Weihnachten feiern

Jesus sei das Kleinkindalter des Christentums gewesen, und wir seien seit Aufklärung und Moderne in seinem Rentenalter angelangt. Der Vergleich stammt vom französischen Schriftsteller Emmanuel Carrère in seinem Buch «Das Reich Gottes». So gesehen erstaune ihn nicht, dass sich die Kirche derart weit von ihrem Ursprung entfernt habe; liege doch zwischen Kind und Rentner ein ganzes Leben. Wirklich erstaunlich findet er, dass die Kirche «nach wie vor die Treue zu diesem Ursprung zu ihrem Ideal erklärt, selbst wenn sie es nicht schafft, treu zu bleiben.»

An Weihnachten wendet sich das Christentum seinem Ursprung in der Geburt Jesu zu. Was macht die Geburt Jesu zu einem Ideal? Und wie könnte man ihm an Weihnachten treu bleiben? Lukas erzählt in seinem Evangelium die Geschichte von der Geburt Jesu. Er hat sie nicht selbst erlebt, er hat nachträglich recherchiert und gibt Kunde von dem, was er an Zuverlässigem zusammengetragen hat. Liest man die Geschichte, wird schnell klar, dass es hier nicht um historische Fakten geht.  Die von Augustus veranlasste Volkszählung und der Weg nach Bethlehem dienen nur dazu, Jesus über seinen Vater Josef in den Strom der davidischen Verheissung einzubetten. Dass eigentlich nicht Josef, sondern der Heilige Geist für die Vaterschaft proklamiert wird, bedeutet für Lukas keinen Widerspruch, sondern legt zusätzlich den göttlichen Ursprung Jesu offen. Das Zwischenspiel bei den Hirten auf dem Feld liefert die nächtliche Kulisse für einen glanzvollen Auftritt der himmlischen Heerscharen samt Engel, der die Hirten zum Stall nach Bethlehem schickt.

Nein, es geht nicht um Fakten. Lukas lädt die Geschichte von der Geburt Jesu mit Bedeutung auf, die man einem neugeborenen Kind unmöglich ansehen kann. Man muss ihm eine Bedeutung zuordnen; es selbst bedeutet noch nichts. Und doch, nachdem Lukas jedes Bild und jedes Detail mit religiösen und himmlischen Bedeutungen aufgeladen hat, verweist er am Ende doch wieder nur auf das Kind. Nicht die Bedeutungen werden zum Zeichen für das Kind; das Kind selbst wird zum Zeichen: Der Engel schickt die Hirten zum neugeborenen Kind, das in Windeln gewickelt ist und in einer Futterkrippe liegt. Und die Hirten gehen zum Stall und finden das neugeborene Kind in der Futterkrippe.

Als ob das Kind das einzige Faktum in der Geschichte wäre: «… es liegt dort elend, nackt und bloss in einem Krippelein». Bloss ein Kind. Das blosse Kind als Ideal des Christentums? Wie finden wir – Rentnerinnen und Rentner in Sachen Christentum – den Weg zurück zum Kind?

Wie sieht das bei mir aus? Für einmal froh über die winterliche Dunkelheit. Die weihnachtlich beleuchtete Stadt strahlt mir in die Augen und ins Herz. Der Baumschmuck an den Vorhangstangen fällt dieses Jahr aus. Ich kann noch nicht auf die Leiter steigen. Das Zimmer wirkt kahl, der Glanz fehlt. Die Caro bekommt ihr Kind. Und wieder wie jedes Mal, wenn in meiner Nähe ein Kind geboren wird, oder wenn ich so einen Menschen-Winzling auf der Strasse sehe, erfüllt mich eine tiefe Freude. Glück, Versprechen und Wunder weiten mein Herz. Es trifft mich wie ein Strahl aus einem Anderswo, den ich mir nicht erklären kann. Ist es das, worauf Weihnachten zielt? Dazu müsste dann aber auch das Entsetzen gehören, wie damals über das tote Kind am Strand. Ein Bild, das sich unauslöschlich eingebrannt hat. Und das nicht Hinhören können, wenn ein Kind gequält wird; und sei es nur im Film. Ich denke an die vielen Darstellungen von Maria mit dem Kind, die ich in Kirchen und Museen gesehen habe. Maria mit dem nachtblauen Mantel und dem Kleid aus Morgenröte. Als zugewandte Beschützerin ihres Kindes, oder wie versunken im Hintergrund, vor dem das Kind aufleuchtet. Mal schutzbedürftiges Kleinkind, mal souverän der Welt zugewandt, als ob es schon predigen würde. Mal lassen sich die Züge des Gekreuzigten darin erraten. Jedes Bild drückt den Glauben seiner Zeit aus.

Als ob wir alle Weihnachten in uns bergen würden, die selbst erlebten, wie die der Jahrhunderte vor uns. Wir tragen alle Freude und Trauer, alle Hoffnung und Resignation, alle Sehnsucht und Gleichgültigkeit, alles Widersprüchliche und Einfache in uns. Und an jedem Weihnachten tritt – warum auch immer – etwas hervor, um diesem Weihnachten seine Bedeutung zu geben. Auch sie gehört zum Strom, der vom Kind in der Krippe ausgegangen ist und mit uns weitergeht.

Ist es nicht verrückt, dass das Christentum in einem neugeborenen Kind seinen Ursprung gefunden hat? Bloss ein Kind. Nur das, sonst nichts? Bloss ein Kind. Es ist genug, es braucht sonst nichts. Bloss ein Kind. Genau darum verliert es nichts von seiner Anziehungskraft, die uns immer wieder in ihren Bann zieht. Bloss ein Kind. Es bleibt uns treu.

Die Meinung der Autorin in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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2 Kommentare
  • michael vogt
    Gepostet um 07:14 Uhr, 24. Dezember

    warum hat kein augenzeuge, keine augenzeugin jesus gemalt. warum ist kein solches bild überliefert. die bibel, ein buch ohne bilder. wäre heute undenkbar. von hirt bis magier hätten alle ihre handys vor den augen. kameras würden einfahren. tonaufnahmen. bevor die dokumentationen unbrauchbar würden, würden sie immer wider kopiert. konserviert. ja, digitalisiert. über jahrtausende. ginge das? nullverlust ist ja nicht ganz nullverlust. wir sähen vielleicht wieder nur wie mittels eines spiegels in rätselhafter gestalt. (1kor 13.12) augustus sieht auf allen bildhauereien etwa gleich aus. darum nehme ich an, dass sie zeitgenössisch sind – was ich allerdings eigenartigerweise nicht verifizieren kann. „lukas lädt die geschichte von der geburt jesu mit bedeutung auf, die man einem neugeborenen kind unmöglich ansehen kann. man muss ihm eine bedeutung zuordnen; es selbst bedeutet noch nichts.“ doch, ich glaube, man könnte dem kind seine bedeutung ansehen. darum vermisse ich – nicht die elektronische wiedergabe – das gemalte bild. es würde womöglich tatsächlich mehr aussagen als tausend worte.
    https://www.google.com/search?q=Augustus&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=2ahUKEwjX6pz0z83mAhWQEMAKHaK_CtoQ_AUoAXoECA8QAw&biw=1366&bih=695

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    • michael vogt
      Gepostet um 07:22 Uhr, 24. Dezember

      und warum vergesse ich am anfang zwei fragezeichen?

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