Macht oder Sinn

Ein Gedanke von Yuval Noah Hararis thesenschwangerer Abhandlung „Homo Deus“ hat mich über die Ferienlektüre hinaus beschäftigt. Die moderne Gesellschaft – damit sind wir gemeint – habe Sinn zugunsten von Macht aufgegeben. Wir haben gelernt, wie Blitze entstehen und wie man Blitzableiter baut, wissen, was Tumore sind und können sie manchmal in Schach halten und haben uns – immer mehr, wenn auch noch nicht überall – die Welt zum Wohle des Menschen und nicht zur Ehre der Götter eingerichtet. Wir sind mächtiger als alle Generationen vor uns und ohnmächtiger angesichts derjenigen Sinnfragen, die unser Leben angesichts einer erträumten oder auch nur vorgestellten Ganzheit in den Blick nehmen wollen.

Im Himmel werde ich belohnt

Im Hintergrund dieses Befunds steht das Bild antiker, mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Gesellschaften, die über den Himmel und die mit ihm in Verbindung stehenden Könige und Priester jederzeit mit sinnverfüllenden, wenn auch sachlich falschen Konzepten für ihr Leben und Sterben versorgt waren. Keine Ernte? Gott straft uns für den liederlichen Lebensstil. Ein Erdbeben? Die Götter kämpfen miteinander. Ich bin ein armer Knecht und habe keine Chance je Gutsherr zu werden. Das ist mein Platz in der Welt. Im Himmel werde ich belohnt.

Die Hauptsache ist nicht die Hauptsache

Wahrscheinlich hat man das wirklich so gesagt. Das kann gut sein. Aber hat es den einzelnen wirklich Sinn gegeben? Wenn wir heute angesichts eines Todesfalls sagen, dass die Zeit für XY halt abgelaufen war, finden wir das dann wirklich sinnstiftend? Wenn wir uns zum Geburtstag alles Gute, nämlich Gesundheit und Wohlstand wünschen und angesichts finanzieller Verluste behaupten: „Hauptsache gesund!“, meinen wir dann mit dieser Hauptsache wirklich das, was unser Leben zusammen hält? Hätte der frühmittelalterliche Bauer tatsächlich ein theologisch-teleologisches Konstrukt abrufen können, wenn er seine gesellschaftliche Stellung hätte erklären wollen? Und hat die Mutter in der Antike angesichts eines durch ein Unwetter verlorenen Kindes  tatsächlich Trost darin gefunden, dass die Bewohner des Pantheons das höchst selbst verursacht haben? Oder waren und sind all das stammelnde Versuche auszudrücken, was wir nicht wissen, über das nachzudenken, was uns schlechterdings irrational erscheint, was wir gerade nicht sinnvoll annehmen und begreifen können?

Blitzableiter bauen

Ich vermute und hoffe, dass Harari nicht Recht hat. Dass wir Sinn nicht gegen Macht eingetauscht haben. Sondern dass der Kampf gegen Sinnloses die Menschheit mächtiger gemacht hat. Und hoffentlich auch mächtiger, um Sinnvolles, Wertvolles zu schaffen und zu erhalten. Vielleicht haben wir einfach mehr Mühe als unsere Mütter und Väter zu akzeptieren, dass es keinen übergeordneten Gesamtsinn gibt, den wir verstehen. Sondern dass uns „nur“ bleibt, Blitzableiter zu bauen, Tumore zu bekämpfen, Hunger zu stillen und CO2 zu sparen – und uns kindlich-schelmisch darüber zu freuen, dass wir dadurch länger leben, unsere Zukunft freier gestalten und nicht vom Blitz getroffen werden. Alles andere bleibt wohl beten.

Die Meinung des Autors in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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14 Kommentare
  • Anonym
    Gepostet um 08:52 Uhr, 03. September

    Ich denke nicht , dass der Kampf gegen Sinnloses uns mächtiger macht, aber er sollte trotzdem immer wieder versucht werden. Vielleicht bewirkt er ja doch etwas, vielleicht macht er uns auch demütiger, weil wir nicht alles erreichen, das wir möchten..
    Wir brauchen auch nicht zu akzeptieren, dass es keinen Gesamtsinn gibt, im Gegenteil: wenn Sie meinen, dass einem das Beten bleibt, dann akzeptieren Sie ja doch wohl insgeheim, dass da Jemand ist, der etwas mit uns im Sinn hat- und wenn Sie die Bibel kennen, wissen Sie auch, dass es Gutes ist. Warum wir trotzdem und sogar trotz Blitzableiter manchmal vom Blitz getroffen werden? Die Antwort bekommen wir wohl erst später, falls sie uns dann überhaupt noch interessiert.

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  • Samuel Burger
    Gepostet um 09:30 Uhr, 03. September

    Ich hatte nach dem Lesen dieses Buchs einen zwiespältigen Eindruck: Einerseits spürte ich bei Harari eine angstvolle Faszination darüber, dass Algorithmen uns einmal beherrschen werden, andererseits ruft er am Schluss entschieden dazu auf, anderen Werten als der Macht mehr Raum zu geben. Was mir fehlte, war eine Verbindung zwischen beidem. Und das ist ja auch unser Problem: Wie gehen wir verantwortungsvoll mit Macht und Machtlosigkeit um – mit Welt gestalten und vom Schicksal gestaltet werden? Da wäre die Theologie mal wieder gefragt. Gibt es eine Formel, die beides zusammenbringt?

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    • Stephan Jütte
      Gepostet um 10:44 Uhr, 03. September

      Lieber Samuel Burger, vielleicht gibt es keine Formel, aber es gibt immer wieder Menschen, denen es gelingt, diese Spannung aus Veränderungskraft und Hingabe im Leben zu praktizieren. Besonders eindrücklich finde ich das schlichte Gelassenheitsgebet (vielleicht von Niebuhr):
      Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
      den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
      und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

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      • Samuel Burger
        Gepostet um 15:37 Uhr, 03. September

        Vielleicht hat auch Harari noch eine Formel. Sein neues Buch ist unterwegs: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert.

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      • Samuel Burger
        Gepostet um 15:39 Uhr, 03. September

        Ich finde das auch eindrücklich formuliert. Aber was ist das genau, was ich ändern kann und was nicht? Über diese Frage lohnt es sich trefflich zu diskutieren und manchmal auch zu streiten…

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      • Barbara Oberholzer
        Gepostet um 17:16 Uhr, 03. September

        Definitiv von Reinhold Niebuhr 🙂

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  • Corinne Duc
    Gepostet um 12:33 Uhr, 03. September

    Es ist ja nicht nur so, dass hauptsächlich bis zu uns tradiert (und auch geschrieben) worden wäre, was den (nach traditioneller Vorstellung) „Mächtigen“ gerade so passte (während der grösste Teil der Bevölkerung weder lesen noch schreiben konnte und keine „Allgemeinbildung“ im heute verwendeten Sinn erhielt). Im Mittelalter beispielsweise mag die Kirchenlehre (oder was davon verbreitet wurde) im Volk auch deshalb einigermassen akzeptiert gewesen sein, weil diese Institution bspw. ermöglichte die „überzähligen“ Kinder ins Kloster abzugeben und sich dabei ein gutes Gewissen zu machen (selbst wenn hinter den Kulissen über allfällige Missstände geklagt wurde).
    Ebenso wird es bei uns sein: Ideologie- oder Ideengeschichte ist immer auch Sozialgeschichte (und vieles mehr)…

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    • Corinne Duc
      Gepostet um 16:25 Uhr, 03. September

      und nicht zu vergessen die klösterlichen Bierbrauereien, Weinkellereien, Schnapsbrennereien… Schliesslich waren Alkoholika oft nicht nur kalorienmässig das wichtigste Nahrungsmittel, sondern angesichts des Mangels an sauberem Trinkwasser häufig auch die – ähm – „sichersten“, ?weniger rasch krank machenden? angenehmsten? Getränke…

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  • Anke
    Gepostet um 13:48 Uhr, 03. September

    Mich haben die Kommentare und dein Ausgangstext, lieber Stephan, gerade dazu gebracht, das Wort Hingabe neu für mich zu deuten. Beten könnte dann eine Handlung sein, in der ein Mensch „sich selbst ganz loslässt“ und (irrational, fern aller rationalen Erklärungsmöglichkeiten) Teil von etwas Grösserem wird, das er selbst nicht versteht. Wenn derselbe Mensch wieder auftaucht aus dieser Handlung, kann er – manchmal – gerade durch dieses Loslassen stärker sein, um das zu tun, was dieser Welt ein Fitzelchen Sinn hinzufügt. Das wird ein Algorithmus wahrscheinlich nie machen.

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    • stephan jütte
      Gepostet um 08:24 Uhr, 04. September

      liebe anke, danke! nancy beschreibt an einer stelle das gebet als empfang, als öffnung zur welt.
      mir leuchtet das sehr ein und ich musste bei deinem kommentar grad dran denken 🙂
      schönen tag!

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  • michael vogt
    Gepostet um 15:44 Uhr, 03. September

    erfahren wir das universum als sinnvoll, ist es das auch. alles kommt aus demselben ursprung – auch das, dass wir, was daraus kommt, als sinnvoll erfahren. das innerste in unserer gesellschaft ist das kind. die silbe -in(n) weist auf die verbindung von kind, der endung -in, yin und sinn hin. ich schlage vor, die endung -in intuitiv zu verwenden. so gewinnt unsere leben an sinn. es kann sinnvoll sein, die frage nach dem sinn nicht zu stellen oder ihre antwort zu verweigern. den gesamtsinn grundsätzlich in frage zu stellen, ist aber in meinen augen eine unterschätzung der allmacht. der tod des todes ist es, der die welt besser, sinnvoll macht, objektiv und in der subjektiven erfahrung. die wahrheit offenbart sich selbst, wann, wo und wie sie will. und mit ihr die sinnerfahrung. sinn ohne wahrheit ist wie yin ohne yang. ohne gerechte macht. die sinnerfahrung hat ihren ort unter den augen. wohl die verbindung der spezifisch menschlichen gehirnregionen mit dem rest des rumpfs. sie kann sich auf die ganze haut ausbreiten. vermittlung von sinn von haut zu haut. das ist aber nicht eine „gemachte“ erfahrung. sie kommt aus einem gesamten. alles, was zum innersten in unserer gesellschaft in verbindung steht, hat sinn. objektiv, weil es diesem kleinsten und schwächsten etwas bringt. und subjektiv, weil dieses besondere leben von dort herkommt. aber keine anthropologische reduktion. evolution als person. in ihrem gesicht die sinnerfahrung. mein leben hat sinn, weil sie mich anschaut. bevor ich etwas tue.

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  • THOMAS GROSSENBACHER
    Gepostet um 18:56 Uhr, 03. September

    Danke, lieber Stephan. Mir kam beim Durchlesen des Blogs und den eingegangenen Kommentaren die heute oft gehörte Redewendung „das macht Sinn“ in den Sinn. Gut ist es darüber nachzusinnen, über Zusammenhänge und Dinge, die nicht aufzugehen scheinen, wie eine Gleichung oder Formel.
    Aber Sinn ergibt sich, er wird nicht gemacht. Sinn ergibt sich, wie die „Wahrheit [sich ergibt] in guten Gesprächen mit Freunden bei einem Glas Wein“. (Bei Heiner Ott (1929- 2013, Prof. für Systematik in Basel).
    Ich würde hinzusetzen: Sinn ergibt sich vielleicht“. Orandum est. Die Ohnmacht, die Sinn nicht macht gebietet es.
    Doch wenn sich Sinn ergibt, zeigt, ja einleuchtet, dann spielt es keine Rolle, ob und inwieweit wir aktiv mit drin waren in seiner Entstehung, oder ob wir ihn einfach gefunden haben. Einsicht ist Geschenk. Es geht beim Sinn um mehr, als das, was in unserer Macht ist. Ob wir das heute erspüren und nachvollziehen können in einer Macherwelt, die die Ohnmacht fürchtet, wie der Teufel einst das Weihwasser?

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    • michael vogt
      Gepostet um 01:32 Uhr, 04. September

      sinn als verbindung zum ganzen. daraus der sinn für das einzelne. die menschheit stürzt sich gerade wieder in etwas. „cur homo deus?“ mensch und maschine. der liebe gott macht aber alles ohne maschine. mensch ohne maschine. zurück zum wurm, der das erdreich auflockert, statt es immer fester zusammenzudrücken. in „antwort des glaubens“ schreibt der nachfolger karl barths in basel, wenn ich mich an meine lektüre in den siebzigern recht erinnere: wie immer das auch sei mit dem sinn, unbestreitbar ist die sinnerfahrung. niklas luhmann sagt, sinn sei reduktion von komplexität. wir erachten es als sinnvoll, zu unseren bekannten zu fahren, können aber in einem weiteren kontext die klimabelastung nicht verantworten. eberhard jüngel postulierte dann die reduktion auf null und wollte damit wohl sagen: nicht der sinn aus dem werk, sondern das werk aus dem sinn. grundlegender als die wahrheit aus dem gespräch ist ja auch das gespräch aus der wahrheit. andererseits kann der sinn für den sinn sich durch das im sinn begründete werk erweitern. das ist der menschheit – homo reus, deus reus, deus iustificans – für ihr neustes unterfangen zu wünschen.

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  • Corinne Duc
    Gepostet um 17:01 Uhr, 04. September

    Mir scheint ebenfalls zweifelhaft ob es wirklich hilfreich – und sinnvoll! – sei, hier (primär) von einem Gegensatz zwischen Macht und Sinn auszugehen.
    Einerseits scheinen manche Menschen sich bereits sinnerfüllt zu fühlen ohne das Bedürfnis zu haben, nach einem übergeordneten Sinn zu fragen oder sich daran zu orientieren – vielleicht gerade eben weil sie sich durch ihre Aktivitäten und Erfolge schon genügend erfüllt fühlen; weil es sich für sie so schon stimmig anfühlt.
    Natürlich kann man sich auf den Standpunkt stellen, so ein “eindimensionaler Sinn” entspreche bloss subjektiven Empfindungen; es fehle ein Bezug zu etwas Höherem, Transzendenten oder Absoluten, durch welches einem Subjekt und seinen Empfindungen erst tiefere Bedeutung verliehen werden könnte. Allerdings kann man auch bereits in einer kleinen Gemeinschaft von Gleichgesinnten eine relative Erweiterung der Sinndimensionen erfahren.
    Auf der anderen Seite scheint es Menschen zu geben, denen das nicht genügt und die daher nach einem übergeordneten Gesamtsinn suchen. – Dass solche Menschen gegenüber Versuchungen generell, oder Macht zu missbrauchen bzw. an sich zu reissen im Speziellen immun wären, scheint mir aus der Geschichte zwar nicht so klar hervorzugehen.
    Aber das liegt vielleicht insbesondere daran, dass es kaum je die eine oder andere Art von Selbst- und Welt- bzw. „All-“ verständnis in Reinform gibt und vor allem auch Konzepte, die eigentlich Übergeordnetes zu benennen dienen sollten, vereinnahmt werden können zu limitierten Zwecksetzungen. Unsere Beschränkungen erlauben es wahrscheinlich nicht, uns je rein und ausschliesslich an einem absoluten, übergeordneten Sinn zu orientieren. – Wenn wir meinen so etwas zu können sollten wir dies wohl als Hinweis darauf verstehen, dass wir irgendeiner Art von Fanatismus verfallen sind und den Sinn für die tatsächlich vorliegenden Probleme in dieser Welt ebenfalls verloren haben könnten.

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