«Jenes Dorf» – Zauberhafter Aberglaube

Hand aufs Herz: Jeder, jede von uns hat schon jemanden dahin schicken wollen, wo der Pfeffer wächst. Ich habe als Kind einmal gefragt, wo denn das sei. Ich habe nur eine hilflose, aber abschätzige Handbewegung geerntet. Dieses Pfefferland muss wohl weit weg sein. – Auf Italienisch heisst diese Redewendung «mandare qualqu‘ uno a quel paese»: jemanden in jenes Dorf schicken. Aha, das Pfefferland ist ein Dorf. Aber man muss genau hinhören: In der Regel schicken die Italienerinnen und Italiener jemanden mit dieser Wendung nämlich je nach Zusammenhang zum Teufel, in die Hölle – selten also nur etwas weiter weg.

Magisches Süditalien – wörtlich

Mit Verwünschungen ist es das Gleiche wie mit der Magie, die in Süditalien immer noch Form und Ausdruck findet: Begriffe wie «Jenes Dorf», vielleicht auch «Pfefferland», verklausulieren, denn wer spricht schon gerne aus, wohin man den oder die Betreffende schicken will. Früher brachte es Unglück, anderen zu wünschen, wovor man sich selber fürchtet – oder die Kultur hat entsprechendes «Personal» hervorgebracht, dessen weissen, schwarzen, weiss- und wahrsagenden, verzaubernden und entzaubernden, gesund- oder krankmachenden, liebestoll und willig machenden oder in andere Zustände versetzenden Dienste in Anspruch genommen werden. Was hier in der Vergangenheitsform steht, hat in Süditalien in gewisser Weise noch Bedeutung. All die Amulette, Glücksbringer, Gesten, Ausdrücke, Rituale sind beredtes Zeugnis und spannende Beobachtungsmerkmale. Die magischen Strukturen sind hier oft so stark, dass sie als elementare Form des religiösen Lebens bis heute fortleben. Was etwa der Ethnologe Thomas Hausschild dort «entdeckte, wird selbst eingefleischte Italienreisende überraschen. Inmitten der allgegenwärtigen und allmächtigen Strukturen der katholischen Kirche hat er eine Art modernen Schamanismus aufgespürt, der als elementare Form des religiösen Lebens noch bis heute fortbesteht.» Der Ethnologe deckt die Strukturen eines subtilen Machtgefüges auf: «Die Eliten beziehen ihre Macht aus den Alltagsanstrengungen und rituellen Erfahrungen der Menschen am untersten Ende der sozialen Skala, insbesondere der Frauen.»[1]

Faszination des Zaubers

«Auf dir liegt ein Zauber.» Wenn einem dies eine jener alten, schwarzgekleideten Frauen sagt, verwenden sie im lukanischen Dialekt ein Wort dafür, das fasziniert: «l‘affascina». In der Tat, das Wort faszinieren bedeutet wohl grosse Anziehungskraft ausüben. Die ursprüngliche lateinische Bedeutung geht tiefer und meint beschreien, be- und verhexen! – Zauber und Magie, das hat viel mit Lösen und Binden zu tun. Man kann sich vorstellen, wie umtriebig diese Form der Religion in archaisch geprägten Gesellschaften ist, wie achtsam jeder sich verhält und wie bedeutungs- und zeichenvoll alles Mögliche werden kann.

Ich habe viel vom Bösen Blick gehört, das «malocchio» – wie man ihn schickt, wer ihn schicken kann, seine Symptome, wie man ihn wegzaubert; Praktiken, die Frauen zu Priesterinnen werden lassen: Sie erkennen anhand der Formation von Olivenöltropfen im Wasser, ob Du mit dem Bösen Blick behaftet worden bist. Sie zeichnen dir mit dem Daumen ein Kreuz auf die Stirn – dort, wo verschiedene Kulturen das dritte Auge postulieren – und murmeln kaum verständliche Litaneien, Gebete, anhand derer sie erkennen, ob es ein Mann, eine Frau, gar ein Priester war, dem Du deine Kopfschmerzen und andere Übel verdankst, sie leiden mit dir, es fliesst Speichel. So erkennen sie, was zu tun ist, um dich zu befreien. Neid- und Schadenszauber,  Riten, so schauerlich wie faszinierend. Ich habe viel von Träumen, Zauberwesen, nachts einem auf die Brust sitzenden Mönchlein gehört. Das Reden und Leben mit den Toten. Das Misstrauen gegenüber Frauen ist auch in Levis Roman, der viel von den magischen Elementen der Menschen im Dorf Aliano berichtet, immer wieder erwähnt. Rituale des Alltags sowie des ganzen Lebens- und Jahreszeitzyklus sind gleichermassen nebeneinander und selbstverständlich mit christlich-katholischen wie mit sehr archaischen Bedeutungen versehen. – Heute ist zwar vieles in den Hintergrund gerückt, man spricht nicht mehr darüber – aber es ist gleichwohl noch nicht vergessen.

Exkurs: Ein Wort zur Hölle

Zur Hölle – will sagen: Zurück zur Hölle. Die Hölle hat viele Namen, Formen und Existenzen und hat im Zuge der Aufklärung und der Moderne an Bedeutung verloren. Wörtlich oder nicht, sie soll uns im Jenseits drohen; je nach Anschauung ist es eine Abrechnung mit unseren (Un-)Taten oder darum eine Hölle, weil die Begegnung mit dem Göttlichen schmerzhaft und darum reinigend ist. Manche wiederum behaupten, dass die Hölle nicht etwas sei, was uns noch erwartet, sondern dass wir schon jetzt in ihr leben und wir darin am besten leben, indem wir möglichst Teil von ihr werden, die Dinge akzeptieren, wie sie sind. Nichts gegen Rationalität, Fleiss und gute Absichten im Diesseits. Aber besteht da nicht die Gefahr, dass man im Leben inmitten der Hölle diese nicht mehr erkennt und so den Blick auf Wunderbares, was das Menschsein ausmacht, verliert? Das ist der Moment, in dem der Homo sapiens seine Kreativität verrät und Fähigkeiten, Talent und Wissen dem Diktat der (ökonomischen) Nützlichkeit unterwirft. – Aber das ist alles eine andere Geschichte. Wer weiss, es würde mich nicht wundern, könnte man behaupten, die Basilicata kennt von allen möglichen Höllen und Höllenansichten ein bisschen etwas, wen wundert‘s: gleichzeitig. – Und das Gleiche kann sogar gleichzeitig Hölle und Paradies sein: Chronisten des Mittelalters bezeichneten Materas Sassi als «Spiegel des gestirnten Himmels» – ein Himmel auf Erden, der zur Hölle geworden ist, als ab dem 17. Jahrhundert die Agrar- und Hirtengesellschaft immer mehr verarmte und Carlo Levi schliesslich die heute bestaunten Monumente mit der trichterförmigen Hölle Dantes verglich.

Und jenes Dorf?

«Mandare qualqu‘ uno a quel paese», jemanden in jenes Dorf schicken… Jemanden zur Hölle schicken: Kann man das? Theoretisch schon:

Die Hölle ist kein Dorf, das ist klar. Aber was bemerkenswert ist: Jenes Dorf, das existiert in Italien tatsächlich. Es liegt in der Basilicata. Die Lukaner wissen es, aber sie sagen es nicht. Denn es bringt Unglück, den Namen auszusprechen. Es sind die typischen Reaktionen: Ich habe Leute sich bekreuzigen gesehen. Man beginnt zu erzählen, was da alles schiefgelaufen ist, sobald man davon spricht. Es gibt Leute, die behaupten, dass einem die Carabinieri keine Busse für schnelles Fahren erteilen, wenn man ihnen weismacht, dass man aufs Gaspedal gedrückt hat und dort nicht anhalten wollte, weil man sich vor Bösen Blicken fürchtete.

Colobraro heisst das Dorf; der Name soll sich vom lateinischen Wort coluber für Schlange ableiten. Wie sinnig. Im Mittelalter soll der Ort ein besonderes Zentrum für Hexen und Druiden gewesen sein. Auch in diesem Verhalten zeigt sich die Doppeldeutigkeit der Praxis: Man bedient sich derer, die man meidet.

Touristen kaufen Amulette

Die Einwohner dieses Dorfes, etwa 80 Kilometer von Matera entfernt, machen heute aus der Not eine Tugend – sie wären ja nicht Lukaner, die sich nicht zu arrangieren wüssten: Schlangen vor Bank- und Behördenschaltern lösen sich schlagartig in Luft auf, wenn man erwähnt, dass man aus jenem Dorf stammt, sogar das Behördengeschäft selbst wird wundersam unbürokratisch erledigt. Und was heute wohl der sinnvollste Umgang mit dem Ruf ist: Aus dem Aberglauben ist ein touristisch wirksames Geschäft geworden. In Geschichten und Anekdoten ironisieren sich die Dorfbewohner auf sympathische Weise selbst. Colobraro erzählt die Geschichten wohl, versucht sie aber ins Reich der Legenden zu versorgen, stellt sie und Bilder im Museum aus und versucht selbstbewusst, etwa in Theaterspektakeln seiner Geschichte zu begegnen und die Schönheit des Ortes herauszustreichen.

Doch nicht nur deswegen sollte man diesem sehr schönen Dorf in zauberhafter Umgebung einen Besuch abstatten. Vergessen wir nicht, dass volksmagisches Denken in Mitteleuropa erst nach der Reformation nach und nach an breiter Bedeutung eingebüsst hat. Der historische, ethnologische und anthropologische Blick eröffnet neue und alte Aspekte des Menschseins und erinnert uns vielleicht auch ein stückweit an uns selbst, an verschütt gegangene Traditionen und spannend: altes Wissen, das sich aus der tiefen Verwurzelung mit der Natur gehalten hat, vielleicht auch an vergessene, verdrängte Seiten unserer eigenen spirituellen Natur.

Leicht gekürzter Beitrag aus dem Blog von Michael Mente über die süditalienische Region Basilicata. Vollversion hier. Zum Blog geht’s hier.

[1] Zitiert vom Klappentext des Buches von Thomas Hausschild: Magie und Macht in Italien. – Eine fesselnde ethno-literarische Studie!

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11 Kommentare
  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 07:23 Uhr, 28. Juni

    Lieber Michael, für mich ganz spannend und aufschlussreich, dein Beitrag über dieses Thema! Ich habe im Spital vor allem bei Patientinnen aus dem Balkan Bekanntschaft gemacht mit Verwünschungen, Verwünschungsritualen, das Auge, eigene Krankheit als Folge des bösen Blicks etcetc …. und bin da wohl zu Beginn mit einem hilflosen „Hä?“ dagestanden ?. Für uns ganz fremd – in andern Ländern und Kulturen fast normal. Interessieren würde mich religionspsychologisch, wie sowas entsteht und welchen Nutzen es den Betroffenen bringt. Was habe ich davon, innerhalb einer solch schamanischen Welt zu leben?

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  • Michael Mente
    Gepostet um 11:27 Uhr, 28. Juni

    Liebe Barbara
    Vielen Dank für dein Feedback. Auf meinem eigenen Blog habe ich noch etwas ausfürhlicher erzählt; darüber hinaus kann ich dir gerne mal bei einem Kaffee zu mehr Literatur und Infos verhelfen, da sich verschiedene Disziplinen seit langer Zeit mit solchen Phänomenen beschäftigen, die uns nur darum fremd sind, weil sie bei uns als eigentliche Kulturpraxis in Vergessenheit geraten sind. Vielleicht sind aber viele Dinge einfach verschoben worden, einiges in die Sphären religiösen Regelwerkes oder in die Erklärungsmuster der Psychologie und andere rationalisierenden Disziplinen (wer weiss, vielleicht heute sogar die Quantenphysik?) versorgt worden? Esoterische Wellen kommen ja als alternative spirituelle und medizinische Angebote immer wieder über uns und da schwappt solches „Urwissen“ – oft als Halbwissen und komerziell verbrämt – wieder in Spuren zurück. Ich denke, man kann nicht mit dem „Nutzen“ argumentieren, Die Suche nach Sinn, Antworten, Schutz, Ritualisierung entlang der biografischen Eckpunkte von Individuum und Gesellschaft und ganz banal: nach Hilfe in ganz konkreten Situationen, das sind anthropologische und ethnologische Konstanten. Interessanterweise ist zum Beispiel der Böse Blick auf der ganzen Welt bei so vielen Kulturen vorhanden, die nie etwas miteinander zu tun haben. Nicht alle Kulturen schauen einem gerne in die Augen, was wir als Unfreundlichkeit empfinden würden. Mit Blicken, Haltungen, Gesten und eben diesem bösen Blick überall auf der Welt: Da sind tiefe Ahnungen damit verbunden. Sogar bei uns (etwa beim Thema Lob: Warum errötest Du, wenn Du gelobt wirst, reagierst Du mit Scham? Warum sind unter den Todsünden genau solche Elemente drin, die in archaischen Vorstellungen Schaden bedeuten, allen voran etwa Neid, schlechte Gedanken?). Es ist also nicht die Frage, was es mir bringt, sondern es ist so. Es ist eine gelebte Form der Realität, die mit verschiedenen invasiven Elementen sich arrangiert und weiterentwickelt. To be continued 🙂

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    • Barbara Oberholzer
      Gepostet um 18:04 Uhr, 28. Juni

      Bin nicht ganz sicher, ob wir uns jetzt richtig verstanden haben … Gerne befasse ich mich näher mit solchen Phänomenen, um andere Menschen besser zu verstehen. Doch für mich leuchte das Licht der Aufklärung! Wobei es natürlich auch da um besseres Daseinsverständnis und vor allem Kontrolle geht – etwas, das ich religionspsychologisch auch hinter dem Schamanismus vermute.

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      • Esther Gisler Fischer
        Gepostet um 21:38 Uhr, 28. Juni

        Die Aufklärung in allen Ehren liebe Barbara, entspricht es jedoch meinee Erfahrung, dass diese und die sie begründende Vernunft halt vielfach doch nur ein dünner Firnis ist, der über dem archaischen Gebrodle menschlicher Seelen liegt.

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        • Barbara Oberholzer
          Gepostet um 18:57 Uhr, 29. Juni

          Gerade deshalb entscheide ich mich bewusst für sie ?! Sie ist meine Orientierung, nicht irgendwelches diffuses Gebrodle ….

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          • Barbara Oberholzer
            Gepostet um 19:05 Uhr, 29. Juni

            Oder um es mit Freud zu sagen: „Wo Es war, sol Ich werden!“ ?

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          • Esther Gisler Fischer
            Gepostet um 15:00 Uhr, 30. Juni

            Ja klar! Doch hilft mir diese Grundannahme zu einem besseren Verständnis meines Gegenübers. Das habe ich halt in der Ethnopsychoanalyse gelernt …

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  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 16:21 Uhr, 28. Juni

    Ein toller Beitrag, der mein ethnologisches Herz (das ich neben dem theologischen auch noch habe) erfreut! Vernunft und Zivilisation werden immer wieder herausgefordert durch solche archaischen Vorstellungen, die transkulturell feststellbar sind.

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  • Esther Gisler Fischer
    Gepostet um 16:36 Uhr, 28. Juni

    Lieber Herr Mente
    Habe nun auch noch den Originalbeitrag auf Ihrem persönlichen Blog gelesen. Interessant dünkt mich die Tatsache, dass bei dieser Form von Religion insbesondere Frauen Akteurinnen bei den auszuführenden Ritualen sind, wohingegen sie in den institutionalisierten Formen oft nicht mehr zum Zuge kamen oder sogar verfolgt wurden (Bsp. Hexenverfolgungen in Europa im MA).
    Als Anhängerin der Visuellen Anthropologie würde es mich noch interessieren, was sich zum illustrierenden Bild sagen liesse …
    Freundlich grüsst Sie
    Esther Gisler Fischer.

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  • Michael Mente
    Gepostet um 19:06 Uhr, 28. Juni

    Liebe Frau Gisler
    Ich freue mich sehr, dass der Text – bzw. die beiden Versionen – Ihr Interesse geweckt haben. Ja, die Rolle der Frauen ist spannend in diesem Zusammenhang und Machtgefüge. Es sind ja letztlich die Frauen, die alles zusammenhalten und den Dingen Sinn und Antworten vermitteln. – Ich würde Ihnen das Buch von Thomas Hausschild sehr empfehlen. Zum Bild: Bei der abgebildeten Frau handelt es sich um Maddalena La Rocca. Wenn ich mich nicht täusche, entstammt es der Sammlung von Aufnahmen des sehr bekannten Ethnologen De Martino, der den Süden intensiv erforscht und in den 1950ern dokumentiert hat, eine Theorie „der Magie“ entwickelt hat, als einer kulturelle Haltung, die eben angesichts der prekären existenziellen Grundlagen, der ständigen Bedrohungen durch Natur und Mensch entstanden ist. Ein spannendes Territorium zudem, wenn man sich überlegt, wie viele Völker und Religionen hier ihre Spuren hinterlassen haben. Und noch etwas zum Bild: Meine Freundin hat mir erzählt, dass De Martino wie andere Ethnologen Überzeugungsarbeit leisten musste, um solche Frauen fotografieren zu können. Es war damit auch wiederum ein Glaube verbunden, was beim Fotografieren passieren konnte – schliesslich versteckt sich jemand hinter der Kamera und tut etwas, nimmt einem eventuell etwas weg – es geht auch hier um Energien. Über Spiegel werden solche verstärkt und sind nicht ganz ungefährlich, wenn sie auf einen zurückgeworfen werden…
    Helfen diese Gedanken fürs Erste? Ich bin nicht Anthro- oder Ethnologe, aber beobachtender und zuhörender Schreibender…

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    • Esther Gisler Fischer
      Gepostet um 21:35 Uhr, 28. Juni

      Ja danke;-wunderbar!

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