Keiner zu klein, ein Nazi zu sein

Martin Luther konnte seine Gegner wortwörtlich verteufeln. Heute, da niemand mehr an den Teufel glaubt,  funktioniert das nicht mehr. Die Personifizierung des Bösen ist jetzt der Nazi. Denn was ist das Schlimmste, was man jemanden schimpfen kann? „Nazi!“

Die Nazikeule wird dort, wo sie nicht mehr einfach nur bei sachlicher oder ideologischer Nähe zum realen Nationalsozialismus geschwungen wird, richtiggehend ad absurdum geführt.

Zwei aktuelle Beispiele: Die Essener Tafel, ein Wohltätigkeitsverein, der seit Jahrzehnten Esswaren an Bedürftige verteilt (dies allein mit privaten Spenden und grossem Einsatz von Freiwilligen) wird von Unbekannten Sprayern mit Nazi-Sprüchen bedacht, nachdem sie vorübergehend ihre Tafel für Ausländer schliessen musste. Letztere haben die deutschen Bedürftigen nämlich wortwörtlich verdrängt. Nun muss sich Jörg Sartor, der Leiter der Tafel, auch von der Kanzlerin massregeln lassen.
Zum Artikel im 20 Minuten

In Jerusalem kritisieren Oberhäupter der griechisch-orthodoxen und der armenischen Kirche ein neues Gesetz, welches die Besteuerung und den Handel mit kirchlichen Immobilien regelt. Das Vorgehen der Regierung erinnere sie an anti-jüdischen Gesetze der Nazis, echauffieren sich die Kleriker.

Man könnte noch weitere Beispiele für den inflationären Gebrauch des Nazivorwurfs anführen (etwa die AfD-Abgeordnete Weidel, die das Gebaren der Landeskirchen an die Zeit des Dritten Reiches erinnert). Je öfter der Begriff gebraucht wird, desto schneller entleert er sich. Ein Jörg Sartor ist das genaue Gegenteil eines Rassisten. Die israelische Regierung mit Nazis zu vergleichen, das traut man Antisemiten zu. Aber Kirchenvertretern?

Eine künstliche Nazischwemme zu produzieren, indem man überall böse Rassisten wittert, hat Folgen:

  • Der Begriff wird zum Schlag-Wort, historisches Wissen um das reale Nazitum verliert an Bedeutung.
  • Die Unschärfe des so gebrauchten Nazi-Begriffs verstellt die Sicht auf reale Nazis (bzw. Neonazis oder ideologische Verwandte).
  • Der Nazivorwurf ist das totale Totschlagargument. Mit einem „Nazi“ kann man nicht inhaltlich debattieren, d.h. wer das sachliche Gespräch verweigern will, braucht nur „Nazi!“ zu rufen.
  • „Nazi!“ ist ein Maulkorb: Wer nicht als Nazi beschimpft werden will, passt besser auf, was er sagt.
  • „Nazi!“ ist eine Schere im Kopf: Wer immer aufpassen muss, was er sagt, der passt auch besser auf, was er denkt. Und wer will von sich selber schon denken, er könnte womöglich doch ein wenig rassistisch sein. Vorwürfe und Zuschreibungen haben auch immer die Verinnerlichung zum Ziel, manchmal zur Folge.
  • Der Nazivorwurf ist das beste Ablenkmanöver.  Anstatt sich zu fragen, wieso eine Hilfstafel derlei Probleme mit Ausländern kriegt, dass sie zu einer Schliessung als Massnahme greifen muss, prangert man sie an. Anstatt die eigene Politik zu hinterfragen (Abertausende ins Land zu lassen, und dann nicht zu wissen, was man mit ihnen tun soll), ist es für die Kanzlerin feiler, einen überforderten Helfer in die Nähe des Rassismus zu rücken.

Als im Sommer 2014 bei Anti-Israel-Demos in Deutschland „Hamas, Hamas! Juden ins Gas!“ und „Sieg Heil!“ skandiert wurde, hielt man sich mit dem Nazivorwurf vornehm zurück. Denn die, die sich der Naziparolen bedienten, waren muslimische Aktivisten. Und dann hätte man sich selbst des Rassismus verdächtig gemacht.
Zum Artikel im Spiegel

Spätestens hier wird klar, dass der Nazivorwurf mittlerweile das infantile Niveau eines Schlagabtausches in der Art von „Was du sagst, das bist du selbst!“ erreicht hat.

Der Autor ist für diesen Beitrag verantwortlich und der Inhalt entspricht nicht in jedem Fall der Meinung oder dem Standpunkt der Landeskirche.

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4 Kommentare
  • Catherine McMillan
    Gepostet um 08:53 Uhr, 06. März

    Schlagwörter sind immer problematisch. Die Welt ist nicht so schwarz-weiss, wie man gerne meint. Obwohl für mich der Rassismus zum Schlimmsten gehört, bin ich froh um diesen Beitrag gegen das zu schnelle und oberflächliche Urteilen.

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  • Keiner zu klein, ein Nazi zu sein | quotenqueen
    Gepostet um 08:00 Uhr, 14. März

    […] Die Nazikeule wird dort, wo sie nicht mehr einfach nur bei sachlicher oder ideologischer Nähe zum realen Nationalsozialismus geschwungen wird, richtiggehend ad absurdum geführt. weiter Diesseits […]

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  • Christian Loewe
    Gepostet um 09:28 Uhr, 14. März

    Durch die Verwendung des Schlagwortes „Nazi“ soll auch von einer schleichenden, gesellschaftlichen Entwicklung hin zum Totalitären abgelenkt werden. Schlagworte im Allgemeinen verhindern Diskussion. Die Wahrheit ist, wenn überhaupt, die Summe einzelner kleiner Wahrheiten, Wahrheiten, die ein Mensch noch überblicken verarbeiten kann, Deswegen ist es notwendig, für die Argumente des Anderen offen zu sein, auch wenn sie nicht in das eigene Weltbild passen. Mit Hannah Arendt bin ich der Meinung, dass das Totalitäre wieder aus den Löchern kriecht, jetzt aber mit dem Argument gegen Nazis, für das Gute zu sein. Man verweigert sich der Realität, abstrahiert vom Realen, um mit der Abstraktion sich ein gutes Gewissen zu erzeugen.

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  • Heinz Schultze
    Gepostet um 21:55 Uhr, 16. März

    Der „Nazi“-Vorwurf ist ganz simpel abzuwehren:
    Einfach sagen – „Ich bin gerne Nazi“ und schon hat man seine Ruhe.

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