Die 120 Tage von Sodom, von Milo Rau im Schauspielhaus Zürich

Das Theaterstück von Milo Rau baut auf künstlerische und religiöse Tradition. Da sind zum einen „die 120 Tage von Sodom“ des Marquis de Sade, dessen Auflistung menschlicher Perversionen die Schattenseiten von Ancien Regime und Aufklärung des 18. Jahrhunderts zum Ausdruck bringen. Daran schloss Pasolini mit seinem Film „Salò, oder die 120 Tage von Sodom“ an, um damit die Konsumgesellschaft der 60iger Jahre als Fortsetzung des Faschismus zu brandmarken. Milo Rau findet die Aktualität dieser Tradition in unserem Umgang mit behinderten Föten, die wir abtreiben, statt sie leben zu lassen. In einem Interview nennt er das die „Versündigung gegen das Prinzip des Lebens“.

 

Person oder Rolle?

Auf der Bühne spielen Schauspieler und Schauspielerinnen des Theaters HORA, von Menschen mit einer geistigen Behinderung, und des Ensembles des Schauspielhauses Szenen des Pasolinifilms nach. Gleichzeitig denken sie darüber nach, was sie da tun. Dabei ist die Frage dominant: Wann ist einer die Person, die er ist und wann spielt er eine Rolle?

Auch ich spiele eine Rolle im Theater; ich bin Zuschauerin. In dieser Rolle wird mir eine Aussage über meine Person zugemutet. Ein Mitglied des Ensembles bezichtigt uns Zuschauer der Heuchelei, weil wir ins Theater kommen, um den HORA’s zuzujubeln, aber gleichzeitig für die Legalisierung der Pränataldiagnostik gestimmt haben und also dafür sind, dass die, die auf der Bühne stehen, abgetrieben werden. Damit werden wir auf derselben Linie wie die Nazis angesiedelt, die um der Reinheit der Rasse willen, Behinderte umgebracht haben.

 

Zumutung

Vielleicht hätte ich es noch geschafft, mich an meiner Rolle als Zuschauerin festzuhalten und die Zumutungen über meine Person abzuweisen; zu grob das Geschütz, das hier aufgefahren wird, zu unsorgfältig die Argumentation, mit der ich überführt werden soll.

Aber angesichts des Monologs eines weiteren Ensemble-Mitglieds habe ich keine Chance. Er erzählt von sich und seiner schwangeren Frau. Die Untersuchung ergab, dass das ungeborene Kind Trisomie 21 hat. Sie sind geschockt, sie reden mit anderen, sie haben Angst und entschliessen sich, das Kind abzutreiben. Im siebten Monat wird das Kind im Bauch totgespritzt. Das Kind habe noch Schutz gesucht in der Hand der Mutter, die auf dem Bauch lag. Dann sei es still geworden.

 

Es ist das Bild dieser Hand, die schützen soll und es nicht tut, das mich nicht mehr los lässt.

Nicht nur in einem so krassen Fall wie einer Abtreibung im siebten Monat, in so vielen kleinen Gesten des Alltags versagen wir die schützende Hand; sind stattdessen unsorgfältig und grob. Mit diesem Bild hat sich ein Schatten auf meine Seele gelegt.

 

Passion

Auch die christliche Tradition spielt eine Rolle im Stück. Es beginnt mit dem Abendmahl und endet mit der Kreuzigung. Dazwischen liegt die Passion Jesu. Wessen Passionsgeschichte schildert das Stück?

Die Passion der HORA’s, die auf der Bühne damit konfrontiert werden, dass die Gesellschaft sie nicht will und abtreibt?

Die Passion der Ensemble-Schauspieler, deren mutmasslich biografisches Material zur Steigerung der Drastik benutzt und fallengelassen wird?

Die Passion der Zuschauer, die es zwar für das Theater braucht, denen aber nur der Blick in den Abgrund bleibt?

Folgerichtig endet das Stück nach der Kreuzigung im Dunkeln.

 

In der christlichen Tradition folgt auf das Kreuz die Auferstehung. Erst dann wird der Sinn des Abendmahls verständlich. Es feiert nicht den Tod, sondern das Leben angesichts des Todes. Zum Beispiel, indem Menschen nicht auf ihre Ungeheuerlichkeiten festgelegt werden, sondern ihnen Heilsames zugesprochen und zugemutet wird.

Wer also die Todesspritze nicht will, sollte sie nicht in die Hand nehmen. Die freie Hand kann dann bergen und schützen.

Links zum Thema:

Theater Hora
http://www.hora.ch

„Die 120 Tage von Sodom“ im Schauspielhaus
http://www.schauspielhaus.ch/de/play/698-Die-120-Tage-von-Sodom

Interview mit Milo Rau in der NZZ

 

 

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9 Kommentare
  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 06:23 Uhr, 06. März

    Liebe Friederike, ich habe deinen ersten Beitrag mit Spannung erwartet – und bin jetzt tief berührt!! Besonders dieser Satz hat mich voll erwischt: „…in so vielen kleinen Gesten des Alltags versagen wir die schützende Hand; sind stattdessen unsorgfältig und grob.“ Im täglichen Umgang jahrelang ein solches Verhalten zu erleben oder selbst auszuüben, kann auch töten und seelisch absterben lassen – auf beiden Seiten. DANKE!

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    • Anita Ochsner
      Gepostet um 10:04 Uhr, 31. März

      Liebe Frau Oberholzer
      Vielleicht interessiert Sie / und Andere der Verein: VBMB VEREIN BEDÜRFNISGERECHTE MEDIZINISCHE VERSORGUNG FÜR MENSCHEN MIT BEHINDERUNG
      Insbesondere die letzte Tagung vom Nov. 2016 mit dem Titel „Zusammenarbeit?! verstehen und verstanden werden“ aller Beteiligten bei medizinischer Versorgung…. Ein Blick in die Webseite mit Tagungsdokumenten… 😉

      http://www.vbmb.ch
      Auch Ihnen einen schönen Tag heute! 🙂

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 08:35 Uhr, 06. März

    Erstmal freut es mich einfach sehr, dass ein Beitrag zu diesem Thema Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft erscheint. Und dieser! Zu diesem Stück! des Theaters HORA.
    Finde ich sehr mutig was hier aufgeführt wird. Und lässt wohl wenig Menschen kalt.
    Menschen mit und ohne Behinderung machen Theater, alles professionelle Personen.
    Wo begegnen sich, arbeiten kreieren Menschen mit und ohne Behinderung sonst in unserer Gesellschaft zusammen? Es gibt wenig Räume wo das „einfach so“ geschieht, selbstverständlich ist einander echt zu begegnen.
    Und wenn, sind sie meistens „kreieert“ künstlich angelegt um überhaupt sich einfach frei echt auf gleicher Augenhöhe begegnen und miteinander etwas zu er-leben zu können.
    Manches Mal scheint mir, dass dieses selbst von für Menschen mit Behinderung zuständigen Institutionen gar „behindert“ wird. Aus Angst davor, dass Abhängigkeitsverhältnisse, Missbrauch dadurch entstehen können. Lieber keine freien freizeitlichen freundschaftlichen Kontakte pflegen, aufnehmen, um solches zu Verhindern. Heisst für mich, das wertvolle fruchtende wird hinter das mögliche Negative gestellt. Wie bei der Abtreibung eines Kindes mit Trisomie 21.
    Wie es Linard Bardill sagt: „Ich möchte nicht werten.“ „Jede/r muss es selbst wissen.“
    Klar macht es Angst, und der Weg mit einem Kind mit Behinderung ist nicht einfach. Zuweilen auch ziemlich schwer. Da braucht es eine schützende Hand, für die Familie.
    Trotzdem, wenn ich mich in der spitaleigenen gynäkologischen Arztpraxis schon umschaute, fielen mir da Bilder von Neugeborenen „normal“ gesunden Kindern auf. Dabei fragte ich mich, weshalb hängt hier kein Bild eines Kindes mit einer Behinderung? An solchen Orten? Müssten sie nicht gerade da ersichtlich sein? Hier am Anfang der Geschichte.
    Wo liegen hier Prospekte von z. B. „Mein Kind ist Behindert, es soll leben“. Oder wie Ratgeber für werdende Eltern von einem Kind mit Behinderung, gibt es? Bestimmt! Wo? Und wo liegen sie für Alle! ersichtlich? „Mutmacher“ „Wegzeiger“ und auch zu wissen, dass man als werdende Eltern mit einem Kind mit Behinderung nicht alleine ist.

    Wer sonst als Personen die mit Menschen mit Behinderung auf eine Weise in Kontakt sind, sollen das Leben mit Menschen mit Behinderung anfangen zu leben ? Wenn wir, z.B. Erwachsenenbildner/innen, es „nicht tun dürfen“, wer soll denn sonst?… Und doch ja, diese Menschen sind teils auch, mehr oder weniger, in verschiedenster Weise auf Unterstützung, Begleitung angewiesen, in der normalen Gesellschaft. Und können ausgenutzt, missbraucht werden…die Gefahr von abhängigkeits Verhältnissen besteht und Schaden kann entstehen auf, beiden Seiten. Auch hier schützende, stützende Hände, braucht es. Für uns alle, die sich darin zusammen bewegen wollen. Meine ich.
    Doch so sehe ich auch, dass sie es selbst, Menschen mit Behinderung, sein werden, die immer weitere Schritte tun, wollen!, in die Gesellschaft hinein. Zeigt sich ja auch mit diesem Stück, die Themen die darin liegen, dass sie das so mutig sich selbst zumuten, aufgenommen haben.
    Wir „normalen“, die Gesellschaft als ganzes, sind ungeübt mit Menschen mit Behinderung das Leben zusammen zu er-leben. Wenn sie kommen. Hoffentlich nicht aussterben, wie es in einem Trailer des HORA zu diesem Stück gesagt wird. Doch wir werden erstaunt sein ;-)? glaube ich. Doch, wenn wir erstaunt sind, zeigt auch, dass wir es nicht gewohnt sind.
    Daher finde ich ganz toll, dass hier dieser Beitrag zu so einem Theaterstück von HORA geschrieben wird.

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    • Friederike Osthof
      Gepostet um 10:58 Uhr, 06. März

      Liebe Frau Ochsner, herzlichen Dank für Ihren Kommentar! Sie haben Recht, wenn Menschen mit Behinderung mehr Teil des gesellschaftlichen Lebens wären, wenn es ganz normal wäre, ihnen zu begegnen, wäre es wohl auch für werdende Eltern leichter, sich nicht gegen ihr Kind zu entscheiden.
      Wichtig finde ich aber auch Ihren Hinweis, dass die schützende Hand nicht zu Protektionismus verkommen darf.
      Auf diesem Weg hin zu mehr Normalität sind die HORA’s unsere Avantgarde. Das klingt gut.

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 08:48 Uhr, 06. März

    PS: ich finde es ganz toll, dass nun auf der Webseite der Landeskirche Zürich, der volle Mond einem entgegen scheint! Diese alljährliche Frühlings-Tagung für Alle selbstverständlich unter allen anderen Angeboten erscheint, Begegnungs- und Er-Lebensraum für Alle! – „Träume leben und teilen“…. 😉

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  • michael vogt
    Gepostet um 16:48 Uhr, 06. März

    in vitro, pid, abtreibung, NaP – von einem leben nach dem tod nichts wissen, weil das nur unnötige sorgen um das beendete leben bereiten kann? beim lesen des beitrags erschien es mir aber doch gut, dass es noch eine andere hand gibt.

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  • Verena Thalmann
    Gepostet um 21:06 Uhr, 06. März

    Hut ab….das ist mutig, sich diesem nicht einfachen Thema zu stellen! Auf Grund eines kurzen Artikels in einer Zeitung hatte ich mir nur ein einseitiges, Bild dieser Theateraufführung gemacht. Und nun bin ich wieder damit konfrontiert worden, kann besser verstehen, sehe noch weitere Zusammenhänge und wurde nicht ganz trostlos gelassen.
    Die „Belichtung“ von Frau Osthof in dieses Geschehen, gibt mir Kraft um nicht einfach wegzusehen. Danke!

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  • Ursina Sonderegger
    Gepostet um 08:58 Uhr, 13. März

    Sehr differenziert und einfach gut. Danke für diese Zeilen. Schade nur, erschien dieser Artikel nicht im reformiert als Ergänzung oder anstelle der Besprechung in der aktuellen reformiert-Nummer. Sehenswert ist auch der Dokumentarfilm Goethe, Faust und Julia über Julia Häusermann, vgl. http://www.hora.ch

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