Kirche von rechts? Über die Notwendigkeit des Hinschauens

Das diesjährige Motto des nunmehr 36. Deutschen Evangelischen Kirchentags in Berlin-Wittenberg lautete „Du siehst mich“ und stellte damit die radikale Erkenntnis Hagars in den Mittelpunkt, dass Anerkennung und Beachtung für die Entfaltung menschlicher Existenz und Würde fundamental wichtig sind. In rund 2700 Veranstaltungen wurden darüber hinaus in drei grossen thematischen Strängen spirituelle und theologische Fragen und politische und gesellschaftliche Themen diskutiert sowie Gottesdienste, Theater, Kabarett und Konzerte veranstaltet.

„Du siehst mich“: Lange und ausdauernd wurde vor dem Kirchentag darüber gestritten, ob Vertreterinnen oder Vertreter der (rechtsgerichteten) „Alternative für Deutschland“ (AfD) ebenfalls eingeladen werden sollen. Die Präsenz der 2013 gegründeten AfD und damit des Rechtspopulismus ist nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Ländern, längst unübersehbar. Hinschauen und wahrnehmen ist also ohne Frage zentral. Aber soll man – und das ist eine der demokratischen Gretchenfragen – sich auch mit der AfD an einen Tisch setzen? Also nicht nur hinschauen, sondern mit ihr auf Augenhöhe in den Dialog treten – und so in die Gefahr kommen, ihre Positionen in den Augen mancher als „anerkennenswert“ zu markieren?

Und gerade aus einer demokratischen Haltung heraus können sich zwei gegensätzliche Antworten ergeben: Für diejenigen, für die sich Demokratie insbesondere durch die Gestaltung demokratischer – fairer und transparenter – Prozesse auszeichnet, ist es selbstverständlich, verschiedene Positionen zum Streit einzuladen. Für das Verständnis einer Demokratie als wertebasiertem Ordnungsrahmen verletzen die durch die AfD vertretenen Anliegen dieses Fundament und sind daher potenziell demokratiegefährdend. Aus einer solchen Position heraus könnte man eine Rechtfertigung für den Ausschluss der AfD aus Diskussionen und Debatten ableiten.

Der Kirchentag, entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg aus der noch jungen demokratisch gesinnten Zivilgesellschaft, repräsentiert in seinem Demokratieverständnis beides: Dialog auf wertebasiertem Fundament. Er will die zivilgesellschaftliche Dimension von Religion und des Protestantismus zeigen: Das Event ist öffentlich, selbstorganisiert (durch einen Verein), pluralistisch, zivil, gemeinwohlorientiert – und konfliktbereit. Deshalb ist die Position des Kirchentags, „dialogbereite“ Personen der AfD für eine Diskussion einzuladen, jedoch bei menschenverachtenden Äusserungen die Diskussion sofort abzubrechen,  ein gangbarer Mittelweg. Und eine besondere Brisanz ergibt sich aufgrund der Selbstbeschreibung von Teilen der AfD, aus einem christlichen Selbstverständnis heraus Teil der Partei zu sein, allemal.

Und so stand der Diskussion am Kirchentag mit der Bundesvorsitzenden der Vereinigung „Christen in der AfD“, Anette Schultner, nichts mehr im Wege, auch wenn die Wogen vor und während des Streitgesprächs mit dem Landesbischof Markus Dröge und der Publizistin Liane Bednarz erwartungsgemäss hochgingen und eine Petition gegen den Auftritt eingereicht wurde.

Doch sind damit die offenen Fragen nicht erledigt, im Gegenteil. Mit dem „Ja zur Diskussion“ ist die Frage nach dem „Wie“ des Dialogs und der Qualität der Auseinandersetzung noch nicht beantwortet. Sven Harmgart drückt dies in einem Blogbeitrag so aus:  „Ja, ein Übermaß an Nächstenliebe kann tatsächlich verkehrt sein. Und zwar dann, wenn man Dialogbereitschaft mit der Naivität verwechselt, sich auf Demagogie einzulassen“.

Es sind drei Aspekte, die in der dringenden Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Kreisen für die Kirchen notwendig sind: Erstens eine Selbstvergewisserung, dass das eigene Selbstverständnis ein politisches sein soll, auch ein politisch-bildnerisches und kein missionarisches. Ein politisch-bildnerisches Verständnis schliesst ein, sich professionell mit qualitativen Anforderungen an multiperspektivische Diskurse auseinanderzusetzen und nicht einfach „Werte zu vermitteln“, wie dies in kirchlichen Kreisen oft zu hören ist und auch als (ambivalente) Anforderung durch weitere gesellschaftliche Kreise an sie herangetragen wird.

Zum zweiten ist die Warnung vor Naivität nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Wie lässt sich zum Beispiel beurteilen, wo Dialogbereitschaft – und damit auch die Bereitschaft, sich letzten Endes auf vernünftige Argumente und Fakten einzulassen und eventuell die eigene Position zu verändern – endet und die (pure) Provokationsstrategie beginnt? Wer sich mit rechten Bewegungen und ihren Erscheinungsweisen auseinandersetzt, eignet sich deshalb nicht nur Wissen über die Entstehung der Bewegungen und ihrer inhaltlichen Positionen an, sondern setzt sich auch mit jahrzehntelang erprobten Kommunikations- und Argumentationsstrategien auseinander.

Drittens ist die kircheninterne Reflexion derjenigen Werteverständnisse, die für die Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Kreisen von Bedeutung ist, zentral nicht nur für die eigene Glaubwürdigkeit, sondern auch für die Bestimmung der Rolle in diesen Debatten. Dazu gehört unter anderem die Reflexion zu Fragen der Menschenwürde, der Anerkennung politischer und rechtlicher Gleichheit aller Menschen, der Auseinandersetzung mit Pluralität und Interreligiosität anhand aktueller Themen wie Migration und Integration. Auch bei den Kirchen und Religionsgemeinschaften gibt es sich überschneidende Positionen und damit auch Anhängerinnen und Anhänger rechtspopulistischen Gedankenguts.

Diese Auseinandersetzung zu führen, mit sich und anderen Teilen der Gesellschaft, würde sie wegführen von der Gefahr einer „Moralagentur“, wie Hans Joas sie kritisch beschreibt, hin zu einer atmenden Instanz, die sich als Gleiche unter  Gleichen differenziert und immer wieder neu den Spannungen zwischen normativ höchst anspruchsvollen Positionen und den Herausforderungen der Sphäre des Politischen stellt.

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5 Kommentare
  • Seraphim Weibel
    Gepostet um 13:26 Uhr, 06. Juni

    Na dann ab in die Niederungen, zu den sauffenden subventionsempfangenden Proleten die einen scheiss geben auf Wahrheit, politische Korrektheit, deren Solidarität erstmal meint dass auch sie was davon haben. Herr mit Demagogen die nur Meinungen durchsetzten und Loyalität vor Selbstachtung stellen. Wer möchte sicht nicht gern mit solchen Leuten umgeben. Ja sie fehlen in der Kirche, dieser linksliberalen altbackenen Moralinstanz. Schon besser die Kirchenoberen setzten sich mit der AFD und Co. anbiedernd an den Tisch, damit sie wenigstens etwas Aufmerksamkeit bekommen. Das geht auch medienwirksam mit Organhändlern, Nazis oder der Mafia, CEO’s. Alle haben sie existenzielle Bedürfnisse worüber sich eine Wertedebatte brechen lässt.

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  • Catherine McMillan
    Gepostet um 13:49 Uhr, 06. Juni

    Ich bin froh um diesen Artikel. Nicht alle, die AfD wählen, sind „saufende, subventionsempfangende Proleten“, und wenn man sie so charakterisiert, werden ihre Vorurteile über linksliberale „Moralinstanzen“ noch gefestigter. Auch wenn ich politisch auf der linken Seite des Spektrums stehe, möchte ich nicht aufhören, Menschen als Menschen zu sehen.

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    • Jeannette Behringer
      Gepostet um 13:20 Uhr, 07. Juni

      Vielen Dank für diese Rückmeldung! Es war meine Intention, dies auszudrücken. Die Kategorien „rechts“ und „links“ sind angesichts des Spektrums, das die AfD (und mit ihr sind weitere soziale Netzwerke und Bewegungen verknüpft), vielleicht auch überholt. Einige Überzeugungen, u.a. in der Flüchtlingsfrage, reichen bis weit in die Mitte der Gesellschaft. Damit will ich sagen, dass in einer demokratische Gesellschaft einerseits die Problemlagen, die von verschiedenen Seiten artikuliert werden, auf ihre Substanz ernsthaft überprüft und diskutiert werden müssen. Andererseits muss aber im Diskurs für alle Beteiligten das Ziel des friedlichen Zusammenlebens in „Gleichheit und Verschiedenheit“ klar sein – auch wenn es unterschiedliche Wege dahin geben kann.

      Mit freundlichen Grüssen
      Jeannette Behringer

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 11:13 Uhr, 07. Juni

    Dieser Beitrag finde ich sehr wichtig und wertvoll. Dass Sie Frau Behringer über diese „demokratische Gretchenfrage“ berichten. Über die Gedanken Werte Haltung darin, aus verschiedenen Seiten beleuchten und wie das angeschaut und angegangen wurde. Auch über das Selbstverständnis der Kirchen das „ein politisch-bildnerisches …“ sein soll. Dazu trägt wohl dieser Beitrag selbst bei.
    Es freut mich, auf diese Weise zu diesem Thema hören zu können. und auch etwas aus dem Kirchentag zu hören.
    (Da gäbe es bestimmt viel Interessantes.) Danke für diesen Beitrag!

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  • Mike Chudacoff
    Gepostet um 13:55 Uhr, 28. Juni

    Danke für Ihren Beitrag. Darf ich amerken, dass links und rechts nach meiner bescheidenen Meinung nicht einfach Sammelbegriffe sind, da sie politische Strömungen bezeichnen, die einen realen Boden haben. Trotzdem: eine politische Partei kann nicht alles abdecken, was einem bewegt – und umgekehrt. Ich gebe mich bei meiner Partei mit einem Deckungsgrad von 60% zufrieden. Nicht alle, die in einer bestimmten Partei sind, sind sofort auszumachen. Und doch: es gibt ihn, den verkappten Faschismus, der niemals salonfähig werden darf. Das sehen wir ausgerechnet in den USA, wo verpönte Haltungen mit dem Einzug von Steve Bannon et al. plötzlich in der Öffentlichkeit sichtbar werden (z.B. die alt-right Bewegung). VertreterInnen der AfD einladen: ja, aber es hängt stark vom Kontext und Gestaltung der Veranstaltung ab. Eine gründliche Vorbereitung auf die Erwiderung rechtspopulistischer Thesen auch aus christlicher Sicht ist, wie Sie schreiben, unerlässlich.

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