Haben Sie gewusst, dass „Luther“ in Deutschland ein emotionaler Stressfaktor ist?

Kennen Sie das Altarbild der Schlosskirche in Wittenberg? Luther sitzt im Kreis der Jünger mit Jesus am Tisch beim letzten Abendmahl, neben ihm der Drucker seiner Bibelübersetzung. Die Botschaft ist klar: Martin Luther hat seine Lehre aus erster Hand: Sie ist göttlichen Ursprungs! Ganz ähnlich die Suggestion des Logos für das „Lutherjahr 2017“ fast 500 Jahre später: Unter Luthers Porträt steht der Satz: „Am Anfang war das Wort – Martin Luther“. Luther, die Lichtgestalt, die uns die Freiheit bringt! Über Jahrhunderte wurde Luther als deutscher Herkules gefeiert, religiös und immer wieder auch nationalistisch. Die zahllosen Strassen, Häuser und Plätze, die seinen Namen tragen, zeugen davon. Die Werbung für das „Lutherjahr 2017“, vom deutschen Bundesparlament mit vielen Millionen Euro finanziert, wird auch die Schweiz erreichen. Manches deutet dabei darauf hin, dass die Tourismusindustrie gegenüber denen, die Luthers Schriften wirklich lesen, den Sieg davon getragen hat.

Das provoziert. Und so werden gerade in Deutschland die Stimmen immer lauter, die auf dunkle Seiten des grossen Reformators hinweisen: Luther der streitsüchtige Polterer, der Fundamentalist, Feind jeder Toleranz, der Judenhasser, der vom Teufel verfolgte Theologe der Angst, der seinen Fürsten rät, die Bauern niederzumetzeln. Luther, die Quelle allen Übels. Das Pendel schlägt um, und fast schon könnte er einem leidtun, der arme Mönch aus Wittenberg, der zu seiner eigenen Überraschung zum Medienstar geworden ist.

Auch die Schweizer Reformatoren hatten ihre Mühe mit dem launischen Wittenberger Reformator. Sie verdankten Luther einiges, aber dann doch nicht so viel, wie dieser behauptete. Immer wieder wurden sie von ihm als Ketzer beschimpft. „Wohl dem, der nicht sitzt im Kreis der Schweizer“ hatte er noch kurz vor seinem Tod gedichtet. Empört beklagte sich ein Basler Pfarrer bei Heinrich Bullinger über die „Frechheit“ und den „Hochmut“ Luthers und führte beides auf zu vieles Biertrinken zurück. Bullinger hingegen sah die Sache nüchterner, und konnte gerade deshalb dem deutschen Reformator Respekt zollen. Als das Gerücht von Luthers Tod in die Schweiz gelangte, verbot er seinen Pfarrkollegen, schlecht über den Wittenberger Reformator zu reden und schrieb: „Ist Luther gestorben so wünsche ich, dass er glücklich gestorben sei; denn es ist an ihm vieles, was die Besten mit Recht bewundern und loben! Selbst die grossen Männer der Kirche in der alten Zeit hatten ihre Fehler, und ebenso Luther, nach göttlicher Vorsehung, damit man auch ihn nicht zum Gotte macht.“ Eine Sicht, die in Deutschland vor Ende 2017 wohl nicht mehrheitsfähig wird.

 

Dieser Text ist erstmals am 28. Oktober 2016 im „bref  – das Magazin der Reformierten“ erschienen und wird mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion auf www.diesseits.ch veröffentlicht.

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3 Kommentare
  • Dominik Weyl
    Gepostet um 08:51 Uhr, 06. November

    Die deutsche evangelische Kirche ist sichtlich bemüht darum, die vielen Facetten Luthers und der Reformation im Blick zu behalten. So hat sich bspw. die EKD-Synode mit Luthers Antisemitismus auseinandergesetzt. Auch die Art des Reformationserinnerns in der Vergangenheit ist von der Kirchengeschichte und der allgemeinen Geschichtswissenschaft ausführlich beleuchtet worden. Das Erinnern 2017 wird natürlich nationale Auswirkungen haben und es ist gut, dass der Staat sich daran beteiligt, aber es wird nicht national gefeiert (wie 1817 oder 1917). Gleichwohl kann man darüber diskutieren, ‚wie‘ erinnert wird. „Am Anfang war das Wort“ – man hat diesen Satz aus Joh 1 gewählt um darauf aufmerksam zu machen, dass es nicht Luthers Wort ist, um das es geht. Schliesslich wusste der launische, auch hochmütige Reformator selbst: „Wir sollen Menschen und nicht Gott sein. Das ist die Summa.“

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  • THOMAS GROSSENBACHER
    Gepostet um 09:28 Uhr, 06. November

    Die Polterer und die mit den deftigen (Tisch-)reden erhielten und erhalten in allen Epochen der Weltgeschichte tendentiell mehr Aufmerksamkeit als ihnen dienlich, zuträglich und angemessen ist.
    Sie sagen ja auch immer, dass sie dem Volk aufs Maul schauen.

    Soweit sie das aus lauteren Absichten tun, ist das ja auch hilfreich und wertvoll für die vielen Menschen, die sich nicht getrauen oder keine Stimme haben.
    Sie stehen hin, und wenn sie es gut machen, ist das auch ein Gewinn für die vielen. Manchmal sagen sie dann, „ich kann nicht anders“. Ob solch ultimatives Zuspitzen der gemachten Meinung im status confessionis immer dienlich ist, bleibt zu bezweifeln.

    Nich selten arbeitet aber auch das Gefolgschaft leistende Volk mit, am Zerrbild der Persönlichkeiten, die ihnen angeblich aufs Maul geschaut haben. Der Applaus für Worte, die einmal ungeschminkt so und nicht anders gesagt werden müssen, kann verheerende Folgen haben.
    Wenn es zur Vergötterung kommt liegt das nicht immer nur an den Göttern.

    Soviel zum Bild das in diesem Blog vor Augen geführt wird.
    Es zeigt die unausweichliche Ambivalenz Luthers und aller Menschen. Theologisch pointierter würde das wohl mit „simul iustus et peccator“ zu bezeichnen sein..

    Vorsicht ist geboten, mit Überhöhungen und „status confessionis“. Er ist weit seltener erfüllt, als Menschen bis anhin glaubten.

    Es wäre Luther, dem Reformator gut angestanden, hätte er Jesus aufs Maul geschaut. Dazu hätte er allerdings – wie Erasmus das getan hat – dessen Muttersprache besser studiert haben müssen. Dann wäre ihm wohl aufgefallen, dass Jeschuah (Jesus) beim Pässachseder mit seinen Jüngern nicht das „ist“ als ontologische Pointe seines Deutungssatzes hervorhob, Das „ist“ kam höchstwahrscheinlich gar nicht vor, so wie es im griechischen Urtext unglücklicherweise steht. Vielmehr brachte Jesus in schlichter Offenheit, das Brot mit seinem Körper in Verbindung und in deutende Beziehung.

    Denn in der Muttersprache Jesu, die der seiner Bibel eng verwandt ist, wird sein Satz nichts anderes als ein Nominalsatz gewesen sein. Ohne das von Luther behauptete „ist“ .

    Pinchas Lapide rekonstruiert die Deutungsworte im Abendmahl vor Jahren schon mit „zäh gufi:“ „dies mein Leib“. Fazit: Der zum status confessionis stilisierte Abendmahlsstreit mit dem Zürcher Reformator erweist sich als unnötige Spaltung.
    Es kommt selten gut, wenn man nur dem Volk aufs Maul schaut.

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 10:01 Uhr, 06. November

    Gerade, was die theologischen Differenzen in der Abendmahlslehre anbelangt, täte es heute gut, dem ref.-kath.-oekum. Volk mehr aufs Maul zu schauen, das hier bestenfalls noch Bahnhof versteht! Und nur Leitenden aufs Maul zu schauen, ist auch nicht immer so berechtigt, wie du selbst schreibst. Zwischendurch auch Jesus / der Bibel / dem Gewissen / dem eigenen Über-Ich (wird m.E. viel zu wenig geschätzt ?) aufs Maul zu schauen, wär echt manchmal ne prima Alternative!
    Ich grüsse dich, mein Kollege ???

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