Lesen verboten?

Wird jemand zum Muslim, weil er den Koran liest? Der Optimismus scheint gross: «Lies!» und du wirst überzeugt sein. Das erinnert ein wenig an den Optimismus der Reformatoren: Lest die Bibel, und ihr werdet schon verstehen. Das hat dann allerdings nur teilweise funktioniert: Das Lesen der Bibel in der jeweiligen Volkssprache führte zu verschiedenen Auslegungen und Folgerungen und gerade nicht zu einem einheitlichen Verständnis des Glaubens. Das ist ein Problem für die reformatorischen Kirchen bis heute, sofern überhaupt noch die Bibel gelesen wird. Einheit wird eher dann gefunden, wenn Dogmatik oder Ideologie anstelle der Bibel tritt. Dazu gehört auch die Vorstellung, man müsse die Bibel nur «wörtlich» lesen und sie befolgen. Als ob ein wörtliches Lesen (welcher Worte in welcher Übersetzung) der Bibel gerecht würde.

Dem Lesen des Koran wird es nicht anders ergehen. Erstens kann eine Übersetzung die dichterische Schönheit des Originals in arabischer Sprache nur beschränkt wiedergeben. Zweitens ist der Koran ein sperriges Buch, dem etwas abgeht, was die Bibel attraktiv macht, nämlich die Geschichten! Man liest ja in der Bibel auch nicht nur das 3. Buch Mose und die Psalmen. Und drittens: Wenn man denn den Koran interpretieren darf und nicht einfach «wörtlich» nehmen muss, dann wird auch das zu verschiedenen Auslegungen führen. Das wäre an sich im Islam durchaus Tradition, wenn abweichende Auslegungen nicht sogleich mit Todesurteilen bedroht würden.

Allerdings haben gerade in der Reformationszeit auch Behörden reformierter Gemeinwesen Todesurteile gefasst. Etwa gegen die abweichende Auslegung der Täufer in der Tauffrage. Das sollte uns einerseits selbstkritisch bescheiden machen, und andererseits vorsichtig gegenüber staatlichen Verboten, die die Religion betreffen. Koranverteilverbot, Burkaverbot, Beschneidungsverbot: letztliche alles dasselbe? Als Religionsvertreter bin ich jedenfalls zurückhaltend, weil ich immer auch andere Motive dahinter vermuten muss: Werden beim Burkaverbot nicht auch pauschale antislamische Vorurteile bedient? Ob das «Lies!»-Verbot wirklich gewalttätigen Islamismus bekämpfen kann? Auch das Verbot der Beschneidung trägt potentiell antisemitische Aspekte in sich, was die Forderung sehr bedenklich macht. Und dann kommt mir auch der Subventionsentzug von J+S-Geldern an religiös aktive Jugendvereine durch das Bundesamt für Sport in den Sinn. Geht es da wirklich nur um Sport? Andererseits wäre Sport als Lockvogel für christliche Missionierung unfair. Und Koranverteilaktionen, die eigentlich der Gewinnung von Islamisten dienen, wären eine Pervertierung der Religionsfreiheit. Fairness und Transparenz auf allen Seiten und differenziertes Hinschauen sind gefordert.

Wenn der Rechtsstaat etwas verbietet, muss er sauber vorgehen und rechtstaatliche Grundlagen dafür haben, und es muss verhältnismässig sein. Die Bestrafung von Täufern war aus staatlicher Sicht zwar einigermassen verständlich: Immerhin verweigerten sie den Eid, die Steuern und die Beteiligung am Wehrdienst. Aber die Todesstrafe mittels Ertränken war mit Sicherheit nicht verhältnismässig. Und es wäre auch zu fragen, ob alle innerkirchlichen Diskussionsmöglichkeiten schon ausgeschöpft worden waren. Hätte die Kirche das nicht weiter ausdiskutieren müssen? Dafür nahm man sich leider auch in der Reformationszeit nicht immer genug Raum und Zeit. Man bekämpfte sich gegenseitig als Ketzer, und Religionskriege standen vor der Tür, die die Errungenschaften der Reformation auch sogleich wieder bedrohten. Diskussion tut ebenfalls not, gerade heute: Wir müssen miteinander über Religionsfragen diskutieren, wozu haben wir denn Meinungs- und Glaubensfreiheit. Muslime insbesondere müssen lernen, auch innerhalb ihrer Religion verschiedene Meinungen öffentlich auszutragen, aber auch Anfragen anderer Religionen entgegen zu nehmen. Wir sollten den Selbstregulierungsmöglichkeiten der Religionen einiges zutrauen, und sie sollten zunächst auch für sich selbst Verantwortung übernehmen.

Die Gesellschaft und der Staat insbesondere darf sich ebenfalls nicht zu schade sein, über Religionsfragen zu diskutieren. Der Ruf nach Trennung und Privatisierung von Religion löst da gar keine Probleme, nur weil man sich die politisch-philosophischen Hände nicht schmutzig machen will. Aber auch der Ruf nach absoluter Toleranz kann billig sein: Vor allem dann, wenn die, denen Toleranz gewährt wird, das nicht zugstehen würden, wenn sie denn an der Macht wären. Gegenüber Radikalismen müssen notfalls auch staatliche Massnahmen ergriffen werden, freilich nur gegenüber solchen, die zu Gewalt führen. Gerade aus der Täuferzeit sollten wir gelernt haben, dass radikaler Pazifismus zwar auch gefährlich werden kann, aber vor allem für die, die ihn leben! Das ist dann doch ein Unterschied: Radikale Religion ist nicht einfach immer dasselbe! Es darf auch einen «Extremismus der Nächstenliebe» geben. Vor allem aber sollten Religionen nicht ihre Regeln der Allgemeinheit aufzwingen wollen, und umgekehrt der Staat die religiöse Vielfalt respektieren, und die Gesellschaft lernen, miteinander zu diskutieren, auch über Religionsfragen. So gesehen, kann die Idee eines «Lies!»-Verbots zumindest ein guter Anstoss zur Diskussion sein, also eher ein Gebot «Redet miteinander!».

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11 Kommentare
  • Reinhard Rolla
    Gepostet um 07:35 Uhr, 15. Mai

    Auch die Kirchen müssen wandelbar sein. „Heilig“ ist ein zementierendes Wort. „Heilige Schrift“ ist ein Unding, ist doch auch die Bibel zunächst nur „Zellulose und Druckerschwärze“. Ein Inhalt kann für mich „heilig“ werden, weil er für mein Leben wichtig oder sogar entscheidend ist. Aber das ist dann (m)eine „Glaubenssache“. Und Glauben ist meiner Überzeugung privat und intim (Jesus: „Geh, wenn du beten willst, ins stille Kämmerlein und schliess die Tür. Und dort bete zu deinem Vater, der ins Verborgene sieht.“)

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    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 08:21 Uhr, 15. Mai

      Ja genau, alles andere ist Fetischismus. Religion hat jedoch immer auch einen öffentlichen, wenn nicht gar politischen Charakter.

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    • Anita Ochsner
      Gepostet um 10:42 Uhr, 15. Mai

      Ich denke echter Glaube geht nicht ohne im „stillen Kämmerlein“, den Glauben Privat und intim zu leben.
      Dann aber auch, meine ich, dass der Glaube auch im Austausch mit anderen gelebt werden können soll, oder gelebt werden will. Für mich ist es ein wichtiger Teil den Glauben auch in einer Gemeinschaft leben zu können. Es braucht beides. Vielleicht ist es unter anderem auch das was Frau Gisler Fischer mit „öffentlichem Charakter“ meint.
      Und auch, über die „heilige Schrift“ im Austausch sein können mit anderen.
      Wenn der Glaube alleine nur „im stillen Kämmerlein“ gelebt werden kann, ich weiss nicht ob hier nicht etwas Wichtiges fehlt. Wenn er alleine so gelebt werden will?
      Für mich geht das nicht.
      Mir kommt da auch: Wo ging Jesus hin um zu beten, alleine zum Vater (Gott) ? Wo ging er hin um zu lehren?

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  • Samuel Burger
    Gepostet um 09:49 Uhr, 15. Mai

    Ein deutscher Polizist sagte einmal, die «Lies»-Aktionen seien auch für ihn praktisch gewesen. Wenn er jemanden aus Salafisten-Kreisen suchen musste, wusste er immer, wohin zuerst…

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  • Bruno Amatruda
    Gepostet um 11:43 Uhr, 15. Mai

    Lieber Michel
    Ein wichtiges, aktuelles Thema, Danke! Dein Artikel ist sehr ausgewogen. Ich selbst bin da viel skeptischer, was die Lies!-Aktion angeht. Mit Fanatikern kann man eben genau NICHT reden. Der Grundfehler, der m.E. bei Themen wie Salafismus, Lies!, IZRS oder Burka ständig begangen wird, ist der, das Ganze unter „Religion“, „Religionsfreiheit“ etc. abzuhandeln. In Tat und Wahrheit geht es dem Salafismus aber nicht um Innerlichkeit/Frömmigkeit, sondern um politische Einflussnahme und Expansion. Diese Aktionen und Gruppen gehören verboten, weil sie -ähnlich wie Scientology in den USA- die Religionsfreiheit als Deckmantel missbrauchen, um destruktive Ideologien in die Mitte der offenen Gesellschaft zu tragen. Hinter Lies- und Mohammedbiographie-Buchaktionen stehen einschlägige und finanzstarke Kreise, welche eine eigene anti-westliche, anti-demokratische, anti-aufklärerische POLITISCHE Agenda führen und eine Bedrohung darstellen. Der Staat muss seine freiheitlichen Errungenschaften schützen und das heisst manchmal auch, hart an die Grenze zu gehen mit Verboten und Überwachungen.

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    • Michel Müller
      Gepostet um 12:19 Uhr, 15. Mai

      Lieber Bruno

      Ich bin einverstanden und ebenfalls sehr skeptisch, was das Reden mit den Salafisten angeht. Mein Schlussatz war eher der Pointe geschuldet…
      Man sollte denen auch keine Plattformen in den Medien anbieten, das bringt nichts (Nora Illi, Telezüri…). Mein „redet miteinander“ bezieht sich vielmehr generell darauf, dass wir Diskussionen über Religion nicht aus dem Weg gehen.

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      • Bruno Amatruda
        Gepostet um 10:33 Uhr, 16. Mai

        Lieber Michel
        Da bin ich ganz Deiner Meinung. Die Rolle der Medien ist eh ein Fall für sich. Gewisse Randphänomene werden so aufgebauscht und erhalten Gratiswerbezeit. Kontraproduktiv ist das.
        Gruss

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    • Mike Chudacoff
      Gepostet um 15:24 Uhr, 15. Mai

      Das finde ich sehr zutreffend. Doch müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein, damit der Staat eingreifen kann. Sonst könnten wir jede angeblich extremistische und staatsfeindliche Organisation verbieten (Kommunisten, radikale Evangelisten, oder eben Wehrdienstverweigerer, wie es die Täufer waren…). Siehe dazu http://www.nzz.ch/umstrittene-koranverteilaktion-bern-bremst-mario-fehr-ld.1290899

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  • Verena Thalmann
    Gepostet um 12:23 Uhr, 15. Mai

    Echt gute „Beleuchtung“ von verschiedenen Seiten! Wichtige Gedankenanstösse und Tatsachen, die zum Dranbleiben motivieren und wo immer möglich, (wenn auch manchmal im Kleinen) zum Tun anregen.
    Vielen Dank für den bemerkenswerten Artikel !

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  • Anonymous
    Gepostet um 14:06 Uhr, 17. Mai

    Danke für diesen sehr differenzierten Beitrag. Wir könne lernen aus den Fehlern gegenüber den Täufern. Vor 500 Jahren waren wir ja fast auch so was wie Salafisten…

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  • Anonymous
    Gepostet um 20:05 Uhr, 12. Juni

    naiver gehts nimmer

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