Das weisse Schaf

Ein kleine Erinnerung an meine Sommerferien und ein Schnappschuss der besonderen Art: Was macht dieses weisse Lamm inmitten schwarzer Ziegen?

Ich stand auf einer kleinen Erhebung und beobachtete, wie Antonio, der Gehilfe des Hofes, eine Herde von circa 200 schwarzen lukanischen Ziegen in einer langen Kolonne Richtung Gehege trieb. Faszinierend der Anblick des Spektakels, die Rufe des Hirten, das Bellen der Hunde, das Blöken der Tiere, die Düfte. Es war schon immer so.

Die Tiere haben gerade einen Marsch von einigen Kilometern hinter sich, haben sich an den Pflanzen der hiesigen Macchia genährt, sind über die Calanchi geklettert, und die Weibchen sollen nun gemolken werden. Margherita, ihr Sohn Francesco und der Gehilfe produzieren neben Fleisch auf althergebrachte Art und mit einfachsten Mitteln auf diesem kleinen abgelegenen Hof würzigen Käse aus Schafs- und Ziegenmilch. Wert und Preis korrespondieren auf keine Weise. Kein Etikett würdigt die hingebungsvolle Handarbeit, die in diesen Produkten steckt; ob Cacioricotta (aus Ziegenmilch mit einem kleinen Anteil Schafsmilch), Pecorino (umgekehrte Mischung), gelagert, als Primosale oder als Scallato.

Unbeschreiblich auch die Gastfreundschaft, mit welcher uns Margherita und Franco auch dieses Mal fast überschütten. Die alte Frau ist vor einem Jahr Witwe geworden und führt das Leben auf dem Hof unbeirrt weiter. Eine süssliche Traurigkeit stand in ihrem Gesicht, als sie uns sagte: «Aber er war doch noch so jung.» Wirklich herzrührend; ihr Mann war mit 82 Jahren gestorben …

Nachdem ich einige Reitversuche auf einem roten Haflinger-Pferd (Cavallo Aveglienese) unternommen habe, wurde ich vom Geräusch der herannahenden Herde angelockt und habe mich auf besagte Erhebung begeben. Es war bereits Sonnenuntergang und die sonst so liebenswürdige Margherita wurde zum General (wie der Sohn liebevoll bemerkt); nicht müde zu mahnen, dass man sich jetzt ans Melken machen müsse.

Weiss auf Schwarz

Die Schafe, ebenfalls etwa 200 an der Zahl, stehen bereits eng zusammengepfercht in ihrem Gehege. Nun treffen die Ziegen ein und werden nach Geschlecht getrennt. Meine Freundin ruft: «Ist da etwa ein Lamm inmitten der Ziegenkolonne?» Tatsächlich. Schwarze Schafe gibt es auch im Süden. Aber ein weisses in einer schwarzen Herde fällt ebenso auf. Ab diesem Moment haben wir das Lamm nicht mehr aus den Augen gelassen.

Francesco klärt uns auf: Das Lamm wurde im Frühling geboren und hat durch einen Unfall seine Mutter verloren. Der Bauer hat daraufhin das Tier einer Ziege anvertraut und – oh Wunder: Die schwarze Geiss hat das Lamm akzeptiert und gesäugt. Was ist nun aus ihm geworden? Keine Frage, das Tier fühlt sich als Ziege.

Das Lämmchen verhält sich wie seine schwarzen Geschwister. Springt herum, verhält sich kapriziös, versucht mutige Sprünge und wirkt aufgeweckt. Ganz anders seine Artgenossen, mit gesenktem Kopf, eng zusammenstehend, blökend. Man hat den Eindruck, Schafe harren der Dinge und sind eher geneigt, folgsam zu sein und sich ihrem Schicksal zu ergeben, während eine Ziege viel aktiver, reaktiver wirkt. Sie sind weniger berechenbar und wendig. Noch nie hatte ich diesen Kontrast so klar vor Augen. Kein Wunder, verband man Ziegen, besonders diese schwarzen Geschöpfe, noch dazu mit diesen sonderbaren Augen, die eine quer stehende Pupille aufweisen, seit alters mit dem Teuflischen. Schon vorchristlich: Bestätigt hat sich mir das, als ich Tage darauf in Aliano Karnevalsmasken mit Ziegengesichtern gesehen habe, die, so erklärte man uns, aus griechischer Zeit stammen. Man versteckt sich zu Karneval hinter teuflischen Gesichtern. Manch einer wird dann plötzlich ganz anders, als man denkt …

Apropos – Wie war das? «Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich so selten dazu.» So habe ich mit dem Schreiben über meine Beziehung zum Süden begonnen. Auf seltsame Weise wurde ich beim Anblick dieses Schafes mit seiner Geschichte daran erinnert. Ein wunderbarer Schnappschuss einer Erinnerung, die ich um nichts missen möchte. Einen langen Abend lang haben wir über die Symbolik des Bildes nachgedacht.

Die Ziege im Schafspelz

Erstaunlich ist: Die Schafe ignorieren das Lamm unter den Ziegen komplett und das Schaf seine Artgenossen umgekehrt ebenso. Es folgt, so der Bauer, in allem den Ziegen und verhält sich entsprechend. Es habe eigentlich sogar ein vergleichsweise besseres Leben, denn Ziegen wissen, wo es gutes Fressen gäbe, knabbern nur die guten Teile an, während das Schaf einfach mäht, was ihm unter die Zähne kommt. Indem das Tier seine vermeintlichen Artgenossen imitiert, wird es entsprechend auch eher ein athletischeres Leben führen und mager bleiben. Suggestion ist eben alles.

Was aber wohl aus dem Schaf werden wird? Vermutlich kommt ihm das Schlachtmesser zuvor, bevor es Gelegenheit hat, sich seiner Andersartigkeit bewusst zu werden. Das wäre etwa der Fall, wenn es an seine physischen Grenzen kommt und mit den schwarzen Teufeln nicht mehr mithalten kann. Ganz zu schweigen von der Reproduktion.

Gedanken eines Suchenden

Und bei uns Menschen? Ist es nicht gerade eine Lebensaufgabe, herauszufinden, wer man wirklich ist und wessen Leben man wirklich lebt? Seine wahre Natur zu erkennen, ist nicht selten ein Prozess, der schmerzhaft werden kann, weil man sich unter Umständen von einigen Dingen distanzieren müsste. Da braucht es die Wachsamkeit und Agilität einer Ziege, um die Klippen und Vorsprünge nicht zu verfehlen, und natürlich den Mut und Willen, es zu tun, solang es einem die Kräfte erlauben.

Migration, Integration, Fremd- und Anders-Sein … Zumindest haben wir uns davon befreit, uns ständig mit Schafen vergleichen zu müssen. Trotzdem lösen wir uns in vielen Dingen nicht von einem etwas dumpfen Herdenverhalten. Und handkehrum bezeichnen wir es etwa als Nationalität, was uns zusammenhält. Konformität ist bequem: Eigensinnige Menschen, Künstler, kreative und hinterfragende Seelen, die etwas ausscheren, werden gerne mit Skepsis bedacht. Was wir an Integrationsforderungen an Immigranten stellen, gleicht der Suggestionsleistung des kleinen Lammes. Nur ist für Menschen diese Gratwanderung zwischen Akzeptanz der «Gast»-Gruppe und dem stets drohenden Vergessenwerden seitens der Herkunft-Gruppe natürlich um einiges schwieriger. Immerhin hat der Mensch die Freiheit, sich zu entscheiden, das zu sein, wozu er sich selber macht.

Aus einem Schaf wird nie vollumfänglich eine Ziege. Aber aus der gemischten Milch der beiden Tiere ergibt sich, wie gesagt, bester Käse von bisweilen besonderer Würze. – Da ist darüber nachzudenken.

Der vorliegende Text ist auch auf Michael Mentes Blog über seine süditalienische Heimat (www.terramatera.com), dort mit weiterführenden Hinweisen veröffentlicht. Die Namen wurden geändert.

Die Meinung des Autors in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

Diesen Beitrag fand ich...
  • wichtig (9)
  • inspirierend (28)
  • fundiert (3)
  • frech (0)
  • berührend (19)
  • langweilig (6)
  • falsch (3)
  • schlecht (1)
  • lustig (7)
8 Kommentare
  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 08:13 Uhr, 06. September

    Lieber Michael, dein Beitrag hat mich sehr berührt, Und mich zu einigen Fragen angeregt. War ich schon immer eine Ziege? Oder ursprünglich auch ein Schaf, das sich der Umgebung angepasst hat und manchmal leidet darunter? Gibt es auch Ziegen, die sich gegen aussen aber als Schafherde tarnen? Gerade in der Kirche :-)? Lässt es sich je nach Bedarf auch zwischen Schaf und Ziege hin- und herswitchen, bis gar keine Identität mehr vorhanden ist? Danke dir und und schöner Tag, Barbara

    7

    2
    Antworten
  • michael vogt
    Gepostet um 19:16 Uhr, 06. September

    das gewaltlos leidensfähige lamm hat die führung übernommen. jesus wurde von seinem vater erniedrigt und hat darauf nicht mit gewalt reagiert. andere werden – um in seiner sprache zu bleiben – vom selben vater erniedrigt, reagieren aber mit gewalt. wie ich am fenster einen apfel vom baum der erkenntnis verspeise, eine schar stare, etwa hundert. keine weisse taube unter ihnen. und doch, die schwarmintelligenz lässt sie fliegen, miteinander und durcheinander, ohne einander und jemand anderem etwas anzutun. die weisse ziege scheint mir die zu repräsentieren, die ohne dieses eine lamm nicht belämmert oder behämmert sind. religionen und nicht-religionen fliessen ineinander wie milchsorten. die wirkstoffe bleiben dabei erhalten, vervollständigen und verstärken einander. und es entstehen noch andere farben. https://www.youtube.com/watch?v=-tas2wuQqxU 01:50-53 meine mutter, die bilder, die mein vater (1927-1988), zt aus einem erbe, gekauft hat, zur verfügung gestellt hat. inzwischen hat sie, die schon so lange verwittwet lebt wie sie verheiratet war, sie verkauft, um ihr wohnen im alter zu finanzieren. das wären dann so meine erinnerungen. während der vorangehenden diskussion ist mir ein solches bild erschienen.

    2

    0
    Antworten
  • Alpöhi
    Gepostet um 23:53 Uhr, 07. September

    In einer Herde von schwarzen Schafen ist ein weisses Schaf das schwarze Schaf.

    2

    0
    Antworten
    • Anita Ochsner
      Gepostet um 10:54 Uhr, 09. September

      manchmal gibt es weisse Schafe, die werden von der „schwarzen“ Herde aufgenommen, und doch können sie von sich aus nicht bleiben, auf dass sie ihr eigenes selbst und ihren Weg finden mögen …

      1

      0
      Antworten
  • Anita Ochsner
    Gepostet um 08:25 Uhr, 08. September

    Vielen Dank Michael für diesen erheiternden, lustvollen, würzigen Beitrag! Aus Landschaften mit Menschen und Tieren und was daraus gemacht werden kann. Diese Käse! Wahrhaft ein toller vollgeschmack, auch ganz zartwürzig. Mir gefallen solche „einfachen“ Geschichten, aus dem Leben erzählte und erlebte.
    Wie hier auf dem Bild dieses Schaf stöckelt mit den Ziegen, scheint sie wie gar anzuführen, mit hocherhobenem Kopf. So frei und unbeschwert kommt mir vor. Einfach, „ich bin da“. So wie ich bin. was es meint zu sein? Was wir oft von uns selbst denken?
    Der Mensch hat die „Freiheit, sich zu entscheiden, das zu sein, wozu er sich selber macht.“ Da kommt mir das Gedicht aus dem letzten Beitrag „Gott, gib mir die Gelassenheit…“
    So leicht und so schwer zugleich, kommt mir dieses Gedicht jeweils entgegen. Der Umgang mit der Freiheit die uns zugemutet ist… , in aller Verantwortung, wo ich eingebettet bin oder eingebettet sein will, wie kann ich entscheiden und worüber, was kann, und will ich ändern…. ? Das Schaf kann wohl nichts ändern, sein Leben hat es dem Bauer zu verdanken, und der Mutterziege, der ganzen Herde schliesslich, die es mit der Mutterziege zusammen aufgenommen hat.
    Gute Zeit beim Gehen … herzlichst, Anita

    1

    0
    Antworten

Antwort schreiben zu Barbara Oberholzer Abbrechen