Brot ist heilig

Es ging blitzschnell: Mit von Wut und Schreck gezeichnetem Gesicht springt mein Vater von der anderen Tischseite auf, packt das im Brot steckende Messer am Schaft, zieht es mit der Vehemenz und ausladenden Geste eines Arthus heraus und knallt es auf den Tisch. Was er in der Schimpftirade von sich gab, weiss ich nicht mehr. Was mir aus dieser Szene, die sich vor Jahren abgespielt hat, geblieben ist, ist der Schluss: «Wenn du so etwas tust, ermordest du das Brot, wie kannst Du nur. – Brot ist heilig!»

Gesättigte Generation

Ach, du unschuldiges Migros-Kind – moderne Unschuld eines Jungen, der Hunger höchstens als temporär lästiges Gefühl kennt! Ich habe mir nichts dabei gedacht, als ich das Messer nach dem üblichen Rumspielen während des Tischgesprächs ins Brot gesteckt habe. Ganz bestimmt hatte ich keine Mordgelüste. – Gefühlte 20 Jahre später werde ich wieder an diese Episode erinnert, als ich eines Abends im Speisewagen nach Haus gefahren bin: Einige junge Männer, Rekruten, hatten gerade etwas gegessen, der Kellner räumt gut gelaunt ihr Geschirr und Essensreste weg. Einer der Männer greift nach einem liegen gebliebenen Kanten Brot und wirft ihn dem Kellner zu. Dieser entsetzt sich ob dieser «Hilfe» und sagt – ich horche auf: «Das dürfen Sie nicht tun, Brot muss man mit Respekt behandeln. Brot ist heilig! Das kommt von Gott!» Es entfaltet sich eine etwas absurd anmutende Diskussion über hungernde Kinder in Afrika und Gutmenschentum, und mir wurde klar, dass die Jungen das vermutlich gar nicht anders begreifen konnten. Woher sollten sie auch – diese Generation kennt nur volle Vorratsschränke. «Unser täglich Brot»… Einst stand Brot als pars pro toto und Metapher dafür, dass man überhaupt etwas zu beissen hat. Unsere Arbeit trägt heute zu einem verschwindenden Bruchteil dazu bei, und über die Ungerechtigkeiten in dieser Welt zu debattieren, sind wir alle müde geworden. Es braucht also schon etwas Konzentration, um sich die Dankbarkeit zwischendurch wieder einmal in Erinnerung zu rufen.

Mein Vater konnte mir damals zwar keine weiteren Erklärungen geben, machte aber immerhin eine Andeutung auf Christus. Ja klar, man denkt ans Abendmahl und später an all die anderen Brotgeschichten in der Bibel. Unterdessen bin ich schlauer geworden und auf spannende Traditionen und Glaubensvorstellungen gestossen, auch in Vaters süditalienischer Heimat. In einem Landstrich, der bis vor nur einer Generation bitterste Armut und Hunger kannte, hatte Brot einen besonderen Stellenwert. Meine Grossmutter sammelte mühsam liegengebliebene Ähren auf dem Feld zusammen. Das Bewusstsein über die Vereinigung von menschlicher Mühe und nicht Beeinflussbarem – harte Arbeit, Natur und Glück, Ordnung und Gemeinschaft – auf dem Weg vom Acker bis zur Tafel ist in Lukanien noch immer präsent und drückt sich in zahlreichen Riten, Gesten, Sprichwörtern und Glaubensvorstellungen aus.

Brotfrevel und «Food Waste»

Was bei meinem Vater Schrecken erzeugt hat, bezeichnet man als Brotfrevel, ein Begriff, der zumindest indirekt an die Heiligkeit dieses Ur-Nahrungsmittel der Menschheit gemahnt: Ehrloser und verschwenderischer Umgang, Achtlosigkeit und Missbrauch, aber auch das verweigerte Teilen des Brotes mit anderen sind hier angesprochen. Was heilig ist, ist heil, soll es bleiben oder wieder werden – so wird beim Überschreiten von Tabus eben «sanktioniert»: Brotfrevel wurde auch bei uns im Mittelalter, in der Sage meist durch übernatürliche Kräfte, bestraft. Und heute? Das schlechte Gewissen ist weitgehend ökonomisiert, Brotfrevel fällt vor allem in Form von Verschwendung auf und ist heute ein Unterbegriff eines modernen Ausdrucks geworden: Man spricht von «food waste». Überfluss durch Industrialisierung, der Glaube an gesetzlich verordnete Ablaufdaten: Das Heilige landet in Massen in der Tonne. Von Sünde mag man nur verhalten sprechen.

Brot-Wegwerfen ist in Süditalien immer noch undenkbar. Die traditionelle italienische Küche, besonders die regionale, kennt keine Resten. Früher Notwendigkeit, heute zelebrierte Lust am Überfluss. Ich liebe all diese alten Rezepte meiner Verwandten und Bekannten, wie man aus Übriggebliebenem – auch aus Brot – herzhafteste Mahlzeiten zubereiten kann. Wenn es denn Resten gibt. Zum einen mundet das Brot hier über mehrere Tage ausgezeichnet. Zum anderen sind die mangelerprobten Menschen gewohnt, sich zu organisieren: Während früher nur alle zwei, drei Wochen Brot in Gemeinschaftsöfen gebacken wurde (2 bis 5 kg schwere Laibe), beschränken sich Bäckereien auf dem Land bis heute darauf, das Brot zu verkaufen, das sie am frühen Morgen gebacken haben. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.

Die Seele von Land und Leuten

Ich kann verstehen, warum Brot hier nicht nur Beilage und noch immer heilig ist. Ich halte es wie Umberto Eco, der in einem Aufsatz über das Essen in Italien gesagt hat, dass man einen Ort, eine Kultur und deren Menschen über die Erfahrung des Essens am besten versteht. Bei genauem Hinsehen trifft das auf das Brot besonders zu. In Italien gibt es eine Vielzahl von regionalen Broten. Dasjenige von Matera zählt unterdessen zu den berühmtesten und es erzählt in Form und Gehalt einiges über diese Region, ist Zeugnis ältester Kultur.

Das Holzofenbrot mit seiner charmanten etwas klumpigen asymmetrischen Form wirkt wie ein Bergrelief und repräsentiert die Murgia-Hochebene, in welcher Matera liegt. Die Form erinnert mich zudem an eine volkstümlich weit verbreitete Brotfrevel-Warnung, wonach die Mehlseite eines Brotes immer unten liegen müsse, das Brot also nicht auf dem Kopf zu liegen kommen dürfe (Achtlosigkeit). Im Fall des Matera-Brotes einleuchtend: Die Welt würde auf den Kopf gestellt. Dass das Unglück bringen muss, ist offensichtlich. Mit dem Backen ist zudem ein besonderer Ritus verbunden: Bäcker und Familien drücken mit dem Messer drei Schnitte in den Teig und entbieten damit der Heiligen Dreifaltigkeit die Ehre. Das benachbarte Altamura lässt übrigens sein Brot wie ein Priesterhut aussehen. Oben und unten sind hier auch klar verteilt.

Wie die Form repräsentieren auch die Zutaten und die Art der Verarbeitung, die den besonderen Geschmack ausmachen, Matera und seine Umgebung, der Kornkammer Italiens. Rundherum wird das Brot ganz ähnlich, mit Nuancen in Rezeptur und in anderer Formung, zubereitet. Schon der römische Dichter Horaz, einer meiner Landsgenossen aus der Basilicata (Venosa), hat vom Brot der Murgia geschwärmt. Das Brot sei hier vorzüglich und kluge Wanderer laden davon auf die Schulter, so viel sie nur können (Satiren I, 5 77ff.). Das ist bis heute so: Wann immer wir aus Süditalien heimgefahren sind, wenn wir Besuch von unseren Verwandten erhalten haben, Brot aus der Heimat war immer im Gepäck. Manchmal zwei, drei Laibe. Wie es meine Grossmutter im Arm hielt und gegen das Herz geschnitten hat, ehrfurchtsvoll wurden sie gegessen, keine Krume durfte verloren gehen. Wie ich dieses gelbliche Brot mit dicker Kruste immer vermisse.

Brot ist zwar auch bei uns in der Schweiz in grosser Vielfalt vorhanden, das gesündere ist meist das teurere; mich schaudert regelmässig die Liste der Zutaten, wenn ich es im Supermarkt kaufen muss. Gott ist hier nicht selten künstliche Hefe und andere Zaubermittel, die das Brot aus längst nicht mehr genuinem Getreide frisch, duftend und korrekt koloriert erscheinen lassen.

Mütterliche Seele

Italiener legten schon immer Wert auf genuines Essen, denn da kommt Heimat und – nicht verwunderlich – Mutterliebe in den Fokus. Die Basilicata kann sich insofern glücklich schätzen, dass sie so lange abseits der Zeit gelegen ist, da sich Traditionen länger hielten und heute teilweise zum geschützten Markenzeichen werden können. Mit wachsendem Bewusstsein fürs Geschäft, aber auch für die Erhaltung von traditionellen Werten der eigenen Identität erfüllte sich der Ruf des «santo subito» 2008 in der Herkunftszertifzierung (IGP) des Brotes von Matera. Nur zweifach gemahlener Hartweizen aus der Basilicata, zum Teil eine antike Sorte namens Senatore Cappelli, Wasser und Salz, das sind die erlaubten Ingredienzien. Die Seele aber ist mütterlich: Mutterhefe, die aus der Aufweichung von Feigen und Trauben in Wasser gewonnen wird. Wer sich daran hält, darf ein reines Gewissen haben. (Auch wenn heute verbreitet auch Bierfhefe dazu kommt).

«Ich mag diese alten Sauerteigbrote», meldet sich Christus zu Wort, der nach dem Brechen des Brotes aufmerksam zugehört hat, «denn das Reich Gottes ist einem Sauerteig gleich, den eine Frau nahm und mit drei Scheffel Mehl vermengte, bis alles durchsäuert war (Luk 13,18).» Das Wort Gottes ist die Mutterhefe.

Was uns heilig ist

Mich beeindruckt die so beschriebene Heiligkeit von Brot, das neben seiner Funktion als Grundnahrungsmittel auch eine grosse symbolische, bisweilen spirituelle Bedeutung erhält. Eine der ältesten Bäckereien Materas heisst «Pane e Pace»; wer Brot im Haus hat, hat Frieden. Italiener essen ständig und zu allem Brot. Wer eine neue Wohnung bezieht, erhält Brot und Salz. Gastgeberpflichten sind in Süditalien noch immer heilig, gemeinsames Brotbrechen verbindet. Dieses Element am Abendmahl ist doch das eingängiste und erinnerte auch die Emmaus-Jünger daran, wen sie vor sich hatten.

Ich nehme das Messer wieder zur Hand und ritze ein Kreuz in den Anschnitt, der in unseren Schweizer Dialekten so viele Namen hat, in Italien verbreitet das andere Ende des Körpers bezeichnet. Bei allem, was uns heilig ist: Wenn wir den Respekt gegenüber dem verlieren, was uns nährt, verlieren wir ihn auch uns selbst gegenüber, denn der Mensch ist ja bekanntlich, was er isst… Santo pane!

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4 Kommentare
  • Anita Ochsner
    Gepostet um 16:23 Uhr, 25. November

    Da kommt mir unser eigener Sohn in den Sinn! .- ) Es geht einfach nicht, das Messer, -sei es noch so weils grad so schön versorgt ist, unschuldig aus einer Ausgelassenheit heraus geschehen-, in ein Brot zu stecken! Da kommt mir unweigerlich das Gefühl auf, es stecke in einem Leib! Es schmerzt. Die Gefühle, die Wertschäztung gegenüber dieser Nahrung, alles… Ich frage mich grad, woher kommt das?: Als wärs „in ein Leib gesteckt“? Obwohl, ich bin nicht „christlich sozialisiert“ wie man das so nennt. Aber hier ging es mir (uns als Eltern) gleichsam so, wie in dieser / Ihrer Geschichte.
    Am letzten Abend-Kurs „Anders“ Worte war der Vers „Unser tägliches Brot gib uns heute“ das Thema. Dazu kamen am Ende viele eigene Brotgeschichten aus der Gruppe auf. Mit allem was darin liegt, wie in diesem Beitrag beschrieben. Ich staunte wieviel wir mit Brot erleben und wieviel Bedeutung, bewusst oder unbewusst, dem Brot anliegt. Im Alltag und bei Feiern.
    An einem Fest einer Familie eritreischen Familie durfte ich das Brotteilen mit erleben. Es ist Tradition, dass ein Brot auf dem Rücken des Kindes, hier zum seinem 1. Geburtstag, vom ältesten Familienmitglied geteilt wird. Das soll ihm Glück, Kraft, Weisheit geben, ein Segen für sein Leben wird ihm darin gegeben.

    Als unsere Kinder noch klein waren, wurde „Brot backen“ ein wichtiger Teil. Mühlen im Freundeskreis fanden ihren Platz im Haushalt, Korn wurde eingekauft. Übers Brotbacken, Brot und seine Bedeutung haben wir uns oft ausgestauscht. Nur, ich kann mich an keine Unterhaltung, oder Handlungen erinnern in der es auch um Glaubens-Inhalte ging. Aus christilichem Glaube heraus gehandelt. Oder Vielleicht unausgesprochene?
    Bei der eritreischen Familie ist das klar anders. Hier war etwas von Abendmahl-Stimmung. Auf jeden Fall ein mit dem Glauben verbundenes Ritual, Tradition, wichtige ehrfürchtige, auch fröhliche Handlung. Dankbarkeit, dass sie heute zusammen da sein können. Dass sie heil angekommen sind, Kinder geboren sind. Ihre Feste sind heilig, das Brot ist bei ihnen heilig. So empfinde ich an ihren Festen. Bei uns… ? Freunden? Unseren Festen?
    Was liegt alles darin, wenn meine Tochter von mir fordert, den alten Zopf nun bitte weiter zu verwerten. Heisst, in eine Speise umzuwandeln, in der das Brot wieder genüsslicher essbar ist. Man wandelt etwas um, verleibt etwas hinein.. (?) so können wir (wieder) zusammen essen? Beim Brot Backen war für mich immer etwas davon mitdabei. Liegt es an den Zutaten? Mehl,Wasser Hefe. Die Verarbeitung: Das Mischen, Kneten, Aufgehen lassen, bis es in den Ofen geschoben werden kann. Die Wärme im Raum und am Schluss das warme aufgegangene Brot. Schon etwas heiliges. Brot backen wärmt drei Mal. Beim Kneten Backen Essen. ;- ) Und beim Wiederverwerten, kommen die alten feinen Brotrezepte zum Zug!
    Danke für das Brot in diesem Beitrag ,- )

    Wärmende Adventszeit wünsche ich allen da draussen und drinnen!
    herzlich
    anita ochsner

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    • Michael Mente
      Gepostet um 08:43 Uhr, 28. November

      Liebe Frau Ochsner,
      Vielen Dank für die – laib- und leibhaftig – schönen Kommentar. Da stecken viele Gedanken drin, die man gerne weiterverfolgen möchte.

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  • Rossella Gualtieri
    Gepostet um 22:03 Uhr, 30. November

    Schön geschrieben…kommt mir so familiär vor. Und übrigens: Brotresten entsorgen ist bei mir zu Hause ebenfalls immer noch Tabu… 😉
    Molto bene! 🙂

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  • Gisela Gruber
    Gepostet um 21:18 Uhr, 09. Juli

    Supper
    Ich hätte gerne ein brotrezept zur Hochzeitsfeier ihn der Kirche
    Wie soll ich das zubereiten
    Danke

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