Christliche Ethik?

Unter dem Titel „sex: haben, machen, sein“ gehe ich dieses Semester mit gut zwanzig Student*innen der Uni Bern der Frage nach, wie eine christlich-theologische Sexualethik konzipiert werden könnte. Mittlerweile bin ich nicht mehr so sicher, dass es eine christliche Ethik überhaupt geben kann.

Christliche Versuche

Natürlich, es gibt sie, die christlich-theologischen Entwürfe: Es gibt das „Familienpapier der EKD“, das Büchlein „Unverschämt schön“ aus dem Herausgeber*innen-Kreis von Peter Dabrock oder die „Pillenenzyklika“, die mittlerweile etwas in die Jahre gekommen ist und vielleicht schon bei der Zangengeburt etwas antiquiiert war. Bloss: Nicht nur die inhaltliche Spannbreite, sondern auch die methodische Divergenz, die in diesen Konzepten zu Tage tritt, lassen es fragwürdig erscheinen, ob man wirklich von einer christlichen Sexualethik sprechen kann. Die evangelischen Entwürfe beziehen sich auf die Bibel, als normatives Fundament. Freilich nicht auf die ganze Bibel, sondern auf einen „roten Faden“, den sie – weniger exegetisch als konstruktiv hineinlesend – durch die Textlektüre der grossen biblischen Erzähllinien auszumachen meinen. Die Bibel, dieses Wunderbuch, expliziert sich aus sich selbst auf die Liebe hin. Wie schön! Sie kommen dabei durchwegs zu anschlussfähigen und erfreulichen Ergebnissen: Achtung vor der Andersheit des Gegenübers, Freiwilligkeit der Beteiligten, gleiche Verwirklichungschancen und Schutz in und durch die Beziehungen, die Bereitschaft zu Treue und Neuanfang und die Ausrichtung auf Lebenszufriedenheit und -dienlichkeit sind dann die Eckpfeiler einer solchen christlichen Sexualethik. Dagegen kann man eigentlich nicht ernsthaft streiten. Das liest sich wie Ratgeberliteratur aus Paarberatungsstellen.

Ganz anders die Pillenenzyklika der Katholiken: Hier wird nicht nur die Schrift, sondern auch die Tradition und die Vernunft gegen „die jüngste Entwicklung, die die menschliche Gesellschaft nimmt“ in Anschlag gebracht. Die Tradition und die Vernunft: Also die heilige Dreifaltigkeit von Augustinus, Thomas und dem kirchlichen Lehramt im Zusammenspiel mit dem Naturrecht und einer radikal deontologischen Ethik. Und weil die damit verbundene Unterscheidung zwischen verboten, geboten und erlaubt selbst für die Menschen guten Willens schwer lebbar oder nachvollziehbar ist – Schwangerschaftsabbruch ist selbst bei Vergewaltigung verboten, Oral- und Analsex auch, Homosexualität sowieso – wird das Seelsorgekonto der Priester und Bischöfe schwer belastet, sodass der Apell mit den Paulusworten beinahe wie ein verzweifelter Gleichschaltungsversuch wirkt: „Ich ermahne euch, Brüder, … daß Ihr alle in Eintracht redet; keine Parteiungen soll es unter euch geben, vielmehr sollt ihr im gleichen Sinn und in gleicher Überzeugung zusammenstehen .“

Ein Versuch am Ort des Geschehens

Es ist immer einfach, an den Versuchen anderer herumzumäkeln. Ein Kollege hat mich letztens an die bittere Wahrheit über Kritik, wie sie im Film „Rattatouille“ so trefflich formuliert wird, erinnert: „Im Lauf der Welt ist die durchschnittliche Scheisse wohl immer noch viel bedeutender als jede Kritik, die sie als solche bezeichnet.“ Nicht nur deshalb, sondern weil ich wirklich glaube, dass Menschen in ihrer Religionspraxis tatsächlich nach Orientierung fragen und ihr Leben nach dem Guten ausrichten wollen, hier also ein eigener Versuch. Mit dem reinen Verweis auf die Grundhaltung der Bibel schaffe ich das nicht und an eine Wahrheit, die der Vernunft einfach offen liegt (beide im Singular!), kann ich auch nicht glauben. Aber wie wäre es denn, wenn anstatt in der Bibel oder einer universalen Vernunft an den Entstehungsorten verbindlicher Moral über deren ethischen Wert nachgedacht würde? Wenn Ethik nicht erklären müsste, inwiefern etwas gut ist, sondern zu verstehen unternimmt, weshalb diesen oder jenen etwas als gut, richtig und empfehlenswert erscheint? Ethik würde dann nicht Normativität generieren, sondern Normativitäten in ihrem lebensweltlichen Sitz rekonstruieren. Das könnte konkret bedeuten, auf eine christliche Ethik zugunsten vieler kirchlichen Ethiken zu verzichten. Jesus soll gesagt haben:

„Wahrlich, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein.
Wahrlich, ich sage euch auch: Wenn zwei unter euch einig werden auf Erden, worum sie bitten wollen, so soll es ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel.
Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Mat 18,18ff.)

Dahinter steht das Bild von Christ*innen, die gemeinsam nach dem Guten und Richtigen fragen und die dabei nicht auf eine feststehende Wahrheit rekkurrieren können, sondern in ihrer Verständigung miteinander Wahrheit finden, die sich in den Himmel einschreibt. Wenn dieses Bild stimmt, dann brauchen wir keine religiösen Ethiken, die allen plausibel erscheinen, sondern Orte (vielleicht Kirchgemeindehäuser, Erwachsenenbildungsworkshops, Konflager?) an denen man gemeinsam um das ringt, was mit guten Gründen gelten soll. Dann halt nicht mehr „in Gottes Namen“, sondern – hoffentlich – „mit Gottes Gnade“… Eine christliche Ethik, eine christliche Sexualethik, wäre dann ein Fragment unter vielen Versuchen, wie Christ*innen ihr Leben zu führen versuchen und dabei aufeinander ansprechbar blieben.
Christlich kann an der Ethik wohl „nur“ der Weg zu dieser Ethik und nicht mehr der Inhalt oder die daraus abgeleitete Schlussfolgerung sein. Der Himmel braucht jedenfalls keine christliche Ethik, sondern jeweils zwei oder drei, die sich einig werden wollen. Bisweilen kommt das in den besten Familien vor.

Die Meinung des Autors in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

Blog abonnieren     Alle Beiträge ansehen    

Diesen Beitrag fand ich...
  • wichtig (29)
  • inspirierend (36)
  • fundiert (20)
  • frech (0)
  • berührend (0)
  • langweilig (2)
  • falsch (0)
  • schlecht (3)
  • lustig (0)
27 Kommentare
  • Michel Müller
    Gepostet um 08:57 Uhr, 12. April

    Eine sehr elegante und für mich überraschende Anwendung dieses Matthäus-Verses und eine Einladung zu einer evangelischen Debattenkultur als moderne „Prophezey“.

    6

    3
    Antworten
  • Anke Ramöller
    Gepostet um 10:02 Uhr, 12. April

    Ja, „Orte, an denen man gemeinsam um das ringt, was als das Gute gelten soll“ -das genau erscheint mir auch so wesentlich. Und das wünsche ich mir für die (reformierte) Kirche und für das Christentum. Das „Hirschli“ mit dem „Salon um sechs“ ist für mich z.B. ein solcher inspirierender Ort. Oder dieser Blog ist es, ….könnte es für meinen Geschmack noch mehr sein, indem mehr LeserInnen konstruktive Kommentare schreiben und in ihrer Orientierung, in ihren Fragen und ihren Erkenntnissen, in ihrer Befindlichkeit erkennbar werden!

    2

    0
    Antworten
    • Alpöhi
      Gepostet um 11:45 Uhr, 12. April

      >> dieser Blog ist es, ….könnte es für meinen Geschmack noch mehr sein

      Solange sich hier fast ausschliesslich das vom H50 bezahlte Personal gegenseitig auf die Schultern klopft, wird sich daran nicht viel ändern 🙁

      4

      3
      Antworten
      • Stephan Jütte
        Gepostet um 11:54 Uhr, 12. April

        …dieser Eindruck, den wohl auch Anke Ramöller empfindet, wenn sie sagt, dass es mehr sein könnte, kann leicht entstehen, wenn man dabei „nur“ auf die Diskussionen in dieser Kommentarfunktion achtet. Allerdings ist das nur ein Auschnitt eines grösseren und bunteren Bildes, das sich aus ziemlich vielen Social Media- Interaktionen, Mails und bisweilen sogar Telefonaten und Treffen zusammensetzt. Das H50 bezahlt übrigens keine Löhne. Das tut die Reformierte Landeskirche des Kantons Zürich, zu der Sie selbst, wie ich vermute, auch gehören 😉

        4

        0
        Antworten
  • Alpöhi
    Gepostet um 12:10 Uhr, 12. April

    Ein Goi (Nichtjude) kam zu Rabbi Schammai und sprach: „Mache mich zu einem Juden unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Fuss stehe.“ Rabbi Schammai hielt ihn für einen Spinner und stiess ihn weg. Daraufhin ging der Goi zu Rabbi Hillel und sprach: „Mache mich zu einem Juden unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Fuss stehe.“ Rabbi Hillel antwortete: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an. Das ist die ganze Tora, alles andere sind Kommentare. Geh und lern sie!“
    http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/27789

    Der Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (3. Buch Mose 19,18) enthält daher auch die gesamte christliche Ethik, inklusive Sexualethik.

    Nun ist nicht unwichtig:
    Rabbi Schammai galt als streng und reizbar https://de.wikipedia.org/wiki/Schammai
    Rabbi Schammai war eher (ich sag mal) „verbotsorientiert“. Für ihn war der Ewige ein gestrenger, strafender Gott. Darum heisst es z.B. in den Psalmen: „Wer den Herrn fürchtet, …“
    Rabbi Hillel dagegen galt als weitherziger, geduldigr Lehrer https://de.wikipedia.org/wiki/Hillel
    Rabbi Hillel war eher (ich sag mal) „grosszügig orientiert“. Für ihn war der Ewige ein verständiger, grosszügiger Gott. Darum heisst es in der Bibel „Ich liebe deine Weisungen (Gebote)“.
    Hillel war also aus einer ähnlichen Denkrichtung wie Jesus.

    Ob ich Gott als strengen Vater / strenge Mutter oder als grosszügigen Vater / grosszügige Mutter sehe – also mein Gottesbild – hängt massgeblich und ganz direkt davon ab, wie ich meinen eigenen Vater, meine eigene Mutter erlebt hatte. Und die persönliche Ethik, die jemand hat, ergibt sich zwangsläufig aus seinem Gottesbild.

    1

    0
    Antworten
    • Stephan Jütte
      Gepostet um 12:56 Uhr, 12. April

      Danke für das anschauliche Beispiel, nachdem ich Ihr Anliegen nun besser zu verstehen meine. Nun meine Frage dazu: Lebt Ihr Argument von der Autorität und dem guten Ruf Rabbi Schammais oder würden Sie beanspruchen, dass die Goldene Regel, die er als Summe der Tora veranschlagt jedem Menschen qua performativem Selbstweiderspruch einleuchten müsste? Wenn Sie sich nämlich von der zweiten Variante her legitimieren, dann ist das weder im Kern noch dem Gehalt nach ein religiöses Argument, sondern ein Anspruch an eine – wie Sie dann annehmen müssen – allgemeine Vernunft. Volker Gerhardt hat religiöse Argumente in öffentlichen Debatten deswegen zurückgewiesen, weil sie von ihrem Erkenntnisweg her nur partikular, aber nicht allgemein gelten können. Habermas, der die Validität religiöser Argumente ebenfalls für defizitär hält, wollte sie nicht aus Diskursen ausschliessen, sondern übersetzen.
      Nun frage ich mich aber, ob ich Ihnen überhaupt folgen kann, wenn Sie behaupten, dass in diesem Satz die gesamte christliche Ethik enthalten sei. Was bedeutet dieser Satz beispielsweise angesichts ethischer Fragen, die sich mit der Forschung an Stammzellen verbinden? Das hängt doch wesentlich davon ab, wie sie definieren, wer oder was ein Nächster sein kann? Oder in der Abtreibungsfrage? Oder bei der Verwahrung von Straftätern?
      Ihre Herleitung könnte lauten:
      Niemand kann wollen, getötet zu werden.
      Bei der Abtreibung wird das Kind getötet.
      Abtreibung ist gemäss christlicher Ethik nicht okay.
      Er könnte aber auch lauten:
      Niemand kann in seiner physischen und psychischen Selbstbestimmung eingeschränkt werden wollen.
      Schwangerschaft ist eine physische und psychische Einschränkung.
      Abtreibung muss allen Schwangeren freigestellt sein.
      Die goldene Regel ist eben ein Prinzip, keine Ethik.

      3

      1
      Antworten
      • Alpöhi
        Gepostet um 18:16 Uhr, 12. April

        „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ – das ist zunächst mal vernünftig, es geht in dem Satz nicht um Religion; das haben Sie richtig erkannt. Aber in der Tora stehen ja ganz viele Dinge, die einfach „vernünftig“ sind; und wer Gott lieben und ihm nachfolgen will, wird wohl kaum darum herum kommen, die Weisungen der Tora ernst zu nehmen.

        So, wie der Satz in der Tora steht („Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“) scheint er mir übrigens umfassender als in der Formulierung von Rabbi Hillel. In der Tora ist es positiv formuliert, man soll nicht etwas unterlassen, sondern etwas tun.

        Ich pflege zu sagen: Wenn man etwas nicht mit zwei Sätzen erklären kann, kann man es auch nicht in zwei Stunden. Und darum gefällt mir der Ansatz von Rabbi Hillel: „In dem einen Satz ist alles enthalten; alles andere ist Kommentar.“ – Man könnte nun länglich diskutieren, was eine hilfreiche Ethik im Einzelnen sagt, beispielsweise zu Stammzellenforschung oder Abtreibung. Allein, die Diskussion würde ins Uferlose gehen, weil man verschiedene Meinungen haben kann.

        Beispiel Abtreibungsfrage: Ist es nun besser, wenn ein Kind zur Welt kommt aber in „unmöglichen“ Verhältnissen leben muss, oder ist es besser, wenn es gar nicht erst auf de Welt kommt? Die Antwort fällt mir nicht leicht. Ich weiss nur: Das Kind fragt niemand. Das Kind können wir naturgemäss erst fragen, wenn es da ist. Wenn es aber da ist, wird es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen: „Ja, auf jeden Fall möchte ich leben!“

        Ein wichtiger Wegweiser scheint mir die Frage: „Wer profitiert von einem bestimmten Sachverhalt?“ (z.B. Stammzellenforschung, Abtreibung, usw.) – Es ist durchaus nicht so sicher, dass die betroffenen Menschen diejenigen sind, die profitieren. Vielleicht entpuppt sich die „neue Wundertüte“ auch als Büchse der Pandora. Und vielleicht geht es bei der Stammzellenforschung auch ganz zentral (aber verheimlicht) darum, dass Forschung und Pharmaindustrie eine neue Spielwiese bekommen um sich auszutoben. Die Menschen sind dann nur Mittel zum Zweck.

        Ich bin mir nicht sicher, ob alles was gemacht wird immer den Menschen dient. Oder doch: Ich bin mir sicher, dass da viel Schindluder geschieht.

        4

        0
        Antworten
      • Carsten Ramsel
        Gepostet um 14:51 Uhr, 14. April

        Lieber Stephan, werter Alpöhi,
        ich möchte die Diskussion, ob es sich bei der Goldenen Regel um ein Prinzip (Bedingung einer Norm) oder Ethik (Norm) gerne verschieben. Verwundert stelle ich allerdings fest, dass die Goldene Regel inzwischen in einer ganz bestimmten Weise generalisiert interpretiert wird. Bislang dachte ich immer, die Goldene Regel würde allein besagen, dass das was ich nicht möchte, wie jemand mit mir umgeht, so solle auch ich nicht mit jemand anderen umgehen. Daraus leitet sich allerdings nicht zwangsläufig ab, dass niemand eine bestimmte Handlung nicht wollen kann.

        Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen: Jede*r, der/die mich kennt, weiss, ob meiner Direktheit, die Dinge beim Namen zu nennen, Missstände anzusprechen, und gutes Handeln zu loben. Wenn jemand mit mir so umgeht, finde ich das gut. Gerade in der Schweiz wird diese Direktheit jedoch von vielen Menschen als unhöflich wahrgenommen. Wenn ich also von mich auf andere schliesse, begehe ich den rücksichtslosen Fehler, dass andere Menschen vielleicht ganz anders behandelt werden wollen als ich. Habe ich etwas nicht verstanden? Sonst frage ich mich, woher die Generalisierung (niemand kann nicht wollen…) kommt?

        1

        0
        Antworten
        • Alpöhi
          Gepostet um 09:21 Uhr, 16. April

          Guter Punkt! Um es mit einem Bild zu illustrieren: Die Länge einer Minute hängt davon ab, ob man auf dem Klo sitzt oder vor der Klotür warten muss 😉

          In Bezug auf Ethik müsste das doch heissen: Der auf dem Klo soll Rücksicht nehmen auf den vor der Tür, und der vor der Tür soll Rücksicht nehmen auf den auf dem Klo, oder?

          Wenn „Ethik“ heisst: Rücksicht nehmen auf die Mitmenschen, und zwar im konkreten Einzelfall – dann sind wir doch nicht so weit von der goldenen Regel, dünkt mich.

          0

          0
          Antworten
  • Alpöhi
    Gepostet um 12:17 Uhr, 12. April

    Was eine hilfreiche Sexualethik angeht – sei sie nun christlich oder nicht – müsste sie den Menschen helfen, ihr Leben in Würde zu leben.

    Fast alle Menschen sehnen sich nach einer stabilen „Zweierkiste“, in der man sich treu ist – zumindest, solange die Beziehung nicht grundsätzlich in Frage gestellt ist.
    Eine hilfreiche Sexualethik müsste also den Menschen helfen, dass die „stabile Zweierkiste“ gelingen kann.
    Eine Sexualethik, die Promiskuität gutheisst, ist damit grundsätzlich nicht kompatibel. Es ist wahrscheinlich eine schlechte Idee, die jungen Menschen zum „Ausprobieren“ ihrer Sexualität zu ermuntern. Ich halte es für hilfreicher, wenn man die jungen Menschen ermutigt, mit Sex zu warten, bis ein junger Mensch den Mann oder die Frau gefunden hat, mit dem / mit der man alt werden möchte.

    Das heisst nicht notwendigerweise, dass man ein Leben lang zusammenbleibt. Es heisst aber, dass man mit Beziehungen achtsam umgeht – achtsamer, als es heute üblich ist.

    Damit wäre schon viel gewonnen.

    Zu „Pille oder nicht“: Diese Frage relativiert sich in einer „stabilen Zweierkiste“ ein rechtes Stück von selbst. Weil es in einer „stabilen Zweierkiste“ kein Untergang ist, wenn sich ein Kind anmeldet.

    4

    0
    Antworten
  • Tobias Frehner
    Gepostet um 12:24 Uhr, 12. April

    Christiliche Ethik wird so zu einer formalen Vernunfttätigkeit und verliert ihren materialen Anspruch fast gänzlich. Ethik muss dann material noch Anstand heissen, weil ihr moralischer Anspruch auf den Diskurs beschränkt werden kann. Diesen Ruf nach antitotalitärer Autonomie (der verschiedenen kirchlichen Ethiken) verstehe ich gut und teile ich auch bis an einen gewissen Punkt. Pluralität ist ein Fakt und diesem muss man gerecht werden. Damit gibst du aber auch etwas preis: Nämlich das Anliegen einer verbindenden Erzählung. Die Frage ist doch, ob eine Institution vom Gedanken getragen werden kann, dass unsere Gedanken nicht dieselben sind. Wie das nicht in eine grenzenlose Ausdifferenzierung führen soll, die von einer einzelnen Institution – wie der reformierten Kirche – nicht mehr zu stemmen ist, leuchtet mir nicht ein. Dein kommunitaristisches Anliegen teile ich wohl, dennoch habe ich die Illusion, dass eine Erzählung auf einer Ebene, die mehr als die 2-3 umfasst, möglich und nötig ist.

    7

    0
    Antworten
    • Stephan Jütte
      Gepostet um 13:14 Uhr, 12. April

      Lieber Tobias,
      ich sehe das anders: christliche Ethik wäre dann an den Entstehungsorten der materialen Ansprüche selbst zu betreiben. Es geht nicht nur um ein Verfahren, im Sinne einer kommunikativen Vernunft, sondern es geht entscheidend darum, dass dieses Verfahren sich auf den Zusammenhang bezieht, der Ethik-produktiv ist. Andernfalls würde die Ethik selbst zu einer Produzentin normativer Werte verkommen, was sie aber nur sein könnte, wenn es ein Prinzip gäbe, dem sie zu folgen hätte: Eine Vernunft, eine Offenbarung – und beides in Klarheit.
      Da dies nicht der Fall ist, kann christliche Ethik nur zweierlei: Sie kann auf die moralischen Grundsätze, wie sie in Schrift, Tradition und Gemeinde vorliegen reflektieren und sie Darstellen, sie hinsichtlich ihrer Konsistenz kritisieren und sie kann jene Gehalte systematisieren und so zur Sprache bringen, dass sie auch unter öffentlichen Geltungsbedingungen verstehbar sind.
      Die grenzenlose Ausdifferenzierung ist solange kein Problem, wie der Anspruch an die einzelnen Moralsysteme aufrecht erhalten wird, dass diese ihre eigene Partikularität UND ihren universalen Geltungsanspruch reflexiv mitführen müssen.
      Herzlich!

      4

      5
      Antworten
      • Anke Ramöller
        Gepostet um 14:25 Uhr, 12. April

        Wie wäre es denn, wenn man „die“ Erzählung/en (siehe oben Beitrag auch von Tobias Frehner) so ernst nimmt, dass sich aus der Auseinandersetzung mit ihnen das Neue konstituiert, das jeder Mensch braucht, um sich in seiner Einzigartigkeit als wahrgenommen zu erleben? Für mich sind es immer die Erzählungen und die (selbst) erlebten Geschichten, aus denen sich die Vorstellungen vom Guten Leben speisen. Ohne sie bleibt ein Diskurs für mich relativ blutleer. Wenn beides zusammenkommt, dann entstehen die neuen Perspektiven jeder Generation. Ich möchte nicht auf eine Zeit vor mir zurückgestutzt werden.

        5

        0
        Antworten
        • stephan jütte
          Gepostet um 14:55 Uhr, 12. April

          würde ich gerne liken, was technisch immer noch nicht geht ;-), und finde, dass du damit genau das triffst, von dem ich mir wünsche, dass es nicht nur individuell sondern auch in gemeinschaften passiert. lg

          2

          1
          Antworten
      • michael vogt
        Gepostet um 15:09 Uhr, 12. April

        das prinzip ist meines erachtens die liebe, die sich als sich selbst offenbarende wahrheit vermittelt und damit die offenbarungsgestütze vernunft kreiert, die veschiedenste, nämlich alle erscheinungsformen der vernunft integriert. ich stimme Ihrem vorredner zu, dass dies auch in einem sehr grossen kreis geschehen muss, damit die ethischen materialien alle zuammenkommen. „siehe die güte und die strenge“, so der in vielem eben doch, finde ich, beinahe unschlagbare paulus. es ist ja tatsächlich so, dass das leben, wenn wir in sachen sexualtität eine fehler machen, sehr hart werden kann. andererseits: das keinen grösseren fehler machen kommt aus der gelassenheit. „sehr schön, herr jütte!, war mein gedanke am anfang Ihres beitrags: eine nur christliche sexualethik ist nicht einfach so wünschenswert. christlich ist in meinen augen das, was der inwischen 2000 jahre alte christus uns ermöglicht. da er sich aber seit sehr langer zeit in lebendigem und fruchtbarem austausch mit allen andern befindet, ist er, soweit ich es wahrnehmen kann, selbst der meinung, dass diese inhalte nun nicht mehr einfach nach ihm benannt werden können. für die, welche das für eine spinnerei halten, ein aspekt: auferstehung ist unsere interpretation, zb der geschichten und worte, die von jesus überliefert sind. das kommt auch Ihrer auffassung entgegen, dass, was wir tun, in den himmel eingeschrieben wird. das will ich auch gar nicht in abrede stellen. grundlegender als dieses anthropologische ist aber meines erachtens das spezifisch theologische. oder, genauer gesagt: warum habe ich im pauluszitat das wort gott weggelassen? das wort gott ist nicht biblisch. es waren unsere vorfahren hier im westen, die, was sie umgab, good oder god nannten, was später, die vollständige integration des rationalen bewusstseins repräsentierend, sich zum wort gott entwickelte. es ist, um es krass zu sagen, für unseren körper von bedeutung, was für ein wort wir denken oder aussprechen. befreiend ist das wort, das sich selbst offenbart. damit kehrt sich das in den himmel einschreiben um. das wort schreibt sich, im gleichnis gesagt, sozusagen in uns ein. nicht als einziger, aber als grundlegenderer vorgang. ähnlich entlastend und damit erlösend, befreiend wie die intuition. weder individualistisch (wozu, finde ich, Ihre argumentation eine etwas zu grosse tendenz hat, kleine gruppen) noch kollektivistisch (und gleich von einem anthropologischen oben herab wie in der von Ihnen dargelegen katholischen version). panta en pasin, die personähnliche alles verändernde vereinigung von allem mit allem, in der sich auch das wort gott als stückwerk erweist, hinter die der kyrios einen schritt zurücktritt und die eine uns eine freie beziehung zu sexualpatnerinnen und sexualpartnern ermöglichende sexualpartnerin oder ein entsprechender sexualpartner ist. irreduzibel. was wohl mit dem wort „hundertfach“ gesagt ist. sola scriptura und eben gerade darum nicht sola scriptura. (1kor 15.28 und 13.9-12, mk 10.30 und synoptische parallelen)

        2

        0
        Antworten
        • michael vogt
          Gepostet um 15:22 Uhr, 12. April

          . . ., und die . . .

          1

          0
          Antworten
        • Alpöhi
          Gepostet um 18:22 Uhr, 12. April

          Sorry, ich verstehe kein Wort. 🙁 Können Sie das nicht kurz und knackig?

          0

          2
          Antworten
          • michael vogt
            Gepostet um 06:28 Uhr, 13. April

            coincidentiologische sexualethik mit dogmatischer implikation kann ihrem wesen nach nicht das sein, wonach Sie fragen – aber ich empfehle eine zeitreise 13’000’000’000 jahre zurück bis zum urknack 😉

            2

            0
          • Alpöhi
            Gepostet um 09:23 Uhr, 13. April

            Viiiel besser 😉 jetzt können wir noch an den Fremdwörtern feilen 😀

            3

            2
          • michael vogt
            Gepostet um 18:48 Uhr, 13. April

            🙂 feile mit weile 😉

            1

            0
        • michael vogt
          Gepostet um 21:13 Uhr, 13. April

          erster satz: gestütze > gestützte

          0

          0
          Antworten
          • michael vogt
            Gepostet um 01:49 Uhr, 14. April

            die assoziation zum verschreiber „ein wahres geschütz von vernunft“ erinnert daran, worauf es, finde ich, hinausläuft, die coincidentia oppositorum von vernunft und offenbarung, die sich selbst offenbarende vernunft

            0

            0
  • Jürg Bräker
    Gepostet um 13:20 Uhr, 12. April

    In diesem Verständnis versuchen wir heute in vielen der täuferischen Traditionen das Ringen um das richtige Binden und Lösen zu leben; darum die Betonung der hohen Autonomie der Lokalgemeinde: Sie soll ihre Normen dort erarbeiten, wo ein Gespräch real möglich ist. Doch kann ich nicht darüber hinwegsehen, dass in solchen Gemeinschaften auch wesentlich strikter eingefordert wird, dass die Einzelnen sich den Normen anpassen, auf welche sich die Gemeinschaft geeinigt hat. Obwohl man sich eigentlich der relativen, situativen Gültigkeit bewusst sein müsste, wenn die Gemeinschaft die Prozesse selbst durchlebt hat, welche zu diesen Entscheidungen führen, wird einander oft die Freiheit innerhalb der lokalen Gemeinschaft nicht zugestanden, dass wir uns fortschreibend in die Wahrheit einfinden. Trotzdem würde ich diesen Weg nicht aufgeben wollen, sondern die aus unterschiedlichen Lesungen resultierende Pluralität noch ernster nehmen.

    6

    0
    Antworten
  • Reinhard Rolla
    Gepostet um 18:41 Uhr, 13. April

    Ich sehe das so: Jesus hat das viel gerühmte, aber auch viel in Frage gestellte alttestamentliche „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ unter eine Art „Prisma“ gelegt. Und dabei sind seine „Seligpreisungen“ (Mat. 5, 3-9) herausgekommen alias die verschiedenen „Sparten des Liebens“ sichtbar geworden. Genialer und allgemeingültiger geht es wohl nicht! G r u n d l a g e n j e d e r E t h i k würde ich das nennen. Was fehlt, war schon damals und ist noch heute deren konsequente UMSETZUNG beziehungsweise das Training der dafür nötigen „Seelenmuskeln“. Dieses lebenslange Training wäre meiner Meinung nach die Hauptaufgabe der Christen / Kirchen im Unterricht, in der Seelsorge und im Gottesdienst, Vor allem, aber nicht nur mit dem – jesuanischen – Bick auf die K i n d e r und deren Entwicklung.. Auch wenn das in unserer heutigen Welt leider einer Sisyphusarbeit gleichkommen dürfte.

    2

    0
    Antworten
    • Carsten Ramsel
      Gepostet um 14:39 Uhr, 14. April

      Herr Rolla, vielen Dank für Ihren interessanten Beitrag. Könnten Sie einem Nicht-Christen bitte erklären, aus welchen Gründen diese Seeligpreisungen nicht nur genial sondern auch noch allgemeingültig (Der Komparativ ist bei dem Wort allgemeingültig m.E. wenig sinnvoll.) und damit Grundlagen jeder Ethik sein sollen? Als jemand, der dem Leben nach dem Tode skeptisch gegenüber steht, wirken derartige Versprechen eher befremdlich. Vielen Dank!

      0

      0
      Antworten
      • Reinhard Rolla
        Gepostet um 19:55 Uhr, 14. April

        Lieber Carsten, Sie haben natürlich Recht: „allgemeingültig“ kann man nicht steigern. Und dann habe ich leider entgegen meiner Gewohnheit nicht konsequent genug relativiert bzw. deutlich gemacht, dass die Einschätzung der „Seligpreisungen“ meine ganz persönliche Meinung und Überzeugung ist, Für mich sind diese Seligpreisungen – ohne den jeweiligen zweiten Teil („…denn sie werden…“), der nach „Belohnung“ oder gar nach „Vertröstung“ schmecken kann – das Beste, was ich punkto „Menschwerdung des Menschen“ (wie ich das nenne) kenne. Die „Zehn Gebote“ – wie Wachs in den Händen von Egoisten und Machtgierigen! Die „Menschenrechtserklärung“ – kaum das Papier wert, auf dem sie geschrieben sind! Betreffend „Seligpreisungen“ gehört auch Jesu Einstellung dazu, dass kein Mensch „müssen muss“, Wer aber v o r w ä r t s kommen möchte in Sachen „Menschlichkeit“, dem fächert Jesus das „Lieben“ auf in die Anforderungen, die dafür erfüllt werden müssen. Die entsprechenden Fähigkeiten muss natürlich t r a i n i e r t werden und das braucht Geduld – und bei Überforderung auch genügend Selbstliebe und Verständnis für die eigenen Schwächen. Ich habe mich – als Pfarrer – fast zwangsläufig immer mehr von vielen lehren unseren Kirchen entfernt, die immer noch zu wenig begriffen haben, um was es Jesus ging. In meinem Büchlein „War Jesus schwul? 100 unerschrockene Fragen und Antworten zu Bibel, Kirchen und Religionen“ gehe ich ausführlich darauf ein. Vielen Dank übrigens für Ihre Rückmeldung! Übrigens nenne ich mich lieber „J e s u a n e r“ als Christ, weil „Christ“ weitestgehend auf Paulus zurück geht und nicht auf den historischen Jesus. Gruss Reinhard Rolla

        0

        0
        Antworten
  • Friederike Kunath
    Gepostet um 00:52 Uhr, 14. April

    Sehr schön, die Vorstellung gefällt mir. Die Erwachsenenbildungsworkshops stelle ich mir gern vor, dass muss spannend sein … Danke für die Inspiration!

    2

    1
    Antworten

Antwort schreiben zu stephan jütte Abbrechen