Das Tagebuch der Menschheit?

Der Evolutionsbiologe und Anthropologe Carel van Schaik hat die Bibel zusammen mit Kai Michel, Historiker und Wissenschaftsjournalist, einer faszinierenden Relekture unterzogen: Als Tagebuch der Menschheit dokumentiert sie, wie Menschen mit natürlichen und kulturellen Umbrüchen umgegangen sind, wie sie sich nach der Sesshaftwerdung organisiert haben und welchen Regeln und Gesetzen sie als Kulturwesen ihre Natur unterordnen mussten.

Die Naturen des Menschen

Die Autoren unterscheiden zwischen drei menschlichen „Naturen“: Die biologische Natur umfasst unsere angeborenen Vorlieben, unseren Gerechtigkeitssinn, den Ekel, die Eifersucht und die Abscheu vor Inzest. In dieser ersten Natur wurzelt ebenfalls die Religion, welche die Autoren auf eine anthropologische Grundanlage zurückführen. Schon als Naturwesen eignet sich der Mensch eine Grundausstattung an Moral an, die ihn gemeinschaftsfähig macht. Unter den Bedingungen der Sesshaftwerdung genügt dies aber nicht mehr: Eigentum muss geschützt, Frauen müssen in Beziehungen gezwungen und als Besitz zugeordnet und soziale Rollen gefestigt werden. Dadurch entsteht die zweite Natur des Menschen: Der Mensch als Kulturwesen. Die dritte Natur greift immer dort ein, wo Konflikte zwischen der ersten und der zweiten Natur aufbrechen. Sie ist unsere Vernunftnatur. Ein anschaulisches Beispiel? Verheirateter Mann, nette Bekanntschaft, 1 Glas Wein: 1. Natur: Jeah! Liebe, Freude, Kribbeln… Los! 2. Natur: Treue und Ansehen im Freundeskreis! 3. Natur: Hypothek und Anwaltskosten.

Schockgefrorene Überlieferung

Durch die Kanonisierung vor ungefähr 1600 Jahren ist der Wissensbestand der Bibel „schockgefroren“ worden. Sie galt als das perfekte Buch des perfekten Gottes. Aber eben auch als das abgeschlossene – vielleicht sogar hermetische – Buch. Ein anderes Buch wurde seitdem immer wichtiger: Das Buch der Natur. Zeigt sich Gott nicht auch in seiner Schöpfung? Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein wirkt die Idee, dass der eine Gott sich in der Natur und der Offenbarung der Heiligen Schrift zu erkennen gibt. Dann aber zerbricht diese Vorstellung an der Umklammerung durch den Historismus – also dem Bewusstsein, dass auch Offenbarungen historisch-kontextuell eingebettet und bedingt sind – und den Wissenschaften, welche die Kontingenz plausibler bewältigen können. Klar, wir wählen angesichts des Gewitters den Blitzableiter und beten höchstens noch mit den kleinen Kindern, die sich trotzdem noch fürchten.

Schlechte Karten für die Landeskirche

Die Autoren des „Tagebuchs“ führen diese Weggabelung zwischen Religion und Wissenschaft auf die Kanonisierung zurück und diagnostizieren für die Gegenwart eine Überlebenschance für die Religionsgemeinschaften und Religiositätsformen, welche die archaischen Bedürfnisse der ersten Natur durch Sinnlichkeit, Ritus und Gruppendynamik zu bedienen wissen. So viel ist klar: Der Kulturprotestantismus aber auch die Landeskirchen haben ganz schlechte Karten in diesem Spiel.

Make Your Move

Aber muss das so sein? Freilich, die Wiederspruchsfreiheit zwischen Naturwissenschaften und Heiliger Schrift sind keine Sanktionsmittel mehr gegen die freie Wissenschaft, sondern sind zur Aufgabe für das Bibelverständnis geworden. Und das ist gut so. In diesem Sinne dürfte es zwischen Wissenschaften und Religionen ziemlich konfliktarm zu und her gehen. Aber es scheint mir, als hätte die protestantische Tradition ihren Zug im Spiel der Kulturgeschichte noch gar nicht ausgeführt: Wenn wir nämlich die mit dem Historismus verbundenen Erkenntnisse, also die kulturelle und historische Bedingtheit unserer Überlieferung, anerkennen, dann müsste die biblischen Texte nicht nur innerhalb ihrer eigenen kulturellen Genese, sondern angesichts der in der Kulturgeschichte der Menschheit sich ereignenden Offenbarung interpretiert werden. Nicht einfach jeder einzelne, sondern die Kirchen als Gemeinschaften, welche sich auf diese Offenbarungsgrundlagen beziehen, hätten dann die heiligen Schriften angesichts eines als Offenbarung verstandenen kulturellen Lernprozesses zu interpretieren und zu erklären. Das hiesse dann, dass wir die Bibel nicht nur in die jeweilige Zeit zu übersetzen hätten, sondern die Gegenwart in ihrer Geschichtlichkeit als Offenbarung des schon in der Bibel bezeugten Gottes zu verstehen hätten.

Geschichte und Gegenwart als Offenbarung

So kann die Kirche sich über homosexuelle Paare freuen, Frauen predigen lassen, von anderen Religionen lernen und die Wissenschaften ohne apologetische Abwehrhaltung mit Interesse wahrnehmen. Ohne abenteuerliche Bibelexegese, die im Nachhineien das biblisch-christlich taufen muss, was schon längst Commonsense ist. Und man kann den „Raubtierkapitalismus“ bekämpfen und delegitimieren, ohne dem Kaiser geben zu müssen, was des Kaisers ist. Die Kirche könnte ihrer Zeit voraus sein, statt hinter her zu hinken. Sie könnte durch Fiktionen – durch die Phantasie, die Gott in seinen Menschen beflügeln kann – eine neue Wirklichkeit herbei hoffen.  Dazu müssten wir Geschichte und Gegenwart als Offenbarung verstehen. Eine Offenbarung, die weder Bibel noch Natur, sondern Kultur und Geschichte ist. Und das bedeutet, schlicht damit zu rechnen, dass uns Gott nach wie vor etwas zu sagen hat. Ob das überzeugend ist, für jene, die sich intellektuell enttäuscht von der Bibel abgewandt haben und in der praktischen aber etwas kühlen Wohnung der (Natur-) Wissenschaft eingerichtet haben, hängt von dem ab, der zu uns spricht und sich uns zeigt und davon, wie gut wir zuhören und hinsehen.

Himmelschutz

Jesus soll einmal gesagt haben, dass das, was wir auf Erden für verbindlich erklären, auch im Himmel gilt und dass das, was wir auf Erden auflösen, auch im Himmel aufgelöst ist (Mat 18,18). Wenn das stimmt, dann wäre unsere Gegenwart – durch alles, was sie geworden ist – der Ort, an dem die Überlieferung sich durch unsere Praxis in den Himmel einschreibt. Und der Himmel wäre dann nicht weniger abhängig von uns Menschen, als unsere unmittelbare Umwelt. Unsere zweite und dritte Natur sind entscheidend für die die natürliche und spirituelle Grundlage unserer biologischen Natur. Bleibt zu hoffen, dass wir mit dem Himmelschutz besser vorankommen als mit dem Naturschutz.

(Carel van Schaik kann man im Salon um Sechs live hören und mit ihm diskutieren. Informationen finden Sie hier.)

Die Meinung des Autors in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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8 Kommentare
  • Andreas Losch
    Gepostet um 06:44 Uhr, 15. März

    Liebe Stephan, muss ich nochmal in Ruhe lesen. Jetzt nur gesehen: …sondern Kultur uns Geschichte ist… (kannst den Kommentar dann löschen)

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    • Stephan
      Gepostet um 08:18 Uhr, 15. März

      Merci! 😉

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  • michael vogt
    Gepostet um 15:05 Uhr, 15. März

    nach dieser zählung interessiert mich die natur 0, unsere ursprüngliche natur. in ihr ist alles enthalten. sie stimmt überein mit dem „letzten wort des neuen testments“, wie ich es nenne, das nicht zuletzt sagt, dass wir alles in allem erfahren. die notwendigkeit und bedeutung der technischen innovtion will ich überhaupt nicht bestreiten. ob wir aber mit den problemen wie dem klimawandel fertig werden, bei allem leiden, das sie mit sich bringen, doch – recht verstanden – zu rande kommen, ist meines erachtens abhängig davon, ob wir die natur 0 verstehen und uns nicht auf 1 bis 3 beschränken. die rückführung der religion und von was immer auf eine anthropologische grundlage ist eine reduktion. reduktion heisst rückführung – aber Sie vertehen, was ich meine. das geheimnis besteht darin, das geheimnis nicht zu reduzieren. nichts hat keine ursache ausserhalb seiner selbst, ausser dem gesamten. alles aus dem gesamten. alles aus allem. soweit alles in allem ist, sind wir person. oder andersherum: dieses gesamte ist personählich. es gibt die meinung, dass es sich in natur und geschichte apriorisch nicht offenbart. impliziert ist aber, dass es sich a posteriorisch sehr wohl durch natur und geschichte offenbart. unsere helige schrift versteht sich selbst nicht als abgeschlossenes buch, sondern als stückwerk. die frage ist weniger, ob wir während eines gewitters beten, sondern was wir angesichts eines gerade neben unserem naus einschlagenden blitzes beten. die chance der kirche besteht im fallen ihrer mauern. es geht gar nicht darum das eine stückwerk isoliert zu erhalten. offenbarung ist ein kultureller lernprozess, aber nicht nur. das ganze kann nur auf sich selbst zurückgeführt werden. ich würde den entsprechenden satz so abändern: offenbarung ist weder nur bibel noch nur natur oder nur kultur oder nur geschichte. und sie hat nicht nur eine menschliche oder natürlich grundlage. himmel und umwelt sind zwar abhängig von uns. das ist ein relevanter existentieller gesichtspunkt. aber andererseits sind auch wir – was unsere befreiung zu befreiender freiheit ausmacht – abhängig, und zwar nicht nur vom himmel und der umwelt 😉

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    • michael vogt
      Gepostet um 03:38 Uhr, 16. März

      korr.: es gibt die meinung, dass es in natur und geschichte apriorisch nicht erkennbar ist. impliziert ist aber, dass es aposteriorisch sehr wohl durch natur und geschichte erkennbar wird.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 16:18 Uhr, 15. März

    Wenn ich diesen Blogbeitrag (von Stephan) lese, merke ich, dass ich nicht Dr. theol. bin! Eine anspruchsvolle Lektüre. Aber ich versuche zu verstehen, und merke, dass mich einige Gedanken darin sehr ansprechen. Ist ja auch gut, wieder mal intellektuell gefordert zu werden 🙂

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 08:36 Uhr, 21. März

    Das war ein spannender Vortrag gestern von Carel van Schaik. Die Bibel als Tagebuch der Menschheit aus wissenschaftlicher Sicht präsentiert zu bekommen.
    Dass es dem Menschen angelegt ist zu teilen, für die Gemeinschaft zu sorgen, wie es den ersten Menschen als Sammler und Jäger eigen war. Dass die Vertreibung aus dem Paradies, mit Adam und Eva diese Zeit „beschreibt“ in dem die Menschen sesshaft wurden. Damit ganz andere Verlangen nach Besitztum aufkamen…
    Und mit Jesus das Teilen sich sorgen um Kranke und Schwache… auf das dem Menschen angelegte „zurückkommt“, dieses zu leben. (aus meiner Erinnerung ganz vereinfacht als Beispiele seines Vortrags gesagt)
    Was mich umtreibt in dem Ganzen, die Frage, ist denn Wissenschaft und Glaube so trennbar? Ich meine gerade durch eine wissenschaftliche Erklärung Sichtweise, erscheinen gerade hier an diesem Beispiel, die Bibel als Tagebuch der Menschheit zu beleuchten, doch auch Verbindungen zum Glauben. Ist es denn dem Menschen nicht genauso angelegt an etwas Grösseres, das Überalles hinausgeht zu glauben? Genauso wie teilen und sorgen wollen für andere – eigentlich (? ). ??

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    • Corinne Duc
      Gepostet um 17:17 Uhr, 21. März

      Die von den beiden Autoren präsentierten Ansichten sind keine wissenschaftlichen Erklärungen. Wissenschaft sollte sich viel mehr an den Kriterien der Überprüfbarkeit und Stringenz von Behauptungen oder Aussagen orientieren.

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      • Anita Ochsner
        Gepostet um 08:55 Uhr, 22. März

        Wie ich im Vortrag verstanden habe, ist das so, wissenschaftlich Untersucht….
        Wie dem auch sei. Diese Ansichtsweise wie sie vorgestellt wird, finde ich interessant und regt an, sich neu mit der Bibel zu beschäftigen …
        Für mich vielleicht gerade parallel mit dem Buch „Tagebuch der Menschheit“.
        Gleichsam der neue Beitrag von heute, erklärt einiges das im Vortrag auch zur Rede kam, gerade im Blick auf die Gleichstellung von Frau und Mann … wie das Jesus gelebt hat.

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