Diagnose: Angststörung

Auf Schritt und Tritt verfolgen einen die Burkaträgerinnen, wenn man durch den Zürcher Hauptbahnhof geht. Gesponsert von der SVP, damit wir nicht einfach durchwinken, sondern Angst bekommen und innehalten. Also, Herr Glarner: Ich habe Angst und ich werde nun innehalten.

Natürlich habe ich keine Angst vor Burkaträgerinnen. Angst habe ich vor Menschen, die uns Angst machen wollen. Denn Angst ist nicht ein Mittel, das in demokratischen Verfahren eingesetzt werden soll. Demokratische Mittel sind Informationen, Gründe, Argumente und Prognosen. Demokratische Verfahren beruhen darauf, dass wir unsere Meinungen mit Gründen verteidigen, Argumente der Diskussion ausliefern, Prognosen abwägen. Demokratie beruht auf dem gegenseitigen Zutrauen, dass wir zur wechselseitigen Perspektivübernahme fähig sind, dass wir uns (eine Meinung) bilden, dass wir Gründe gewichten. Im Kern ist Demokratie kein Freifahrtschein, seine Meinung heraus zu posaunen, sondern die Pflicht aller, vor allen Rechenschaft darüber abzulegen, was wir im Sinne des Gemeinwohls richtig finden.

Demokratie oder Angst

Wir Demokratinnen und Demokraten muten uns nämlich einiges zu. Erstens müssen wir dem anderen unterstellen, dass seine Meinung auf Gründen beruht, dass er uns nicht einfach täuschen und überreden, sondern mit statthaften Argumenten überzeugen will. Das müssen wir auch da tun, wo wir ganz anderer Meinung sind. Und wir muten uns zu, selbst Gründe anzugeben, wenn wir gefragt werden. Nun können sich solche Gründe auch auf Prognosen beziehen. Ich kann z.B. befürchten, dass die Nichtannahme eines neuen Steuergesetzes zu einer Abwanderung volkswirtschaftlich wichtiger Firmen führt. Oder ich kann befürchten, dass die Annahme zu einer unverhältnismässigen Mehrbelastung der mittelständischen Haushalte führt. Wir streiten dann – aber wir streiten auf einem gemeinsamen Boden, der abgesteckt ist durch Begründungsfähigkeit und Begründungspflicht. In beiden Fällen müssen die Opponenten zeigen, dass ihre Empfehlung besser ist für das Gemeinwohl.

Angst sieht auf den ersten Blick ähnlich aus wie eine Prognose, fühlt sich aber ganz anders an. Wer die Angst auf seiner Seite weiss, steht jenseits und über den zu verhandelnden Möglichkeiten.  Die Katastrophe verlangt nach Aktion, nicht nach Diskussion: Wenn die Hütte brennt, muss man das Feuer löschen und nicht über die Wasserverteilung sprechen.

Angst essen Demokratie auf

Man kann mit Gründen für oder gegen bilaterale Verträge sein, mit Gründen Handelsverträge zur Annahme oder zur Ablehnung empfehlen. Aber nur die Angst „ermächtigt“ uns dazu, dem Mitstreiter nicht mehr zuhören zu müssen, sondern ihn zum Feind zu erklären. Dann gibt es  nur noch „die in Bern“, die am „Volk“ vorbei politisieren und uns alle ins Brüsseler Verderben stürzen. Dann gibt es pauschale Einreiseverbote, Mauern, Notstand wegen der „Islamisierung des christlichen Abendlandes“; das gefühlte Recht, eine Bundesrätin als Verräterin (!) oder den ganzen Bundesrat als Landesverräter zu bezeichnen – und die „Bürgerpflicht“ mit faktenwidrigen Burka-Plakaten die Bevölkerung zu verängstigen.

Aber es gibt dann keine Demokratie mehr. Denn Demokratie ist nicht über ein technisches Verfahren allein zu sichern. Demokratie basiert auf einem Regelwerk, das sich Menschen in Freiheit zur Wahrung ihrer Freiheit als Freie geben. Frei von der Fixierung auf den Eigennutz. Frei von Angst. Frei für die Gründe anderer. Frei, den Blick zu heben und probehalber eine neue Perspektive einzunehmen.

Kraft – Liebe – Besonnenheit

Das ist nicht naiv. Kant war naiv. Er glaubte, dass die republikanische Verfassung so eingerichtet werden könne, dass sie selbst die moralisch schlechten Menschen zu guten Bürgern mache, ja sogar für ein „Volk von Teufeln“ funktioniere. Aber Kant hat dabei irrtümlich angenommen, dass wir uns – Egoisten, die wir sein und bleiben mögen – wenigstens darüber informieren werden, was unserem jeweiligen Interesse dient und die jeweiligen Interessen in einem demokratischen Verfahren austarieren werden. Er hat die Angst unterschätzt. Denn wer Angst hat und sich dieser Angst hingibt, stellt die eigenen Interessen zurück, handelt mitunter sogar gegen diese, reiht sich in den Mob ein und zerstört jene Feindbilder, die seine Angst erst geschaffen hat. Mit bitteren Kollateralschäden.

In einem liberalen Rechtsstaat sind wir alle je einzeln verantwortlich dafür, der Gewissheit, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht und sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst, Hoffnung und Ausdruck zu verleihen. Ich bin als Kind zur Sonntagsschule gegangen. Da habe ich einen Vers gelernt, den ich heute in einem neuen Licht sehe, wenn ich vor der Anzeigetafel des Zürcher HB’s stehe: „Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Darüber denke ich nach, wenn ich innehalte. In den letzten Wochen tue ich das etwas trotziger als sonst.

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8 Kommentare
  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 06:36 Uhr, 02. Februar

    Awww Stephan, dein Beitrag freut mich einfach nur riesig! Spricht mir total aus der Seele, grad auch die Reflexion über die psychologischen – und politischen – Folgen der Angst. Da wirds plötzlich wieder heller. Danke ☀️

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  • Andreas Kindlimann
    Gepostet um 07:13 Uhr, 02. Februar

    Wolf Biermann nannte die Menschen im ZK der SED mit ihrer missionarischen Deutungshoheit über den Begriff Demokratie „verdorbene Greise“. Die machen niemandem mehr Angst.

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  • Verena Mühlethaler
    Gepostet um 11:04 Uhr, 02. Februar

    Danke, Stephan für Deinen sehr guten und differenzierten Blog! Ich hoffe sehr, dass bei dieser Angst-Kampagne der SVP- die nichts mehr mit dem Inhalt der Abstimmung zu tun hat – von der Mehrheit der Bürgerinnen erkannt wird!

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  • michael vogt
    Gepostet um 15:46 Uhr, 02. Februar

    die wahrheit offenbart sich wann, wo und wie sie will. insofern ist sie leer. ku, leere, eine substantielle erfahrung. vakuum, kugel, kuh. sie macht mu (nicht), daraus die musik. das schaf sagt dasselbe auf griechisch und der hund auf altchinesisch. haben Sie das schon ge_wu_sst? politik geht nicht ohne kampf. pa_u_se (u griech. nicht) entkrampft, macht sie zur (kampf_)ku_nst.

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  • Corinne Duc
    Gepostet um 16:40 Uhr, 02. Februar

    Ich gehe mit dem Autoren in vielen Punkten einig. Demokratie kann aber nicht alles steuern, und die vage Ungewissheit oder Ahnung dass wir vieles nicht selber im Griff haben, löst bei manchen Angstgefühle aus. Mir scheint, dass wir diese Ängste ernst nehmen und erst recht auch in der Demokratie ihren Platz einberäumen statt ausgrenzen sollten.
    Verdrängte Angst kann leicht dazu führen, dass die Ursachen bei Sündenböcken verortet werden, ohne dass die zugrundeliegenden Mechanismen im Kontext des demokratischen (Rechts-)Staates erläutert werden müssen.
    ZB. Angst vor Überfremdung und “Ausverkauf der Heimat”: Wenn wir offen dazu stehen, dass unsere eigene Verschwendsucht es eigentlich ist, die weit über die Grenzen hinaus zu Ressourcenengpässen führt, wird das Argument der Gefahr durch Überfremdung automatisch relativiert. Jedenfalls sollte man offen darüber diskutieren können.
    Leider aber ist auch unter “Kirchlichen” die Tendenz verbreitet, Kritik in erster Linie bei den anderen anzubringen. Wäre es nicht eine schöne Alternative, wenn PfarrerInnen, LehrerInnen und andere von den öffentlichen Institutionen angestellte Funktionsträger grundsätzlich mit öV, zu Fuss oder mit Velo reisen und dadurch als gutes Beispiel vorangehen würden? Und dazu aufforderten (und natürlich selbst entsprechend leben) würden, tierische Produkte nur sehr massvoll zu verwenden?
    Aber es ist immer einfacher, sich darüber lustig zu machen, so lange die Töpfe noch voll sind.

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    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 18:04 Uhr, 02. Februar

      Ja klar liebe Frau Duc: Nicht Wasser predigen und selber Wein trinken, das sollte die Devise von FunktionsträgerInnen sein. Doch merke ich in meiner eigenen Gemeinde, wie schwer es ist, Facts von weltweiten Zusammenhängen und Ursache und (Aus)Wirkungen an den Mann und an die Frau zu bringen. Mein Einsatz für FairTrade-Produkte und gegen Würste am Gemeindesonntag wurde da auch schon mit dem Label „ideologisch“ versehen.

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    • Stephan Jütte
      Gepostet um 19:39 Uhr, 02. Februar

      liebe frau duc, ich finde auch, dass wir ängste ernst nehmen müssen. gerade deshalb darf man aber angst nicht wecken und instrumentalisieren für eigene politische zwecke. karl jaspers hat mal vorgeschlagen, angst von furcht zu unterscheiden: angst unterscheide sich, so jaspers, von furcht dadurch, dass sie keinen gegenstand habe.
      in diese lücke tritt dann immer irgend ein sündenbock. und das geht nicht. unabhängig davon, ob ich zu fuss zur arbeit gehe und pet trenne oder nicht. selbst ein gutes beispiel sein ist ein schönes und wichtiges ziel, aber es ist keine alternative dazu, die zerstörung unserer demokratischen kultur zu benennen und die schuldigen zu kritisieren. herzlich, stephan jütte

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  • Verena Thalmann
    Gepostet um 21:42 Uhr, 02. Februar

    „……aber es gibt dann keine Demokratie mehr“ – – Ja, dies ist genau der Punkt, der mich schon seit einiger Zeit verunsichert, beängstigt und auch verärgert. Denn wenn gewisse Menschen in unserem Lande so weiter machen, frage ich mich wirklich, wie dies noch weiter gehen soll. (Beispiele rund um unser Land gibt es ja ohnehin schon, wie das „funktioniert“ von Demokratie zu sprechen, aber im Grunde genau diese zu untergraben. Wir haben verschiedene Parteien in der Regierung, doch es gibt nur eine, die sich die Frechheit erlaubt,den Bundesrat als Landesverräter zu bezeichnen. Junge Menschen, die wenig Selbstwertgefühl haben und durch vieles frustriert sind, werden zu den „einfach kriegenden Fischen“ – dieser „für die Demokratie“ werbenden Superpartei! Wer ist denn da noch das Volk? Und was wollen wir als Menschen unseres Landes?
    Wachsamkeit, mich selber auch in Frage stellen und am Lernen sein — und ja, zum Glück gibt es diese Worte: „Wir haben nicht den Geist der Furcht bekommen, sondern der Kraft,
    der Liebe und der Besonnenheit.“ — auch wenn es mir bei einem solchen Plakat im HB ablöschen könnte — ich will nicht aufgeben, sondern dran bleiben.

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