Der Unschuldige

Irgendwo in der Agglo sieht Ruth einen Mann, der sie an ihren früheren Verlobten erinnert. Und schon bricht auf, was unter einem wohlgeordneten Leben verborgen und schon fast vergessen war.

Sie hat einen sanften Mann und zwei herzige, lebenslustige Teenie-Töchter. Ihr Einfamilienhaus, direkt am Waldrand gelegen, ist modern eingerichtet. Nichts Überflüssiges verstellt die Aufgeräumtheit des Hauses. Die Familie ist eingebettet in Leben und Glauben einer christlichen Freikirche.

Ich erzähle von dem Film ‘Der Unschuldige’ des Schweizer Regisseurs Simon Jaquemet, der gerade im Kino läuft. Neben dem, dass der Film durch eine in Bildern und Filmsprache sorgfältig erzählte Geschichte besticht, lotet er Fragen zu Möglichkeiten und Abgründen des Glaubens auf. Das interessiert mich.

Eines Nachts – Mann und Kinder schlafen schon – trifft Ruth im dunklen Wohnzimmer auf ihren früheren Verlobten Andi. Vor 19 Jahren war er nur aufgrund von Indizien für einen Mord verurteilt worden. Er selber hatte immer seine Unschuld beteuert; daher der Titel des Films: der Unschuldige. Den Kontakt zu Ruth hatte er nach seiner Verurteilung abgebrochen.

Ob er wirklich oder nur in Ruths Fantasie da ist, bleibt offen bis zum Schluss des Films.

Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis soll er nach Indien gereist und dort bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen sein. Das wissen alle. Nur Ruth glaubt es nicht, denn die Begegnungen mit Andi sind für sie real. Die beiden reden und schlafen miteinander. Andi ist zurückgekommen, um Ruth mit sich zu nehmen.

Doch Ruth zögert. Ihr Leben ist aus den Fugen geraten. Sie fühlt sich von Gott schwer geprüft. Und auch dem Ehemann, dem sich Ruth eröffnet, entgleitet die Situation. Er wendet sich an den Pastor der Gemeinde, der dem Chaos Herr zu werden versucht, indem er ihm einen Namen gibt: Wenn ein Toter zurückkehrt, ist der Teufel im Spiel. Der muss ausgetrieben werden, damit Ruth wieder in den Schutz und die Ordnung der Gemeinde zurückfindet.

Der Pastor redet auf Ruth ein, oder eigentlich auf den Teufel in ihr. „Da ist kein Dämon“, wiederholt Ruth immer wieder. Doch der Pastor hört ihr nicht zu. Für ihn ist klar, dass sie nur den Dämon schützt.

Der Pastor glaubt an den Teufel, der die Menschen versucht und an Gott, zu dem man sich in der Versuchung retten muss. Und darum glaubt er Ruth nicht und versteht nicht, in welcher Krise sie steckt.

Die Bilder und Begriffe dieses Glaubens bringen keine Rettung.

Sie bringen nur zum Ausdruck, was ohnehin schon da ist: Ruth tappt über sich selbst im Dunkeln, sie weiss nicht wie weiter und sie ist darin mutterseelenallein.

Bei ihrer Wiederaufnahme in die Gemeinschaft steht sie alleine auf der Bühne und die Gemeinde schaut stumm zu, wie Ruth eine Schuld bekennt, von der sie nichts weiss.

Die Bilder und Begriffe dieses Glaubens bleiben blind für die wahren Motive, die hier am Wirken sind. Ist es nicht vielmehr die Eifersucht, die den Ehemann das Sofa zerhacken und verbrennen lässt, auf dem Ruth und Andi miteinander geschlafen haben? Dafür findet sein Glaube keine Sprache.

Und blind bleibt der Glaube auch für den Affen, der an Ruths Arbeitsort, einem Labor gequält wird. „Vergiss den Affen“, sagt der Ehemann, „mach einfach Deine Arbeit“.

Doch Ruth kann das Leiden des Affen, dessen Kopf abgetrennt und auf einen anderen Körper transplantiert wurde, nicht länger mit ansehen.

Sie glaubt ihrer Zuneigung und hört auf ihre Empathie. In einer Nachtaktion tötet sie den Affen, der nicht leben und nicht sterben kann. Sie nimmt seinen Kopf und näht ihn mit grösster Sorgfalt wieder an den ursprünglichen Rumpf. Sie trägt den wiederhergestellten, toten Affen in den Wald, legt ihn auf einen Stein, streut Kieselsteine um ihn herum und ruft Gott an, seine Macht zu erweisen und ihn wieder lebendig zu machen.

Nichts geschieht.

Dann geht sie nach Hause, dreht die Gasflasche auf und legt sich neben ihre schlafenden Töchter ins Bett, um mit ihnen zu sterben.

Gerettet wird sie durch den Unschuldigen, der hereinstürzt, das Fenster aufreisst und sie ins Freie trägt. Am Schluss fährt Ruth mit dem Auto durch eine helle, südliche Landschaft. Sie öffnet das Fenster, Wind streicht ihr durchs Haar. Neben ihr sitzt der Unschuldige und lächelt. Ob unschuldig oder schuldig, ob real oder Fantasie, man weiss es nicht.

Aber sie lebt. Und darum lebt auch der Affe. Er regt sich auf seinem Stein, steht auf, kratzt seine Wunde am Hals und trollt sich in den Wald.

Trailer zum Film ansehen

Die Meinung der Autorin in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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6 Kommentare
  • michael vogt
    Gepostet um 07:27 Uhr, 08. Dezember

    „es ist ihre entscheidung“, wird etwa gesagt, wenn eine frau zu einem andern will. das hat mich nie überzeugt. der von aussen kommende ist höchstpersönlich verantwortlich dafür, was er gegenüber dem andern macht. der unschuldige will ruth aus dem ghetto herauslösen. ἀγάπη (agápē, liebe) heisst aber, sie darin zu unterstützen, das ghetto von innen heraus zu reformieren oder, wenn das nicht geht, es zusammen mit ihrem mann, mit ihrer familie zu verlassen. für keines der beiden bringt die filmbeschreibung ein argument, dass es zum vornherein nicht geht. der unschuldige ist der romantische retter, der die guten vor den bösen rettet, ohne einen gedanken an die bösen zu verschwenden. die rettung für ihn ist auf dem bild symbolisiert: die anteilnahme am leben und damit auch am leiden aller und die verheissung von fruchtbarkeit, dass auch für ihn leben möglich ist, ohne dass er anderes leben zu zerstören braucht.

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    • Anke Ramöller
      Gepostet um 10:43 Uhr, 08. Dezember

      Ja, das könnte man sich wünschen… Meine Erfahrung ist, dass der fundamentalistische Blick auf die Welt sich nicht von einem Einzelnen auflösen lässt. Eine Gemeinde kann zu übergriffig sein. Da hilft zunächst nur die radikale Abgrenzung, sonst wird der Sog in den Fundamentalismus noch zerstörerischer für den, der sich wehrt.

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      • michael vogt
        Gepostet um 16:22 Uhr, 08. Dezember

        „ein sanfter mann und zwei herzige, lebenslustige teenie-töchter“ – warum kann der unschuldige mit dieser sanftheit und lebenslust nichts anfangen? warum nimmt er sie zuletzt nicht auch mit?

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  • Anke Ramöller
    Gepostet um 10:37 Uhr, 08. Dezember

    Liebe Friederike, ich finde deine Gegenüberstellung: Dieser hier vorgeführte Glaube versus eine gegenwärtige Wirklichkeit, der mit diesem Glauben nicht beizukommen ist, sehr inspirierend.
    Der Film scheint da ja ein neues Bild für Auferstehung zu entwickeln.
    Vielen Dank für diese Filmbesprechung!

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  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 11:44 Uhr, 08. Dezember

    Scheint ein ziemlich krasser Film zu sein!

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