Küssen müssen

Die italienische Hochzeit sieht zwischen 20 und 300 Gäste vor. Die Zahl der Eingeladenen passt sich den kulturellen Gegebenheiten an: Je südlicher man nach Italien vordringt, desto näher liegt diese Zahl bei 300 Leuten. Die Schulden, die für dieses wichtige Ereignis angehäuft werden, nehmen südwärts ebenfalls linear zu. Vielleicht ist dies die wahre, versteckte Schuldenfalle des Meridione. Als Zehnjähriger war ich mit meinem Onkel Gast einer solchen typischen Hochzeit. Ich kannte die Brautleute nicht. Mein Onkel auch nicht wirklich. Er war der Schulfreund des Trauzeugen des Bräutigams, und das reichte, um eingeladen zu werden. Vor der kirchlichen Trauung besucht man in der Regel entweder die Eltern der Braut oder die des Bräutigams, je nachdem, welche Verwandtschaftslinie einem näher steht. Dies tut man nicht, um diese moralisch zu unterstützen, sondern um sich ein erstes Mal den Bauch vollzuschlagen und den Durst zu stillen.

Nach einem abschliessenden Chinotto für mich und einem Lambrusco für meinen Onkel verschoben wir uns als Teil des Autokorsos Richtung Kirche. GPS-Navigatoren gab es zu jener Zeit noch nicht. Man fuhr nach Gefühl, nach sensazione. Oder anders gesagt: Wir folgten dem roten Alfa Romeo an der Spitze der Kolonne. Nach halbstündigem Herumirren parkierte dieses Auto irgendwo in einem verlassenen Quartier. Spätestens ab diesem Augenblick fluchten die übrigen Autofahrer wild gestikulierend, weil sie die falsche Fährte verfolgt hatten. Fünfzig Meter vor Gottes Haus aber ergriff auch die jähzornigsten unter ihnen die Ehrfurcht und das Schimpfen verebbte in Grummeln.

Eine katholische Hochzeit dauert zirka neunzig Minuten, exklusiv Nachspielzeit. Die Gäste verteilen sich auf die seitlichen Kirchenschiffe: links die Heim-Mannschaft der Braut und rechts die des Bräutigams. Die vordersten Bänke gehören den Eltern, weil sie für diese Tribünen-Plätze teuer bezahlt haben. Es folgen die engen und weniger engen Verwandten, dann die Freunde und schliesslich die Schaulustigen. Draussen vor der Kirche stehen meist noch ein paar Ungläubige herum, welche lieber Marlboro rauchen und über die Wandelbarkeit der Politiker reden.

Mein Onkel und ich schafften es gerade noch in die letzte Reihe. Als das Schiedsrichtergespann die Bühne betrat, wurde es richtig laut: Das Publikum stimmte das Halleluja an. Padre Anselmo und seine Ministranten wurden mit Applaus empfangen und diktierten ab sofort das Spielgeschehen. Die Zuschauer mussten nach seinem Gutdünken aufstehen oder sich setzen und die älteren und fülligeren Damen seufzten jedes Mal, wenn sie sich aufrichten mussten. Der Kameramann, offiziell vom Brautpaar engagiert, erhielt von Padre Anselmo einen vorwurfsvollen Blick, wenn er die Sicherheitszone verliess und in der Nähe des Altars filmte. Weitere mahnende Blicke trafen schreiende Säuglinge und die dazugehörenden Eltern. Die Kinder liebten es, das Brautpaar am Ende der Zeremonie mit Reis zu bewerfen. Als der Weihrauch dicht und die Sicht getrübt war, nutzten die Halbstarken die Gunst der Stunde und mischten Schottersteine darunter. Die kleinen Hooligans flüchteten nach dem Wurf in alle Richtungen.

Das Hochzeitsessen war üppig. Gegen die Mitte des Festmahles wurde ein lächerliches Sorbetto al limone gereicht, um die Verdauung zu unterstützen. Von Gang zu Gang lockerten die Männer ihre Krawatten, währenddessen die Frauen immer langsamer mit dem Fächer wedelten. Spätestens bei der sahnigen Torta saint honoré kapitulierten auch die korpulentesten Gäste. Trotz Sorbetto. Sie hätten unterwegs lieber auf die supplementi verzichten sollten. Nach dem Essen verabschiedeten wir das Hochzeitspaar mit Küssen. In Italien reichen meist deren zwei pro Person. Ich küsste somit gesamthaft vier Mal. Die Gefeierten mussten hingegen viel länger hinhalten. Überschlagsmässig ist es so, dass eine neapolitanische Braut zirka 600 Küsse bekommt, eine römische 400 und eine in Südtirol 40. Ist es nun korrekt, daraus zu schliessen, dass sich eine Braut aus Süditalien zehn Mal so viel Zuneigung erfreut, wie eine aus dem Norden? Wie Papà zu sagen pflegt: «Qualität kommt vor Quantität. Und lass‘ dich nicht von Äusserlichem täuschen: Judas küsste auch gerne, meinte es aber nicht immer ehrlich.»

(Diese Geschichte ist leicht modifiziert im Kulturmagazin ensuite erschienen. Damals spielte Italien bei der WM mit).

Die Meinung des Autors in diesem Beitrag entspricht nicht in jedem Fall der Meinung der Landeskirche.

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10 Kommentare
  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 10:13 Uhr, 22. Juni

    Lieber Luca, ob grad grännet wird oder gmüntschet – ich freu mich einfach riesig über deine Beiträge ?.

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    • Luca Zacchei
      Gepostet um 13:39 Uhr, 25. Juni

      Vielen Dank, Barbara!

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  • Barbara Oberholzer
    Gepostet um 10:15 Uhr, 22. Juni

    Super Bild auch! Aber dass Italien nicht an der WM teilnimmt: Dieser Schock sitzt auch bei mir immer noch tief.

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    • michael vogt
      Gepostet um 19:02 Uhr, 22. Juni

      interessant, wie die intensität des kreuzes dabei bleibt. nicht verurteilend, anteilnehmend, trotz alkoholisiertem kraftwagenpark und beschädigung durch dopingähnlich gestützten, wie aus der kanone geschossenen explosionsfussball. im kuss dann ku, leere, der einsturz der anschauungsformen von raum und zeit, das substantielle leben, das alles ihm feindliche substituiert, sozusagen stellvertretend an seine stelle tritt, die evolutionsschicht, die sich unter den hauptstrang schiebt.

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    • Luca Zacchei
      Gepostet um 13:42 Uhr, 25. Juni

      Das Bild ist übrigens von Rodja Galli. Hier seine Werke: http://www.rodjagalli.com/blog/category/illustration/

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  • Reinhard Rolla
    Gepostet um 12:29 Uhr, 22. Juni

    Dafür können die frustrierten tifosi in diesen WM-Wochen an Hochzeiten teilnehmen und sich den Bauch vollschlagen mit .torte und supplimenti und sorbetti ai limoni und e spose (Bräute) und sposi (Bäutigame) küssen. Ist doch auch schön. Oder?

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    • Luca Zacchei
      Gepostet um 13:51 Uhr, 25. Juni

      Lieber Herr Rolla, selbstverständlich ist das schön! Ich gehe davon aus, dass es ohne Fussball (das Thema wird in Italien jetzt vermieden) zwischen den Mahlzeiten ein bisschen langweiliger ist 😉

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  • michael vogt
    Gepostet um 16:52 Uhr, 22. Juni

    aha, jetzt weiss ich es: ich küsse italienisch. meine umgebung weiss es. für uneingeweihte mache ich eine ausnahme. interessant, wie aus dem ganzen aufwand doch ein sinn hervorgeht: das schimpfen verebbt. auch da zwei, nämlich zwei b. heute der 22. und erst noch 16:42. die wahrnehmung des alles erfüllenden kusses würde den aufwand reduzieren. in diesem spannungsfeld lebe ich, zwischen seinem sinn und seiner reduktion.

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  • R. Stern
    Gepostet um 17:51 Uhr, 12. Juli

    Amüsanter Artikel, der mich an unsere Italien-Zeit erinnerte. So Vieles kam mir bekannt vor. aber wenn der Autor schon beim Küssen eingehakt hat, etwas hat er vergessen!
    Bei einer italienischen Hochzeit geht das Küssen bereits beim Essen los. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit, bestimmt aber immer zwischen einem Gang und dem nächsten rufen die Gäste im Chor laut und eindringlich „baci! baci! baci!“ und dann küsst sich das Brautpaar innig, was die Gäste gleich wieder für die nächsten baci-Rufe anfeuert.
    Dann waren wir vor einigen Jahren an eine italienische Hochzeit eingeladen. Braut mit Schweizermutter und Bräutigam Italiener.
    Ich war gebeten worden, einige Spiele oder Produktionen, wie sie in der Schweiz gemacht werden, vorzubereiten. ich hatte die Rechnung ohne die jungen Italiener gemacht! Nur nicht mitmachen, sich nur keine Blösse geben. Ein Glück, dass noch Schweizer Verwandte dabei waren, die liebend gerne mitmachten. ….und eine italienische Festgesellschaft im Nebenraum! Sie hatten neugierig durch die Türe geschaut und fanden an den Gesellschaftsspielen grosses Vergnügen und baten darum, auch mitmachen zu dürfen.
    Die baci-baci-Rufe jedenfalls verstummten nach und nach, weil die Gesellschaftsspiele dann doch noch sehr interessierten.
    Insgesamt zum Schluss ein fröhliches binationales Hochzeitsfest, an das sich noch manche erinnern, obschon das Paar inzwischen längst erwachsene Kinder hat.

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