Wolkenbruch oder: Wozu Kino?

Schon lange wollte ich mir mal einen Film anschauen, der allen gefällt. Nicht einen, den ich aufgrund filmischer Kriterien ausgewählt habe, und bei dem man dann zu viert im Kino sitzt. Sondern einen, der in allen Kinos läuft und die Leute begeistert.  Meine Wahl fiel auf «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» von Michael Steiner. Ein Zürcher Kassenschlager, von dem ich nur Gutes gehört und gelesen hatte. Erwartungsvoll liess ich mich auf meinem Kinosessel nieder. Meine filmischen Kriterien konnte ich allerdings nicht an der Kasse zurücklassen. Dass sie zu mir gehören, habe ich bei dieser Gelegenheit festgestellt. 

Die Geschichte ist einfach. Wie bei Romeo und Julia finden zwei Menschen nicht zueinander. Nur sind es hier nicht verfeindete Familien oder unterschiedliche Klassen oder Schichten, die das verhindern. Und es handelt sich auch nicht um eine Tragödie mit Helden als Protagonisten und dramatischem Ende. Wir leben ja im 21. Jahrhundert. Hier geht es um zwei gesellschaftliche Milieus und ihre Repräsentanten: Um das orthodoxe Judentum, repräsentiert durch Motti und seine Familie und um ein anderes Milieu, repräsentiert durch Laura, von dem man eigentlich nur weiss, dass es nicht jüdisch orthodox ist. 

Genau genommen erfährt man auch vom orthodoxen Judentum nicht viel. Die Mesusa an der Haustür, die Motti immer berührt, wenn er kommt oder geht; der kleine Tallit, das Hemd mit den Schaufäden, das er trägt; die rituelle Waschung am Morgen; der Beginn des Sabbat am Familientisch – es sind religiöse Bräuche, die gezeigt, aber nicht erklärt werden.

Sie geben das Kolorit, um einen möglichst grossen Kontrast zu bilden zum anderen Milieu, das durch seine Bräuche, nämlich lässige Kleidung, Partys, Sex und Drogen dargestellt wird, die auch nur gezeigt werden. 

Motti und Laura lernen sich in einer Vorlesung kennen und finden aneinander einen Gefallen, der grösser ist als die Fremdheit, die sie füreinander darstellen. Worin das Gefallen genau besteht, wird allerdings nicht klar. Von Motti weiss man eigentlich nur, dass er eine schöne Frau will. Und weil die jüdischen Frauen, die ihm als heiratsfähig präsentiert werden, alle hässlich sind, fällt sein Auge eben auf eine Schickse, eine nichtjüdische Frau. 

Damit wird eine Handlung in Gang gesetzt, die so klischiert wie vorhersehbar ist. Die Mutter versucht mit allen Mitteln und viel Situationskomik, Motti mit einer jüdischen Frau zu verheiraten. Motti kann sich ihrer nicht erwehren; er kann ihr Vorhaben nur hintertreiben. Genau wie sein Vater, der zwar zu Motti hält, aber nur verstohlen und wenn die Mutter nicht dabei ist. Angesichts dieser mütterlichen Übermacht hat auch Laura keine Chance; es wird ihr alles zu viel. Am Schluss gewinnt die mütterliche Liebe, die Motti wieder in den Schoss der Familie zurückholt. 

Man muss sich um niemanden Sorgen machen. Alles ist zwar sehr theatralisch, aber immer safe. Man wird durch kein Problem affiziert, weil keines verhandelt wird. Man muss sich nichts wirklich überlegen. Auch die Aussage der sterbenden Frau Silberzweig, dass wenn sich alle Türen schliessen, auch wieder alle Türen aufgehen können, rutscht ohne Nachdenken ins Hirn. 

Schlecht gelaunt und entleert verlasse ich das Kino. Und ratlos. Ich verstehe nicht, warum so viele Menschen begeistert sind von etwas, das ich nur langweilig und flach finde. 

Das allerdings gibt mir zu Denken. Vielleicht geht es gar nicht um Laura und Motti. Und auch nicht um das orthodoxe Judentum in einer säkularisierten Gesellschaft. Im Film zwar schon, aber nicht in der Begeisterung der Leute. Die entzündet sich vielleicht an den vielen Szenen, in denen die Familie Wolkenbruch um den grossen Tisch versammelt ist. Schön ist er gedeckt mit Kristallgläsern und Weinkaraffe, mit erlesenem Geschirr und schönem Tischtuch. Leckere Speisen werden genussvoll verspiesen. Und dabei wird gelacht und geneckt, gestritten und gerangelt. Selten geht es um Politik, fast immer geht es um Familiengeschichten. Und bei all dem geht es vor allem um das, was an den offenen Gesichter, den leuchtenden Augen und einander zugewandten Körper abzulesen ist: um eine Familie, die zusammenhält. In der man sich gern hat, auch wenn man sich streitet. In der man füreinander da ist, auch wenn man Nebenschauplätze pflegt. Und zu der man unverbrüchlich gehört, auch wenn man sich ganz weit herauslehnt. 

Diese Begeisterung kann ich verstehen. Sie rührt an eine tiefe Sehnsucht. Gerade heute, wo alles auseinander zu triften scheint.

Aber es wäre mir trotzdem lieber, wenn sie durch einen gut gemachten Film geweckt würde. Und falls jetzt jemand sagt, den gäbe es nicht. Dann sage ich nur: «Fanny und Alexander» (1982) von Ingmar Bergmann.

Die Meinung der Autorin in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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10 Kommentare
  • Andrea Rembges
    Gepostet um 06:47 Uhr, 21. Dezember

    Ja, MÜSSTEN denn Tallit Katan und Mesusa explizit erklärt werden?
    Es ist ja kein Dokumentarfilm über die Bräuche des orthodoxen Judentums…
    Freundliche Grüsse
    Andrea Rembges

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    • Friederike Osthof
      Gepostet um 10:31 Uhr, 21. Dezember

      Stimmt, da habe ich mich unklar ausgedrückt. Mir geht es nicht um eine Erklärung im Sinne eines Dokumentarfilms. Aber das orthodoxe Judentum wird im Film doch eher schablonenhaft dargestellt, ohne dass ein Sinn der Rituale aufscheint, die für den Film wichtig wären.
      Freundliche Grüsse, Friederike Osthof

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 07:32 Uhr, 21. Dezember

    Ich gehör zu denen, welchen der Film gefallen hat – Kategorie Tragikkomödie? Nicht Dokumentarfilm? Und so ganz ohne Tiefgang scheint er mir nicht. Berührt hat mich die Szene, als Motti, von Mutter und Freundin rausgeworfen, in einem Hotel seine Gebete zu sprechen versucht und es nicht mehr kann. Es geht auch um einen jungen Mann, der offen ist dafür, seine Komfortzone zu verlassen, und einen hohen Preis zahlt dafür. Abgesehen davon ist er süss ☺️. Und ich hab grad Lust auf Tel Aviv gekriegt.

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    • Friederike Osthof
      Gepostet um 10:27 Uhr, 21. Dezember

      Liebe Barbara
      Es geht mir nicht um die Film-Kategorien. Bist Du sicher, dass dieser junge Mann seine Komfortzone verlässt? Immerhin flüchtet er sich in ein komfortables Hotel. Und es ist doch klar, dass er in den Schoss seiner Familie zurückkehrt.
      Und natürlich darfst Du den Film gut finden. Ich überlege mir ja gerade, woran es liegt, dass er mir – im Gegensatz zu vielen anderen – nicht gefällt.

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    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 18:37 Uhr, 22. Dezember

      Die Figur von Motti hat ja einen rel existierenden jüdischen jungen Mann zur Vorlage, der als Berater dem regissuer an die HAnd gegangen ist. Gerade diee Szene, so hat er es im Club geschildert, sei recht nahe an seinen Erfahrungen dran, als er aus dem orthododoxen Zürcher Judentum ausgestiegen sei. Hier noch der Link zum CLUB auf SRF zum Thema: https://www.srf.ch/sendungen/club/wolkenbruch-und-die-schickse-ist-lachen-ueber-juden-harmlos-2

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 07:58 Uhr, 21. Dezember

    „Fanny und Alexander“ ist übrigens alles andere als eine Komödie. Die lebt halt grad von diesen typisierten Rollenfiguren. Da liegt wohl das Problem bei dieser Filmbesprechung.

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  • michael vogt
    Gepostet um 08:58 Uhr, 21. Dezember

    angesichts der beinaheunmöglichkeit, eine antwort auf die weltprobleme zu finden, konzentrieren sich junge leute auf ihr eigenes leben. familiengründung gewinnt wieder an bedeutung etc . sie finden sich wohl in diesem film wieder.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 09:28 Uhr, 21. Dezember

    Genau, Herr Pfarrer. Amen.

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  • Alpöhi
    Gepostet um 14:55 Uhr, 22. Dezember

    Den Film hab ich nicht gesehen; nachdem ich das Buch gelesen hatte, hatte ich keine Lust auf den Film.

    Die Geschichte lebt von der Situationskomik, was auch die Absicht des Autors war (stand in einem Interview). Insofern unterhält die Geschichte durchaus.

    Die Handlung: So weit ich verstanden habe, muss Motti sich emanzipieren von seiner Herkunft, um die Freiheit und das „wahre Leben“ zu finden. Nur: Am Schluss des Buches ist Motti verprügelt, obdachlos, ausserhalb der Gemeinschaft, die ihn trägt. Ist Mottis Leben jetzt besser? War es das wert?

    Was bei mir einen schalen Nachgeschmack hinterlässt, ist: Motti muss sich emanzipieren von der Religion, in der er aufgewachsen ist. Das ist zwar zeitgeistig – aber ist es auch wahr? Und: muss man ausgerechnet das orthodoxe Judentum nehmen, um den Protagonisten sich davon emanzipieren zu lassen?

    Für mich ist insgesamt zu viel Effekthascherei in der Geschichte, und das orthodoxe Judentum wird schlechter dargestellt als nötig. Dadurch werden die Figuren lächerlich. Dass es auch wesentlich besser geht, zeigt z.B. Alfred Bodenheimer mit seinen Krimis.

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