie auch das Jubiläum. Bei einem Treffen stellt er Toller zur Rede, weil er in den Social Media von Michaels Beerdigung erfahren hat. Er verbitte sich solche politischen Aktivitäten. Toller argumentiert mit der Schöpfung, die die Christen bewahren müssten. Balq kontert mit der Bergpredigt. Toller habe in seinem Job, nämlich Michael zu retten, versagt. Er solle erst den Balken aus seinem eigenen Auge ziehen, bevor er auf den Splitter in seinem, Balqs Auge zeige.

Pastor Jeffers wird vom schwarzen Komödianten Cedric the Entertainer gespielt. Er habe sein tolles Lächeln gemocht, das die Gesichter der Menschen strahlen lässt, die ihm begegnen, sagt Paul Schrader.

Pastor Jeffers will Toller hinsichtlich Balq gütig stimmen. Vor allem aber versucht er, Toller zu helfen, indem er ganz offen mit ihm redet. Zum Beispiel über seine gesundheitlichen Beschwerden, die Toller lieber mit Alkohol als mit dem Gang zum Arzt bekämpft. Ob es wirklich Krebs ist, wie der Arzt vermutet, oder ob die Beschwerden von den Flüssigkeiten kommen, die sich Toller in den Wein mischt und die eher wie WC Reiniger als Medizin aussehen, bleibt offen.

 

Ihm zu helfen, versucht auch Esther, die Chorleiterin. Sie sorgt und kümmert sich um ihn, obwohl sie eigentlich seine Liebe will. Es ist die einzige Szene im Film, in der Toller wirklich schroff wird. Er weist sie ab, weil sie in ihm etwas evoziere, was ihm nicht guttue.Der Tag des Jubiläums ist gekommen. Die Kirche ist voll mit den wichtigen Personen aus Kirche und Politik. Alle warten auf Reverend Ernst Toller.

Aus dem Off sind die Worte aus Offenbarung 11,18 zu hören: «Die Völker sind zornig geworden, doch da ist dein Zorn gekommen und die Zeit, die Toten zu richten…»

Toller zieht sich die Sprengstoffjacke unter seinen Talar, die Mary einmal unter Michaels Sachen gefunden hatte. Da sieht er Mary in die Kirche gehen. Er hatte sie nach Michaels Tod begleitet und ihr den Besuch beim Jubiläum explizit verboten. Voll Wut reisst er die Sprengstoffjacke herunter und windet sich Stacheldraht wie eine Dornenkrone um den Leib, bis das Fleisch blutet. Bedeckt mit einem weissen Talar will er sich auf den Weg in die Kirche machen; als Mary ins Zimmer tritt. «Ernst», sagt Mary, und die beiden verbinden sich in Kuss und Tanz.

 

Mag sein, dass man dieses Ende kitschig findet; als unzulässigen Tribut an die Filmindustrie. Oder als Anfang einer bis dahin unerkannten Liebesgeschichte, deren Spuren man im Film erst im Rückblick findet. Oder als Erlösung durch die Liebe, nämlich von den Stilisierungen und Zweifeln des Glaubens. Oder als Erlösung zur Liebe durch den Glauben. Dann nämlich, wenn man in Marys «Ernst» eine filmischen Umsetzung von Jesaja 43,1 erkennt: «Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir.» Oder alles miteinander.

Was für ein wunderbarer Film, der das alles aufscheinen lässt.

Die Meinung der Autorin in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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3 Kommentare
  • michael vogt
    Gepostet um 07:43 Uhr, 23. Juli

    interessant finde ich, dass mehr touristen die kirche als museum besuchen, als gemeindeglieder am gottesdienst teilnehmen. die inhalte der kirchlichen tradition empfinde ich nicht als für sich selbst interessant, sondern als wahrheitsmomente innerhalb eines umfassenderen. ich heisse auch michael, habe mein leben vor fast einem halben jahrhundert einigermassen vollständig oekologisiert, ohne aber mich als „umweltaktivist“ zu verstehen. mich interessiert die frage: mi cha el? wer ist wie gott? wer oder was ist gott vegleichbar? wer ist gott? genauer: was verbirgt sich hinter dem wort gott? daraus ergibt sich, finde ich, das handeln, ohne dass es thematisiert zu werden braucht. entsprechend interessiert mich auch nicht die frage nach dem glauben und dem zweifel, sondern die nach dem, was sich offenbart. „ich bin, wer ich bin“ – interessant auch am ende die vereinigung der beiden: die motivation zum politischen handeln, die animation zum leben überhaupt, nicht aus der traditionell-theologischen elternbindung, sondern aus der wohltuenden spannung zwischen ihr und ihm. im sinne der diversität auch anders, aber paritätisch. habe eben eines der besten konzerte, die ich je auf einem open air gehört habe, mitbekommen, von tash sultana, dier sich weder als frau noch als mann versteht. verzweifelt bin ich nicht. habe ich es mit einem leidenschaftlichen töfffahrer zu tun, schalte ich lässig vom energiesparmodus auf ausbalanciert. dass ich kein kind gezeugt habe, das ich nicht will, verdanke ich dem nicht mir zu verdankenden gottesverständnis. genauer: vor einem jahr waren es noch die drei worte „gott als sexualpartnerin“, die mich en atomo in eine verantwortungsbewusste beziehung zu den meist wesentlich jüngeren open air teilnehmer*innen versetzte. so spreche seit einigen jahren nicht mehr. dieses jahr das sich selbst offenbarende wort „panta en pasin meine partnerin“. eine „erneuerung“ nicht nur, aber nicht zuletzt im sinne einer religionspolitischen kontextverträglichkeit. da gibt es nichts „im kopf zu behalten“. das würde alles herausgeschlagen oder bliebe als hemmung, die ihr gegenteil in sich trägt. plötzlich steht eine frau vor dir, die als model viel geld machen könnte. „hast du eine weisheit?“ fragt sie. „der tod des todes“, antworte ich. „und das ergibt?“ will sie wissen. „wir leben.“ sie und ihre freundin, die, ein lachen im gesicht, daneben steht, hätten wohl gerne ein konkretes ergebnis gehabt im sinne einer handlungsanweisung. das gibt es aber von mir nicht. moral wird leicht zur doppelmoral. dem „nicht“ verdankt sich die moral.

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    • michael vogt
      Gepostet um 07:54 Uhr, 23. Juli

      für näher interessierte: es muss natürlich heissen „versetzten“. und das „aber“ im drittletzten satz gehört weg.

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  • michael vogt
    Gepostet um 09:10 Uhr, 23. Juli

    freut mich, dass greta thunberg den prix liberté bekommen hat. unter freiheit versteht man ja gerne „freie fahrt“. ich würde eher sagen „freie nicht-fahrt“. könnte mir auch ein freies meditationsangebot vorstellen: yoga, zen, christliche kontemplation. . . treffen sich zum gemeinsamen sitzstreik. zum freien bleiben. zur freien auffahrt im sinne eines sich immer tiefer einbohrens in den ort, wo man zur zeit ist.

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