Huldrychs Nachwirkungen

Ob und wie der Protestantismus heute noch wirkt, ist heiss umstritten. Am 07. September geht eine international besetzte Tagung dieser Frage in Herrliberg nach: Zwingli-Tag, ausgerichtet von den Kirchgemeinden in Erlenbach und Herrliberg.

Von Peter Sloterdijk, dem Philosophen mit wachem Geist und spitzer Zunge, stammt ein einprägsamer Satz, nach dem der Protestantismus sich mittlerweile im Abklingbecken der Geschichte befindet. Zwar habe er die Geister seit seinem Erscheinen Anfang des 16. Jahrhunderts über lange Zeiten hinweg gründlich geprägt, nun aber sei er schwach geworden und spiele kaum noch eine Rolle. Und das sei auch gut so, denn vor allem Luther habe ein Denkschema Augustins übernommen, das in eine fanatische und menschenverachtende Haltung den Feinden Gottes gegenüber mündet. Man muss wohl sagen, dass Zwingli und Calvin in dieser Sache nicht weit von Luther entfernt waren. In den Andersgläubigen war für sie der Antichrist am Werk.

Gleichwohl weiss Sloterdijk die Verdienste des Protestantismus zu würdigen: Er habe das Prinzip der Selbstkritik erfunden und erstmals institutionalisiert. Die protestantischen Kirchen sind danach so etwas wie Bildungsanstalten, in denen die Kritik an den Zuständen und an sich selbst eingeübt wird. Der Ist-Zustand wird ständig an einem Ideal gemessen. Wer durch diese Schule gegangen ist, weiss, dass er nicht so ist, wie er sein sollte. Wenn man so will, würde es das uns heute so prägende Prinzip der Selbst- und Weltoptimierung nicht geben und auch kein Qualitätsmanagement, wenn der Protestantismus uns diesen Geist nicht eingehaucht hätte. Wir wären noch immer gefangen in einer mittelalterlich-katholischen Selbstzufriedenheit, in der die Sünde sich ritualisiert beseitigen lässt.

Was also stimmt nun? Ist der Protestantismus erledigt? Oder wirkt Zwinglis Geist in unserer Welt nach? Wir nehmen uns einen Tag lang Zeit, um mit bekannten Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Wirtschaft und Recht, aus der Kirche, aus der Architektur, aus dem Medien- und Kunstbereich und aus dem Filmgeschäft zu diskutieren.

Die Tagung schliesst mit einem art&act-Gottesdienst, in dessen Zentrum, die Wurstessenkantate von Edward Rushton steht. Gedeutet wird sie von Ulrich Knellwolf.

Programm des Anlasses und Anmeldemöglichkeit
www.refevents.ch

Die Meinung des Autors in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

Blog abonnieren     Alle Beiträge ansehen    

Diesen Beitrag fand ich...
  • wichtig (3)
  • inspirierend (12)
  • fundiert (4)
  • frech (1)
  • berührend (1)
  • langweilig (2)
  • falsch (2)
  • schlecht (1)
  • lustig (1)
16 Kommentare
  • Alpöhi
    Gepostet um 07:31 Uhr, 27. August

    Der Protestantismus ist erledigt, wenn er nur noch das Erreichte konserviert.

    Das Zürcher Bürgertum ist auf die Reformation abgefahren, weil sie eine Handhabe bot um die Bevormundung durch den katholischen Klerus loszuwerden.
    Die Menschen sind Jesus nachgelaufen, weil er eine Handhabe bot um die Bevormundung durch den pharisäischen Klerus loszuwerden.
    Der katholische Klerus hat mit dem pharisäischen Klerus gemeinsam, dass beide auf ihre Art die „Hüter der Moral“ waren (und heute noch sind).

    Der Protestantismus distanziert sich erfolgreich von den „alten Antworten“. Es genügt aber nicht, die „alten Antworten“ einfach beiseite zu legen. Gleichzeitig braucht es neue Antworten. Antworten, die den Menschen einen Raum geben, in dem sie atmen können. In dem sie aufblühen können. Jesus hatte das geschafft. Und die Reformatoren ebenso.

    Wo steht unsere Kirche heute diesbezüglich?

    Was brennt den Menschen denn heute unter den Nägeln?
    Und: Ist die Kirche da vorne dabei und erkennt die Themen und setzt sie auf die Tagesordnung?
    Oder ist auch die Reformierte Kirche zur Hüterin der Moral geworden – zu einer Instanz, die meint den Menschen sagen zu müssen was sie dürfen und was nicht?

    7

    0
    Antworten
  • michael vogt
    Gepostet um 09:19 Uhr, 27. August

    zwingli führt die gemeinde nach oben, luther nach unten. zwingli braucht das korrektiv luther. sozial führt zwingli zu denen, die unten sind, weniger im denken. luther sagte sinngemäss: meine theologie heisst theologie des gekreuzigten, nicht theologia gloriae, die schöne worte macht. das gibt es bei zwingli auch: „christus allein, der gekreuzigte und auferstandene, ist der zufluchtsort des menschen in seiner existenzangst und gewissensnot.“ (https://museum.evang.at/persoenlichkeiten/ulrich-zwingli/zwingli-leben-und-wirken/schwerpunkte-der-theologie-zwinglis/ > 2.) aber dann sagt er wieder dinge wie, dass die andern religionen „in ihrem höchsten“ mit uns übereinstimmen. dass andersherum luther zwingli als korrektiv braucht, bleibt damit unbestritten. entsprechend brauchen auch die durch zwingli geprägte evangelisch-reformierte und die evangelisch-lutherische kirche einander als korrektiv. so ist zb in der ekd die meinung verbreitet, ein christ sei, wer glaubt, dass jesus der sohn gottes ist, während bei uns die ganzen reformationsfeierlichkeiten lang eine erinnerung, wie oben zitiert, gar nie erwähnt wird. „einer ist gestorben, darum sind alle gestorben“ (2kor.5.14 ) – und mit ihnen alles. was dann aus dem grab wieder hervorkommt, das ist es. darin sehe ich die bedeutung des protestantismus. es klingt tatsächlich alles ab. es erklingt aber dann wieder etwas: das zeitgemässe, könnte man sagen, nicht ohne kontinuität, in verbindung zur tradition, aber nicht nur zur eigenen, verbindung aufnehmend zu allen andern, zu den „grossen sytemen“ (http://www.diesseits.ch/autorinnen/alexander-heit/), die ja auch religionen sind. „einfach verbunden“, möchte man fast sagen, wäre das nicht etwas zu verzuckert, „marzipan“ nach peter sloterdijk, führt aber doch bis zur einsicht oder ansicht, wie Sie vielleicht lieber wollen, dass die elementarste wahrheit überall der tod, der tod des todes ist – die rechtfertigung aller, nicht nur der glaubenden, die nicht zuletzt aufgrund dieses „nur“ bekriegt wurden – , und dass die geschichtsauffassung, gemäss der jesus gar nicht gekreuzigt worden ist, ein hinweis ist auf die notwendigkeit einer vollständigern offenbarung, als sie durch ihn geschehen ist – was die bekenntnisfreiheit, die stärke der reformierten, erlaubt. die liebe setzt andererseits schranken. damit beginnt das zitierte paulus-wort. die belohnungsmoleküle erzeugende selbstbegrenzung in der selbstentfaltung hat als kritik der reinen selbstentfaltung etwas zu sagen, wenn man bedenkt, wie unrein letztere die luft macht, von den untersten bis zu den obersten bereichen der atmosphäre. frei heisst, nicht auf kosten anderer.

    2

    0
    Antworten
    • michael vogt
      Gepostet um 09:28 Uhr, 27. August

      genauer: die rechtfertigung aller, nicht nur der glaubenden und der nicht- oder anders glaubenden nicht, die nicht zuletzt aufgrund dieses „nur“ bekriegt wurden

      1

      0
      Antworten
      • Alpöhi
        Gepostet um 09:52 Uhr, 27. August

        >> was dann aus dem grab wieder hervorkommt, das ist es. darin sehe ich die bedeutung des Protestantismus

        Dann könnten wir als Erstes die Kindertaufe abschaffen. Damit die Taufe, als kraftvolles Zeichen des „wieder-aus-dem-Grab-Hervorkommens“, aufgespart ist für das eigene genuine Erleben der Menschen. (Das mit dem „Erleben“ ist bekanntlich echli schwierig für Säuglinge… Die Erinnerung beginnt erst bei ca. 4 Jahren)

        Die Abschaffung der Kindertaufe hätte mehrere Effekte (Aufzählung nicht abschliessend):
        1) Es würden deutlich weniger Personen getauft; Die Anzahl Nicht-Getaufter würde dann plus/minus mit der Anzahl Nicht-kirchlicher Menschen korrelieren
        2) Die Menschen, die sich aber taufen lassen, tun dies aus persönlicher Überzeugung. Was durchaus ein Gewinn wäre. Denn
        3) Eine zentrale kirchliche Zeichenhandlung wäre fürderhin nicht mehr „Farce“, sondern wieder gelebter Ausdruck des persönlichen Glaubens.

        1

        1
        Antworten
        • michael vogt
          Gepostet um 10:18 Uhr, 27. August

          eine interessante „fehlleistung“ (s. freud): Sie wollten ja wahrscheinlich nicht auf die korrektur antworten, sondern den kommentar. damit haben Sie, wohl versehentlich, auf das ja zu allen geantwortet, das der „persönlichen überzeugung“ vorangeht und damit für die kindertaufe spricht – der Sie unbewusst vielleicht mehr zugeneigt sind, als Ihnen bewusst ist. 😉

          1

          1
          Antworten
          • Alpöhi
            Gepostet um 11:34 Uhr, 27. August

            Sie sollten nicht mehr in eine Antwort hinein interpretieren als die antwortende Person beabsichtigte. Zumal Sie mit Ihrer Kommentar- und Korrekturflut das versehentliche Anklicken des falschen „Antworten“-Buttons geradezu provozieren.

            2

            0
          • michael vogt
            Gepostet um 12:49 Uhr, 27. August

            doch: das, was sie nicht beabsichtigte, was sich in einem moment der unaufmerksamkeit (vielleicht tatsächlich durch überforderung bedingt) aus dem unbewussten ins bewusstsein stehlen konnte. auch in meiner deutung sage ich „vielleicht“. damit möchte ich Sie animieren, durch freie assoziation selbst zu deuten. Ihre reaktion sieht nach einem sogenannten „widerstand“ aus, durch den unbewusste inhalte daran gehindet werden, ins bewusstsein gelangen zu können. aber ich sage das alles nicht definitiv. öffentliche psychoanlyse ist nicht immer angezeigt. bei dieser frage liegt sie meines erachtens drin. meine meinung ist, dass zur reformation auch die redormation gehört: das drüber schlafen und die traumdeutung – und die deutung von vertippern, verwählern. . . Sie können sagen, dass ich das unbewusst gewollt und damit provoziert habe. und da stehe ich dazu.

            1

            1
        • Corinne Duc
          Gepostet um 01:49 Uhr, 31. August

          (Selbst-) Rechtfertigung aus der (Erwachsenen-) Taufe? – Klingt das nicht irgendwie unprotestantisch?

          0

          0
          Antworten
  • michael vogt
    Gepostet um 18:15 Uhr, 27. August

    würde es ohne protestantismus das prinzip der selbst- und weltoptimierung nicht geben? es sähe anders aus. im mittelalter gab es den grundsatz, das möglichste zu tun. luther sagte: auch so kannst du nicht gerecht werden. der buddhismus sagt, das selbst sei eine illusion. wenn optimierung geschieht, dann nicht im selbst letztbegründet. das sagt auch die theologie, die der meinung ist, dass der mensch nichts von sich aus kann. wie sieht optimierung aus? wie kann sie gelingen? der protestantismus allein hat da wohl keine antwort, die nicht noch optimiert werden könnte. sein beitrag ist nicht zuletzt die kritik der optimierung, seine meinung wohl die, was auch andere sagen: wer sich nicht optimiert, wird optimiert (rm 3.28) – nur dass diesem paradoxon wohl gleich auch noch das wort optimierung zum opfer fällt.

    2

    0
    Antworten
  • michael vogt
    Gepostet um 11:28 Uhr, 03. September

    https://www.facebook.com/reformiertpunkt/photos/a.920315271442054/1462722653867977/?type=3&theater

    eben vernehme ich, dass die kurzsichtigeit auf dem vormarsch ist. ursache: zu viel nahsehen, zu viel wahrnehmung über den bildschirm oder das bildschirmchen. ist die digitalisierung thema, wurde bisher – wenn meine wenigkeit es nicht gerade machte – nie erwähnt, dass sie elektronische wiedergabe ist. daran kann sie scheitern. der ausstieg kann so aufwendig werden wie der aus den klimabelastenden energien. jetzt endlich kommt die sache zur sprache – und das ist das beruhigende daran, mit zwingli gesagt: „das tapfere“.

    0

    0
    Antworten

Kommentar abschicken