Jahresrückblick: Im Osten nichts Neues. Im Süden auch nicht.

Wir Postmodernen sind der grossen Erzählungen überdrüssig. Ausser zum Jahreswechsel. Dann lassen wir uns, eingehüllt in die Kuscheldecke und mit einem Glas Rotwein in der Hand, das ganze Jahr Revue passieren:

Unser Rückblick

Silvesternacht in Köln, David Bowie stirbt, Terror in Istanbul, Umberto Eco stirbt, Deutschland hat einen neuen Dschungelkönig, Bad Aibling, Leonardo Di Caprio gewinnt einen Oskar – wirklich!, Terror in Brüssel, Hans-Dietrich Genscher stirbt, EU schliesst Flüchtlingspakt mit Erdogan, Schmähgedicht, Panama-Papers, Prince stirbt, Ukraine gewinnt Song Contest, der neue Gotthard wird eröffnet, 50 Todesopfer beim Anschlag auf einen Schwulenclub in Orlando, Muhammad Ali stirbt, Schimanski stirbt, Brexit, Bud Spencer stirbt, Terror in Istanbul, Elie Wiesel stirbt, Terror in Bagdad, Portugal Europameister, Zugunglück in Bari, Terror in Nizza, Putschversuch in der Türkei, Pokémon Go!, Dimitri stirbt, Amoklauf in München, Zugattacke, Ansbach, Rouen, Olympia, Ernst Nolte stirbt, FA18-Absturz, Iphone ohne Kopfhörerstecker, Stan gewinnt die US-Open, Brangelina -> Angelina / Brad, Händedruck-Gate, Schimon Peres stirbt, Burkaverbot, Nobelpreis für Dylan, Leonard Cohen stirbt, Ilse Aichinger stirbt, Trump gewinnt – Hillary nicht, Sharon Jones stirbt, Fidel Castro und Hildegard Hamm-Brücher auch, Aleppo, Weihnachtsmarkt Berlin, George Michaels last Christmas.

Mir fällt auf: Schon wieder haben wir grosse Musiker verloren. Und in China, Indien, Afrika (wo war das Dschungelcamp schon wieder? Ah ja, in Australien!), Südamerika und Russland war ziemlich wenig los.

Wer ist wann ein Rückblick wert?

Natürlich nicht. Aber sie gehören einfach nicht in „unseren“ Jahresbericht – oder nur dann, wenn etwas echt Krasses passiert. Wieviele Afrikaner, Chinesen, Inder, Russen oder Südamerikaner müssen ermordet werden, damit sie es in unseren Jahresrückblick schaffen? 100? 300? 1000? 10000? Wieviele aus welcher Gruppe sind unter welchen Umständen einen Rückblick wert?

Daran sind nicht die Medien schuld, noch nicht einmal Social Media. Wir sind besser informiert denn je. Oder wir könnten es sein. Es interessiert uns einfach nicht so sehr. Medien steuern nicht einfach, was uns interessiert, sondern sind durch unser Interesse gesteuert. Bombardements in Syrien? Trauriger Alltag. Weit weg. Assad? Genau so weit weg und wahlweise – aber eine Meinung hat dazu jeder – das kleinere Übel (a) oder ein Schurke der mit dem Schurken Putin unter einer Decke steckt und die Menschen in Aleppo zu Geiseln macht (b). Boko Haram in Nigeria? War da nicht irgendetwas mit Schulmädchen? Und China? Da ist nie viel los, die haben nur eine Partei – aber wie läuft unser Freihandelsabkommen mit denen? Indien? Kaschmirkonflikt wieder aufgeflackert, oder? Südamerika? Narcos und Olympia (Epischer Wettstreit zwischen Netflix und klassischem Echtzeit-TV). Russland? Putin.

Wir geben uns die Hand

Das ist weniger ein moralisches Problem. Wozu sollten wir uns all die schrecklichen Dinge merken, die irgendwo passiert sind? Das Gehirn schützt die Seele, indem es zwischen gefährlich/ungefährlich, erotisch/langweilig und wichtig/unterhaltsam erfolgreich und folgenreich unterscheidet. Für den einzelnen Menschen mag das aufgehen.

Aber manchmal geraten dadurch unsere politischen und sozialen Parameter durcheinander.  Wenn es einen Terroranschlag in Paris, Brüssel, Orlando, Rouen oder Berlin gibt, dann ist das aus unserer Warte eine Bedrohung der ganzen Menschheit. Wir sind dann Charlie, Paris, Brüssel, LGBT oder sogar wieder einmal Christen. Wir sind zivilisiert. Wir sind säkular. Wir haben Menschenrechte, Frauenrechte, Meinungsfreiheit, christlich-abendländische Werte, ein Burkaverbot, weil wir uns in die Augen schauen, uns die Hand geben.

Diese Erzählung lässt wenig Platz für die anderen. Unsere Erzählungen bestimmen, wer die andern sind. Die andern sind die, deren Geschichten wir nicht hören.  Der Jahresrückblick sagt weniger, was 2016 alles passiert ist und vielmehr, wer wir sind. Wir geben uns die Hand.

 

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9 Kommentare
  • Felix Geering
    Gepostet um 10:17 Uhr, 30. Dezember

    Brillante Analyse.
    Könnte es sein, dass wir Gutmenschen gar nicht so gut sind, wie wir gerne hätten?
    Könnte es sein, dass wir gar nicht so christlich sind, wie wir gerne hätten?
    Könnte es sein, dass es im postchristlichen Abendland nur noch wenige Christen gibt?
    Was ist überhaupt ein Christ?
    – aus theologischer Sicht?
    – aus biblischer Sicht?
    – aus Sicht der Volksseele?
    – und aus Christi Sicht?

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    • Anita Ochsner
      Gepostet um 11:52 Uhr, 30. Dezember

      könnte es sein, dass wir dazu eine QMqualifikationnr. 135,791-Quali brauchen ;- ) – Ohh mein Gott!
      wir üben, oder?

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      • Felix Geering
        Gepostet um 12:10 Uhr, 30. Dezember

        Nicht übersäuern. Darüber nachdenken, wer oder was ein Christ ist.

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    • Felix Geering
      Gepostet um 16:02 Uhr, 30. Dezember

      Wäre hilfreich, wenn die Theologen hierzu etwas antworten könnten.

      Für die Volksseele mache ich einen Vorschlag (Arbeitshypothese): Christ ist, wer als Baby getauft ist, Kirchensteuer zahlt und sich einigermassen anständig aufführt.

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      • stephan jütte
        Gepostet um 16:59 Uhr, 30. Dezember

        vorschlag: christ ist, wer in christi gnade steht und schon jetzt glauben daran darf.

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      • michael vogt
        Gepostet um 23:00 Uhr, 30. Dezember

        mir ist die fragestellung zu anthropologisch und zu moralisch. „moral ist immer doppelmoral“ hat viel für sich. soweit im bewusstsein etwas (auch nur ein bisschen) extrem ist, bildet sich im unbewussten eine gegenreaktion. werde ich gefragt, ob ich christ sei, antworte ich: ich bin im christentum geboren, bin aber von verschiedenen religionen und nicht-religionen beeinflusst. coincidentia oppositorum – die zeit der gegensätze ist vorbei. die gefechte zwischen theismus und atheismus sind von gestern. pointiert gesagt: ein christ ist, wer kein christ ist. mit jesus ist immer alles völlig in ordnung. stimmt das eigentlich?

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  • michael vogt
    Gepostet um 23:35 Uhr, 30. Dezember

    es ist uns in diesem jahr einmal mehr und noch etwas mehr ins bewusstsein gerufen worden, dass wir nicht wissen, wie wir den atomaren müll lagern sollen und was für folgen der klimawandel haben kann. italien bräuchte mehr kinder, um die bevölkerungszahl stabil zu halten. ist das die priorität? ist es fair, kinder in die eingangs charakterisierte welt zu stellen? die feier „500 jahre reformation“ hat ihren fortgang genommen. sie hat auch etwas banales. ich wünschte mir mehr reformation der reformation. nicht rechtfertigung aus glauben, sondern der glaube aus der rechtfertigung. aus dem ja, das vom ursprung der – in ihrerer grausamkeit unbegreiflichen – welt ausgeht. für nicht glaubende oder anders glaubende genau so wie für glaubende. die neuschöpfung, die uns erst zu vertrauenden und erkennenden macht. in diesem jahr hat sich auch led vermehrt durchgesetzt. in meiner empfindung ein ausserirdisches licht. macht es uns mit der zeit zu ausserirdischen? wir müssten sie dann nicht mehr im weltraum suchen… etc

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  • michael vogt
    Gepostet um 00:51 Uhr, 31. Dezember

    das highlight 2016 war für mich das wandeln auf dem wasser auf dem iseosee. nicht dass ich dorthin gegangen wäre. nicht dass ich glauben würde, jesus sei auf dem see genezareth umhergegangen. auf dem wasser wandeln können wir, wo immer wir gerade sind. das ist die alternative zum klimawandel. warum? weil das gehen über einen teppich oder auf einem spazierweg so zur befriedigenden erfahrung wird, die autos und autobahnen, flugzeuge und flughäfen… erübrigt.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 08:32 Uhr, 31. Dezember

    Für mich als Seelsorgerin sind alle ChristInnen, die das sein möchten und/oder sich so verstehen. Und innerhalb dieser facettenreichen und vielschichtigen Glaubensrichtung – als Theologin weise ich da gerne auf die ganze Kirchen-, Dogmen- und Theologiegeschichte hin – ihren Weg suchen und gehen.

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