Gibt es noch ein Erbarmen?

„Kyrie eleison! Herr, erbarme dich!“, wird seit Jahrhunderten in unseren Kirchen gebetet. Wer Erbarmen nötig hat, befindet sich in einer asymmetrischen Beziehungssituation und steht in einer Abhängigkeit. Wer aber möchte das schon? Die Eigenständigkeit ist ein in der Schweiz wohlgepflegtes Gut und das Selbstbewusstsein ist gross. Das Markenzeichen unserer grössten Partei ist ein lachendes «Sünneli». Viele Schweizerinnen und Schweizer stehen auf der Sonnseite des Lebens.

Verlernt der, der nie auf Erbarmen angewiesen war, die Barmherzigkeit? In unserem schönen, reichen Land gibt es Flüchtlingsgruppen, die ein unsägliches Dasein fristen. Aber das scheint fast niemanden mehr zu berühren.

Es gibt Asylsuchende in der Schweiz – Eritreer und Tibeter -, die vom Staatssekretariat für Migration (SEM) eine Wegweisung erhalten, im vollen Wissen, dass diese Menschen nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren, und im vollen Bewusstsein, dass sie auch nicht zurückgeschafft werden können. Von gemässigten Politikern gibt es zu diesen Fällen bloss ein Schulterzucken, von populistischen eine Schimpfrede auf Wirtschaftsflüchtlinge und Scheinasylanten. Unsere Behörden haben davon Kenntnis: Regimefeindliche, eritreische Flüchtlinge der jüngeren Generation sind an Leib und Leben bedroht, wenn sie nach Eritrea zurückkehren. Das Land befindet sich im eisernen Griff einer repressiven Diktatur, ist intransparent und ohne jede Rechtssicherheit. Für die Tibeter sind die menschenrechtlichen Verhältnisse in China auch äusserst prekär und verunmöglichen eine Rückkehr.

Wenn diese Asylsuchenden nach einem Negativentscheid einen Rekurs einleiten, erhalten sie vom Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen in der grossen Mehrheit eine definitive Wegweisung. Menschen mit diesem Status (doppelt negativer Entscheid) werden in der Schweiz zu Sans-Papiers, bewegen sich – juristisch gesehen – illegal in unserem Land und können jederzeit verhaftet werden. In gewissen Kantonen erhalten sie ein Rayonverbot und werden somit in ihren Kollektivunterkünften isoliert. Sie leben in unserem Land wie in einem Freiluftgefängnis. Sie bekommen beispielsweise im Kanton Bern eine Nothilfe von 8 Franken pro Tag (für Essen, Hygieneartikel, Kleider usw.), haben kein Recht zu arbeiten und dürfen keinen Deutschunterricht besuchen. Diese Menschen haben überhaupt keine Lebensperspektive, keine Rechte und keine Würde mehr.

Gegen diese juristische Praxis wehrt sich kaum jemand, ausser Interessengruppen wie die Schweizerische Flüchtlingshilfe oder Amnesty International. Wer will schon rechtsstaatliche Prinzipien hinterfragen? Aber kann es unwidersprochen hingenommen werden, dass Menschen in unserem Land in permanenter Angst leben und – unverschuldet – die Möglichkeit auf ein würdiges Leben verlieren?

Diesen Menschen ohne Hoffnung müsste zumindest eine humanitäre Aufnahme gewährt werden (vorübergehendes Asyl), wie das in anderen europäischen Ländern bei eritreischen und tibetischen Flüchtlingen der Fall ist. Aber Barmherzigkeit scheint bei uns nicht mehr auf der Traktandenliste zu stehen. Der Druck von rechtspopulistischen Politikern, die Ressentiments gegenüber Flüchtlingen bedienen und mit ihnen Einfluss- und Machtpolitik betreiben, ist zu gross.

Demgegenüber ist man in der Schweiz grosszügig, wenn es darum geht, mit zweifelhaften Regimes Geschäfte zu treiben: seien es Goldlieferungen aus Eritrea oder der Freihandel mit China. Die Menschenwürde wird im Zweifelsfall dem Markt geopfert. Das Sünneli auf dem Plakat lächelt erbarmungslos.

Herr, erbarme dich der eritreischen und tibetischen Flüchtlinge!

 

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7 Kommentare
  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 08:28 Uhr, 26. September

    Ein Artikel, der einer die Augen öffnet, wenn sie denn nicht schon offen sind für diese Problematik! Ein Gefühl der Ohnmacht stellt sich ein, denn wie viele Asylgesetzverschärfungen haben wir schon hinter uns. Während wir vom Freihandel für Waren profitieren, schliessen wir die Grenzen für Menschen und nehmen hier Gestrandeten jegliche Perspektive. Wirklich: Die göttliche Weisheit erbarme sich unser!

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  • michael vogt
    Gepostet um 20:59 Uhr, 26. September

    ohne herr und ohne erbarmen, aber nicht ohne hoffnung und nicht ohne lebensperspektive. wir werden alle wiedersehen. sie werden vollkommen erleuchtet sein. es ist auch im alltäglichen leben so: das wissen, dass wir jemand wiedersehen werden, ist für uns eine motivation, uns menschlich zu verhalten. nicht vetröstung, sondern trost. was soviel heisst wie kraft. vertrauen. und – zumindest eine gewisse – freude am andern.

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    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 13:46 Uhr, 27. September

      Zynischer Bullshit, den Sie da von sich geben, werter Herr Vogt: Eine Vertröstung aufs Jenseits oder Nirwana. Oder verstehe ich Sie falsch?

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      • michael vogt
        Gepostet um 16:58 Uhr, 27. September

        ein versuch, humanität zu begründen ohne das gefälle (vgl. „asymetrische beziehungssituation“), das zb im begriff der barmherzigkeit liegt, im gedanken an kirchenferne, denen das kirchliche gebet nichts sagt, die theodizeefrage hervorruft. . .

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  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 13:51 Uhr, 27. September

    Ich weiss, dass sich Menschen aus den Solinetzen in verschiedenen CH-Städten für solche Menschen einsetzen.
    Dass es eine neue Migrationspolitik braucht ist ebenfalls klar.

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  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 08:52 Uhr, 28. September

    Hier der Link zur Migrationscharta, welche solche Ideen entwickelt: http://www.neuemigrationspolitik.ch/

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