Der Kampf um die Berührbarkeit des Auferstandenen

„Maria stand draussen vor dem Grab und weinte. (…) Sie wandte sich um und sah Jesus dastehen. (…) Sie meinte, es sei der Gärtner. (…) Jesus sagte zu ihr: Maria! Da wandte sie sich ihm zu und sagte: Meister. Jesus sagte zu ihr: Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen.“ (vgl. Joh 20,11-18)

Nach der Hinrichtung Jesu am Kreuz ist Maria von Magdala verzweifelt. Sie geht zum Grab. Im Garten kommt sie etwas zur Ruhe. Sie empfindet etwas von heiliger Gegenwart. – „Bist Du es?“ –

Wie sollen wir diese göttliche Gegenwart verstehen? – Offenbar ist es keine Realität, die man einfach anfassen kann, nichts, was man einfach festhalten kann. Später ist es der Bibel aber wichtig, dass der Auferstandene berührbar ist.

Verschiedene Stellen im Neuen Testament berichten, wie der Auferstandene berührt wird und auch Nahrung zu sich nimmt. – Das richtet sich gegen die Doketisten, die die leibliche Auferstehung damals leugneten. Es sei wohl nur eine „Erscheinung“ gewesen.

Die Menschen im Frühchristentum versuchen, mit den Denkmitteln der damaligen Weltanschauung zu verstehen, was der Glaube sagt. Wenn er auferstanden ist – war das vielleicht nur eine Erscheinung? – War es nur ein geistiges Phänomen?

 

Ist die Welt erlösungsfähig?

So urteilen damals die Gnostiker, das ist eine Denkrichtung in der Nachfolge der platonischen Philosophie. Sie denken sich die eigentliche Welt geistig. Die materielle Welt sei nur eine Nachbildung der wahren Wirklichkeit. Auch das Eigentliche des Menschen liege in seiner Seele, diese sei wie ein Geistfunken in seinen materiellen Körper eingesperrt und müsse daraus befreit werden.

Damit reagieren die Gnostiker auf die Zeitläufte. Es ist eine pessimistische Sicht, eine Antwort auf die Erfahrung von Krieg und Unrecht. Diese schlechte, korrupte, gewalttätige Welt, die sie erleben, ist für die Gnostiker nicht verbesserungsfähig. Sie kann nicht erlöst werden. Der Mensch kann nur aus dieser Welt erlöst werden – durch Rückkehr in seine wahre, geistige Heimat.

Jetzt wird verständlich, warum es im Früh-Christentum einen langen theologischen Kampf um die Berührbarkeit des Auferstandenen gegeben hat:

Indem die Bibel auf der Berührbarkeit des Auferstanden beharrt, bewahrt sie die Auferstehung als Hoffnung für die ganze Welt, auch für die Gesellschaft, auch für die Opfer dieser Zeitläufte.

Das „Reich Gottes“ ist für sie nicht nur ein geistiges Reich der Ideen, sondern eine reale Hoffnung auf ein Zusammenleben der Menschen in Gerechtigkeit und Frieden. Es ist auch eine soziale und politische Hoffnung, die alle Menschen vereint, statt sie in einer privaten Frömmigkeit zu isolieren.

 

Stigma und Tabu

Christus erscheint nach seinem Tod den verängstigten Jüngern. So erzählt das Johannes-Evangelium. Thomas ist nicht dabei, er glaubt der Erzählung der Jünger nicht: „Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und wenn ich nicht meinen Finger in die Male der Nägel und meine Hand nicht in seine Seite lege, glaube ich nicht.“ (Joh 20,19ff)

Christus erscheint ein weiteres Mal, diesmal ist auch Thomas dabei. Und Thomas, der Zweifler, berührt die Wundmale. – Und siehe: Auch der Auferstandene weist die Wundmale auf: der Auferstandene ist derselbe wie der Gekreuzigte.

Das Stigma ist hier so etwas wie ein Gegenbegriff zum Tabu. Beschreibt das Tabu das, was unberührbar ist, geht es dem Stigma im Gegenteil um Berührbarkeit.

Es ist der Punkt, wo der Auferstandene berührbar ist.

Es ist der Beweis für die Erlösungsfähigkeit der Welt.

 

Jesus als Tabubrecher

Auch Jesus hat das Berührungs-Verbot durchbrochen. „Und es kam zu ihm ein Aussätziger, der bat ihn, kniete nieder und sprach zu ihm: Willst du, so kannst du mich reinigen. Und es jammerte ihn und er streckte die Hand aus, rührte ihn an und sprach zu ihm: Ich will es, sei rein!“ (Mk 1,40f)

Jesus berührt einen Aussätzigen. – Das ist vielleicht das strengste Tabu, das es damals gab: dass ein Aussätziger nicht berührt werden darf. So steckt man sich an, so trägt man die Krankheit in das Dorf, so bringt man den Tod in die Gemeinschaft.

Christus durchbricht das Tabu, das sie umgibt, die strenge Forderung der Unberührbarkeit. Diese ist es, die aus der medizinischen Diagnose „Beulenpest“ erst das soziale Schicksal des Ausgesetzt-Seins macht. So entsteht der „Aussatz“ in seiner ganzen Schrecklichkeit, weil es den Betroffenen aus der Gemeinschaft ausschliesst. Jesus begeht einen Tabu-Bruch, der die schrecklichste Form der Ausschliessung von Menschen aufhebt.

 

Eine Grunderzählung des Christentums

Diese Tendenz, Ausschliessung aufzuheben, begegnet nicht nur an dieser Stelle. Es ist eine Grunderzählung des Christentums. Sie ist auch heute ein Kontrapunkt zu andern Erzählungen, durch die Menschen ausgeschlossen werden.

Auch heute erzählt man in Wirtschaft und Gesellschaft „ausschliessende“ Geschichten. Das ist kaum anders möglich, weil der soziale Verkehr hier auf dem Wettbewerb beruht. (Und in der Stagnation auf dem Verteilungskampf um knappe Güter). Da ist immer ein Mensch, der ist leistungsfähiger, jünger, gescheiter, schöner. Der Wettbewerb kann beim „gut“ nicht Halt machen, er kennt nur das „besser“. Und nichts ist so selten wie Ehre in einer ehr-geizigen Gesellschaft. So gerät immer wieder ein Mensch auf die andere Seite: wo er nicht mehr dazu gehört.

Das Evangelium erzählt „einschliessende“ Geschichten. Es erzählt von dem, der sogar noch auf Aussätzige zugeht und sie berührt. Damit sind sie nicht mehr „aus-gesetzt“, sie gehören wieder dazu.

Christus berührt die Unberührbaren und gibt ihnen ihre Würde zurück, zuerst vor sich selbst, dann vor der Gemeinschaft. Und die Gemeinschaft erkennt ihre Verantwortung auch für diese Menschen. So werden diese Geschichten sozial wichtig und historisch bedeutsam. Unter dem Einfluss dieser Geschichte hat die Gesellschaft Seuchenhäuser gebaut, statt solche Schicksale einfach auszuschliessen. So entstanden im Mittelalter Armenhäuser, Krankenhäuser – als Vorstufe des modernen Fürsorge-Staates.

 

Ausschliessende Geschichten

Gemeinschaften werden mitgeprägt, durch die Geschichten, die darin erzählt werden. In diesen Geschichten werden Grenzen gezogen, wer dazugehören darf und wer ausgeschlossen wird.

Heute ist die Geste des Ausschliessens politisch wieder aktuell. Das macht die Aktualität dieser Texte aus. Es geht um Ausschluss oder Einschluss, um Exklusion oder Inklusion.

Das Evangelium ist die Grunderzählung unserer Kultur . Die abendländische Kultur hat sich erhoben auf der Grundentscheidung, dass alle Menschen dazugehören dürfen, dass allen eine Würde als Mensch zukommt, dass allen das Heil von Gott her zugesprochen ist. Dafür steht der Name jenes Mannes, der auf Aussätzige zugegangen ist: Jesus Christus.

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6 Kommentare
  • Claudia Mehl
    Gepostet um 06:57 Uhr, 04. Mai

    Vielen Dank für diese inspirierenden Gedankengänge.Jetzt habe ich eine Idee für eine meiner nächsten Predigen. ?

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  • Anita Ochsner
    Gepostet um 08:32 Uhr, 04. Mai

    Ausschliessen und einschliessen in die Gesellschaft .. „Berührungs-Verbot“? .. ich denke da an Menschen mit geistiger Beeinträchtigung.
    Und an eine kommenden Weiterbildung dazu, und daran welche „Geschichten“ wohl da zu hören sind? Daher dieser Beitrag berührt mich sehr! Vielen Dank und auch für das „Aufschliessen“ dieser biblischen Erzählungen, Auferstehungsgeschichten.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 09:25 Uhr, 04. Mai

    Danke für diesen Beitrag! Aber ist die medizinische Diagnose für den Aussatz wirklich Beulenpest? Nicht Lepra? Beulenpest ist eine viel dramatischere Krankeit, die in ganz kurzer Zeit zum Tode führte.

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  • Reinhard Rolla
    Gepostet um 10:09 Uhr, 04. Mai

    Auch die „Auferstehungs“-Erzählungen sind für mich – wie viele Erzählungen in der Bibel – deutlich Glaubenserzählungen. (Schon allein wegen ihrer Unterschiedlich- bis Widersprüchlichkeit.) Die darf man selbstverständlich weiter glauben, muss man aber nicht. Wer die „Auferstehung Jesu“ für seinen/ihren Jesus-Glauben braucht, ist, soll das glauben. Aber er/sie soll das mit „Ich glaube“ deutlich machen. Für Paulus war die „Auferstehung“ auf extreme Weise notwendig, weil sonst sein Glaube und seine Predigt „null und nichtig“ gewesen wären. Und: nicht „die Bibel“ sagt etwas, sondern es sind jeweils bestimmte Autoren, die ihren Glauben weitergeben. Das klar zu stellen, hat für mich mit Redlichkeit zu tun.

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  • Corinne Duc
    Gepostet um 12:10 Uhr, 04. Mai

    Offenbar gibt es unter den vielfältigen Tendenzen der späteren Evangelien auch jene, von der leiblichen Auferstehung überzeugen zu wollen. Dass sich diese Stellen bereits gegen eigentlich doketistische Strömungen in der heute üblichen Interpretation wenden müssten, ist damit aber nicht gesagt. Charakteristisch scheint mir hingegen, dass es bereits den Beginn exklusivistischer Interpretationen der werdenen Kirche vorzeichnet. Wer nicht die von den späteren Vorstehenden für „richtig“ gehaltene Lehre vertritt, wird ausgeschlossen, verfolgt und (wenn alle Folter nicht zum Wiederruf bringt) – quasi gekreuzigt?
    Was wir aus diesen Geschichten lernen sollten, ist wohl vor allem dies: wenn wir uns zu sehr an vermeintlich „absoluten“ Wahrheiten und Überlieferungen festklammern, haben wir die Chance, offen aufeinander zuzugehen, immer schon verpasst.

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