Erlöse uns von dem Bösen

Für den aufgeklärten Geist ist klar: Das Böse gibt es nicht. Nicht, dass wir nicht von Bösem betroffen wären: üblen Krankheiten, übler Nachrede, Gesinnung, üblen Aboverträgen, Naturkatastrophen oder Kriegstreibereien. Aber das sind nicht Folgen eines substantiellen Bösen, das in der Welt als eigene Macht wirksam wird und sich darin formiert. Es sind halt Krankheiten, moralische Defizite, Erziehungsmängel, gierige Managementpraktiken, Folgen der Plattentektonik oder Auswüchse des – wahlweise westlichen oder allgemein despotischen – Imperialismus.

„Krank“ ist das neue Böse

Wo Luther noch allenthalben den Teufel persönlich am Werk sehen konnte, diagnostizieren wir Krankheit. Krank ist das neue Böse. (Während Krankheitsbefunde nach wie vor in maligne und benigne unterteilt werden.) Und das Sprachspiel der Pathologie hat jenes des Bösen abgelöst. Wer etwas Böses sagt oder schreibt, ist krank. Wer rassistisch ist, hat ein krankes Menschenbild. Aboverträge mit Kleingedrucktem sind die Folge eines kranken Kapitalismus. Naturkatastrophen der Selbstschutz des Planeten, gegen das ihn krankmachende Virus Mensch. Kriege die Folge kranken Machtstrebens.

Wenn „krank“ „böse“ wird

Im Kern ist das gut. Denn Kranke kann man heilen. Man kann versuchen, durch Bildung, Psychotherapie, Resozialisierung und Aufklärung die Krankheit zu lindern und dem Kranken Besserung zu verschaffen. Man könnte. Oft aber bezieht sich das Sprachspiel der Pathologie gar nicht auf solch hehre Absichten, sondern will nur markieren, dass etwas oder jemand von der Norm abweicht. Gerade in den Sozialen Medien ist die Diagnose selten mit aufrichtigem Mitleid, sondern meistens mit beissender Häme verbunden. Auch die mediale Hetzjagd im Fall Carlos hatte zu keiner Zeit ein besseres Therapiesetting zum Ziel, sondern Ausgrenzung und Strafe.

Entdiabolisierung des Kranken

Es ist zweifellos eine Errungenschaft moderner Pädagogik und des Strafrechts, den Menschen entdiabolisiert zu haben. Nur so können Menschen einander helfen, sich zu entwickeln, psychische Defizite zu bearbeiten und aufhören, sich selbst und andere zu verteufeln. Aber etwas ist bei diesem Übersetzungsprozess auf der Strecke geblieben. Und dieses Defizit wird vor allem in den sozialen Medien sicht- und hörbar: Die Lasten sind zu einseitig verteilt.

Wenn wir den Anderen, den Gestörten, den Unterentwickelten oder Ungebildeten pathologisieren, meinen wir implizit immer, dass der gefälligst selbst dafür sorgen soll, dass er wieder normal wird. Er darf sich Hilfe holen. Aber er muss es schon wollen. Das paulinische Konzept, das mit dem Bösen rechnet, bietet eine weitere Möglichkeit: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute!“ (Röm 12,21). Die Verantwortung für die Integrität der Gemeinschaft liegt hier nicht beim „Bösen“, beim „Feind“, sondern bei jedem einzelnen Betroffenen. Angesichts des Bösen habe ich immer zwei Möglichkeiten: Ich kann das Spiel mitspielen – dann verliert die Gemeinschaft. Und zwar egal, wer von beiden gewinnt. Oder ich versuche das Böse mit Gutem zu überwinden.

Gutes als Heilmittel

Dass das nicht leicht ist, wusste auch Paulus. Er hatte Hoffnung auf den Zorn Gottes und daraus gleichzeitig die Idee, selbst auf Rache zu verzichten. Vielleicht wäre es uns ja heute möglich, das so zu denken: Überlassen wir Gott das Böse und die Rache. Und bis dahin überwinden wir das „Kranke“ durch achtsamen Umgang miteinander, Solidarität mit den „Kranken“ und denen die von ihnen angesteckt worden sind, erzählen uns Geschichten, die uns wirklich wertvoll sind und hoffen darauf, dass uns das heilt. Bevor wir selber krank werden.

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16 Kommentare
  • Verena Thalmann
    Gepostet um 09:43 Uhr, 08. April

    „Auf Rache zu verzichten“ – ein schwieriges, aber lebensnotwendiges Unterfangen. Ja, ich habe es am eigenen Leib und an eigener Seele erlebt.
    Während der Krankheitszeit meines Exmannes, dem Vater meiner Kinder, haben Umstände (unter anderem Menschen, welche die Bibel sehr einseitig und daher gewissermassen unmenschlich auslegen), mich daran gehindert, noch genug Zeiten mit ihm zu verbringen und so schon vor dem Sterben gut Abschied zu nehmen. Eine grosse Spannung und Belastung auch für die erwachsenen Kinder. Es blieben nur noch wenige kurze Momente, die mir dann doch noch geschenkt waren.
    Schon damals und jetzt, 8 Monate nach dem Tod, war es immer ein Teil des Umgangs mit dem so schmerzlichen: loslassen und nicht Rache üben wollen! Das hiess nicht, dass ich die Wut hatte verdrängen müssen oder dass ich nicht reagiert habe und manche Schritte unternommen habe. Doch am Schluss und insbesondere jetzt, kann ein gesunder Trauerprozess nur gelingen, wenn ich mit Gottes Hilfe versuche, mich aus der Negativspirale herauszunehmen, loszulassen, zu vergeben — um des Lebens willen!

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    • stephan
      Gepostet um 11:47 Uhr, 08. April

      wow! danke, das ist sehr eindrücklich! ich nehme mit: um des lebens willen loslassen.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 11:12 Uhr, 08. April

    Super Beitrag, wie vom Autor gewohnt brillant geschrieben und analysiert. Und dennoch bleibe ich etwas nachdenklich zurück. Das Böse – c’est les autres? Wie stehts mit unsern eigenen Anteilen an Verletzendem, Unschönem, Ungerechtem und Ausschliessendem? Es erstaunt mich manchmal, dass gerade unter ausgewiesenen „Gutmenschen“ besonders viel Hässliches geschehen kann. Sind wir nicht alle nur arme SünderInnen und sollten uns so begegnen? Ist es nicht einfacher, nur Opfer zu sein, als sich auch seinen eigenen dunklen Seiten zu stellen? Ein schönes Wochenende allerseits ☀️!

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    • stephan
      Gepostet um 11:55 Uhr, 08. April

      …die schöne Bedeutung vom Dschihad. ich glaube, dass wir alle immer in böses verstrickt sind, das uns jemand antut und das wir wieder jemandem antun. aber wie verena oben schreibt, kann es uns manchmal auch gelingen, diese spirale zu durchbrechen. sich als armen sünder zu sehen? ich weiss nicht. aber von sich zu wissen, dass man auch fehlbar ist und die gnade anderer braucht, die aus dem eigenen mist blumen züchten, das schon 😉 ein schönes weekend zurück aus dem sonnigen bern!

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    • Verena Thalmann
      Gepostet um 12:10 Uhr, 08. April

      Das habe ich nicht explizit herausgehört : Das Böse – c‘ est les autres oder dass wir Opfer sind. Gerade weil ich z.B. auch diese „Fähigkeit“ habe, mich rächen zu wollen oder mit Häme zu reagieren, bin ich herausgefordert, mich meinen eigenen Schattenseiten zu stellen. Sei dies nun bei der Reaktion, in der Aktion oder manchmal in meinem nicht agieren, weil ich zu feige bin, etwas zu unternehmen.

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  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 13:15 Uhr, 08. April

    ‚L’enfer, ce sont les autres.‘ hat Albert Camus mal geschrieben. Konsequent gedacht heisst dies in der Tat auch immer, dass ich selbst jemandem die Hölle bereite. Alles eine Sache der Perspektive! Bon weekend a toutes et tous.

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  • Urs Meier
    Gepostet um 16:25 Uhr, 08. April

    Das war Jean-Paul Sartre. „L’enfer c’est les autres“ ist ein Zitat aus seinem Stück „Huis clos“.

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    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 17:20 Uhr, 08. April

      Danke für die offenbar nötige Korrektur! ?

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  • michael vogt
    Gepostet um 16:37 Uhr, 08. April

    warum sollte es für den aufgeklärten geist das böse nicht geben? kant sprach sogar vom radikal bösen, das aus der verdorbenen menschlichern natur hervorgeht. damit stimmt er, wenn ich recht sehe, mit paulus überein (oder kommt von ihm her), der vom natürlichen menschen spricht, der nicht versteht. wenn ich auf wikipedia meine gedanken überprüfe, sehe ich, dass auch hanna arendt eindrückliches zum thema des bösen sagt. https://de.wikipedia.org/wiki/Das_radikal_B%C3%B6se
    der springende punkt ist meines erachtens, dass wir kausal denken. was heute geschieht, hat eine geschichte von milliarden von jahren: was kann jemand dafür, wenn die genetische und epigenetische disposition so und so aussieht, bei diesen frühkindlichen erfahrungen, und wenn eben, was heute geschieht oder gestern geschehen ist, auf ereignisse zurückgeht, die im urknall statgefundenn haben? oder bei der „allkausalität jahwes“, wie gerhard von rad das alte testament versteht? und auch im neuen testament geht ja letzten endes alles auf einen vater zurück. was ich da sage, ist natürlich umstritten. in der naturwissenschaft ist es die quantenphysik (die mich bisher nicht überzeugen konnte), die die kausale determination infrage stellt. paulus sagt, ein unsichtbares wesen sei erkennbar, „damit sie keine entschuldigung haben.“ (rm 1.20) später ist er, finde ich, auf einen besseren gedanken gekommen: „was hast du, das du nicht empfangen hast?“ (1kor 4.7) die erlösung vom bösen als eine weitere kausa. wir haben gut reden – was wir in diesen tagen gerade wieder tun – , wenn wir sexuelle beziehungen von erwachsenen zu kindern verurteilen. in den jahren nach 68, wo man sich viel von sexueller befreiung versprach, war die überforderung von kindern und jugendlichen durch eine sexuelle beziehung, die erwachsene zu ihnen eingehen, weit weniger bekannt. die coincidentia oppositorum von freiheit und kausalität erlaubt sowohl den existentiellen wie den theoretischen aspekt: zu sagen „du bist schuld!“ oder zu fragen „was kann er dafür?“ so ist es im alten testament, im neuen testament, in den beiden grossen mystischen religionen hinduismus und buddhismus, die die kasalität besonders herausgearbeitet haben – und die freiheit von ursache und wirkung. „rächet euch nicht selbst, ihre gelibten. . .!“ rief ich 1979 aus, als ein pfarrer einer berggemeinde mich voll hängen gelassenn hatte, als ich mit seine bernhardiner, weit auf einem feld draussen, nicht klar gekommen war. meine erste liebe krümmte sich vor lachen ob des zitats, und ich bin inzwischen darauf gekommen, in solchen situationen (hunden gegenüber) gelassener zu reagieren. „hoffnung auf den zorn gottes“ klingt für mich zu schön und damit zu böse. ich würde eher sagen, die elementare konstatierung: es ist nicht nötig, sich selbst zu rächen. das braucht es nicht. oder schlicht die erlösung vom bösen. „inspirierend“ scheint Ihr beitrag – bei dieser kommentarzeichenanzahl – allemal zu sein!

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    • michael vogt
      Gepostet um 16:45 Uhr, 08. April

      noch ein h zu ehren von hannah arendt

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    • michael vogt
      Gepostet um 17:37 Uhr, 08. April

      und übrigens: beim ersten titelbild der seite habe ich gedacht: wunderbar, frühlingsblumen!

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    • stephan
      Gepostet um 13:21 Uhr, 09. April

      😉 die geschichte mit dem hund ist wirklich erheiternd!
      als ich geschrieben habe, dass es für uns moderne das böse nicht gäbe, meinte ich böses in substantiellem sinn. etwas böse zu nennen, bedeutet nicht, dahinter z.b. einen teufel zu vermuten, sondern ist eher ausdruck davon, dass wir etwas für schlecht, lebensmindernd, unfair etc. halten. es ist also ein deutungsbegriff. hannah arendt rede von der banalität des bösen liegt ja genau auf der linie der entdämonisierung des übeltäters, indem dieser als einfacher, bequemer kleinbürger verstanden werden kann.
      vom bösen im anderen sinn zu reden, ist ein eingeständnis, dass man eine denkgrenze erreicht hat. vielleicht ist das böse für das denken schlicht eine unzumutbare möglichkeit?

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      • michael vogt
        Gepostet um 02:50 Uhr, 10. April

        wenn das böse nicht als dämon verstanden wird und ein böser mensch nicht dämonisiert wird, heisst das noch nicht, dass es das böse nicht gibt. durch den urknall sind negative biochemische verbindungen entstanden, mit denen wir es heute zu tun haben. haben sie keine sustanz? sind sie keine substantien? oder bemächtigen sie sich der substantien, aus denen ein mensch oder ein tier besteht, und verhindern in ihm das gute? ich glaube schon. leben heisst auch, die ursuppe auslöffeln. das spricht, finde ich, auch wieder für substanz. karl barth nannte das böse das nichtige. eberhard jüngel vermutet, dass er dabei an personen der nazi-zeit dachte, die sich nichtig verhalten. das nichtige hat laut barth keine substanz, auf griechisch kein hypokeimenon, kein darunterliegendes, dh die spanten eines schiffes haben keinen innenkiel, der sie tragen würde. die frage ist allerdings, wie diese repräsentanten de nazi-regimes so derart viel leid verursachen konnten. aber lieber noch eine geschichte: einer fing einen nach unten zeigenden daumen ein. da sagte er: das war einer auf die rechte, jetzt bitte noch einen auf die linke. 🙂

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  • Anke Ramöller
    Gepostet um 10:08 Uhr, 10. April

    Lieber Stephan
    Dein Artikel hat mir erst bewusst gemacht, wie sich in meinem Sprachgebrauch das Wort „krank“ verändert hat. Ich werde darauf achten, wann ich etwas „krank“ finde. Eben, mir ist aufgefallen, wie oft das bei mir inzwischen der Fall ist. Und wie abhängig meine Sprache vom „Zeitgeist“ ist.
    Und dann hast Du für mich eine plausible Übersetzungsanleitung für den Text von Paulus gegeben: „Überwinde das Böse mit Gutem!“- Etwas „krank“ zu finden, ist dann nicht das Ende. Es hört nicht mit der Diagnose auf, sondern eröffnet einen Handlungsspielraum, in dem ich mich nicht mehr mit Diagnostizieren zufrieden gebe, sondern weiterdenke. Worin könnte das „Gute“ bestehen, das ich in den (Kommunikations-) Prozess einbringen kann, auch in meinen eigenen mit mir selbst?!

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  • Lorenz
    Gepostet um 23:07 Uhr, 10. April

    Dass Krankheiten und Naturkatastrophen als ‚böse‘ bezeichnet werden können, ist mir neu. Ich dachte, nur Eigenschaften, Haltungen oder Handlungen von Menschen könnten böse sein. Wie dem auch sei, es scheint mir zweifelhaft, ob jemand seine eigene Bosheit beabsichtigt oder sich nur schon ihrer bewusst ist. Würde sich z.B. Asad selbst als böse bezeichnen?
    Das Schlechte an einem Menschen als nicht selbstverschuldeten persönlichen Makel zu sehen, kann zu Toleranz und Nachsicht führen, zu einer Gelassenheit, welche letztlich hilft, Hass zu vermeiden. Das Schlechte einem inhärenten Bösen zuzuschreiben, kann das Gleiche bewirken, nämlich indem (gelassen) akzeptiert wird, dass nicht alles in unserer Hand liegt. Leider kann solche Gelassenheit auch in Resignation und Verachtung für die Menschheit umschlagen. Diese Gefahr besteht jedoch vermutlich unabhängig davon, welchen Begriff des Bösen man annimmt.

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