Nostalgie – auf den Spuren eines Gefühls

«Aus der alten Heimat, wo sich Verschiedenes geändert hat und es einem so komisch wird, wenn man an alles zurückdenkt. Empfanget recht liebe Grüsse…». – Mehr stand da nicht. Aber mit diesen Worten tritt am 3. Oktober 1966 eine Ansichtskarte – oder Postkarte, wie wir Schweizer sagen – aus dem Thurgau eine Reise an, die genau 50 Jahre dauernd wird. Eine Reise, die es in sich hat.

Immer wieder habe ich diese Karte in die Finger genommen. Sie hat mich nostalgisch gemacht. Nicht nur als Objekt, auch ihre Geschichte berührt. Ist man in oder ab der Lebensmitte anfälliger für Nostalgie? Vielleicht. Spätestens dann vielleicht, wenn man seine Kindheit auf dem Flohmarkt wiederfindet oder einem Objekte wie diese Karte in die Hände fallen.

Ein nostalgischer Gruss aus der Vergangenheit

Rückblick. 2014 habe ich auf einer Versteigerungsplattform im Internet eine Entdeckung gemacht, die mich nicht nur wissenschaftlich inspiriert hat; persönlich hat sie mich sehr bewegt und eben etwas nostalgisch gemacht. Die Rede ist von der genannten Ansichtskarte. Nur wenige Worte sind darauf notiert: Ein fast zeitloser Seufzer über den Wandel der Zeit.

Ob der Angeschriebene seine Heimat gerne verlassen hat oder nicht, ob das «Komische» hier nun melancholisch oder nicht doch eher nostalgisch zu verstehen ist und woran die Beteiligten zurückdenken, ist offen. Es geht aber um Heimat, Veränderung und eben Erinnerung. Migration gab es auch auf mütterlicher Seite meiner Vorfahren. Wenn auch «nur» innerschweizerisch, so gilt auch hier: «Niemand war schon immer da.»[1] Und damit sind nun mal Erinnerungen verbunden.

Erinnerungen als Bilder im Kopf und Bilder auf der Ansichtskarte; kein anderes Medium als dieses eignete sich über Jahrzehnte besser für diese Kombination. Und mehr als das: Solche Objekte wurden seit je her gesammelt. Nur darum konnte ich die Karte Jahre später in Händen halten. Ansichtskarten sind nicht nur Träger von Text und Bild, sie sagen selbst als Objekt mehr als 1000 Worte und ihre Bedeutung verändert sich im Laufe ihrer Lebenszeit für jeden, der sie später in Händen hält. So auch für mich. – Denn mein Atem stockte, als ich die Unterschriften erblickte:

Mitunterzeichner der Karte war kein Geringerer als mein 1993 verstorbener Grossvater! Jahrzehnte später findet sie der Enkel im Internet, dem heutigen medialen Mass aller Dinge. Was für eine Reise, abgeschickt ein Jahr bevor mein Vater in die Schweiz kommt, kurz darauf seine Tochter kennenlernt und eine Geschichte beginnt, die meinen Grossvater erst recht herausfordern wird, und eine Geschichte, die ihrerseits viel von Wandel berichten kann.

Vergänglicher Gruss mit ewiger Botschaft

Die Karte macht’s vor, denn sie sollte nicht lange bei uns weilen. Zuerst habe ich die Karte studiert, in mein wissenschaftliches Arbeiten integriert und schliesslich meiner Mutter geschenkt.[2] Damit lebte für einen kurzen Moment ein Stück unserer Familiengeschichte wieder auf, ein Objekt, das Erinnerungen weckte und wach hielt. Und dann, exakt 50 Jahre nach Versand, brennt mein Elternhaus 2016 nieder und mit ihr verschwindet der Gruss wieder dahin, wohin er gekommen ist. Wenn einem da nicht «komisch» wird, «wenn man an alles zurückdenkt» …

Nichts ist so beständig wie der Wandel. Eine alte Erkenntnis und doch ist man vor Nostalgie nie gefeit. Das wussten schon die Eidgenossen, die – auch in Süditalien – einst Gastarbeiter der besonderen Art waren: Söldner in fremden Diensten. Die nostalgia war ursprünglich eine «Schweizer Krankheit», bezeichnet der griechische Begriff im 17. Jahrhundert doch ein Krankheitsbild von Söldnern, die es in der Ferne nicht lange ausgehalten haben: das Heimweh! Und was hat «die Krankheit» ausgelöst? Zum Beispiel sogenannte Kuhreihen – Lieder also, die an die ländliche Heimat erinnerten. Mit Kuhreihen trieb man damals die Kühe voran oder beruhigte sie. Die Franzosen verboten bei Strafe, dass man diese Lieder sang. Denn diese lösten die Krankheit wohl geradezu aus und veranlassten die Söldner zum Desertieren. Die Nostalgie ist «Heimweh», das es so auch nur auf Deutsch gibt! Unsere prominenteste Emigrantin, das Heidi, hat es erfahren.

Tempora mutantur…

Die Zeiten ändern sich und wir uns in ihnen. Heute hat sich die Bedeutung geweitet und wir sehen die Nostalgie als ein Gefühl an, aber als eines, das uns zutiefst ergreifen kann. Sie schleicht sich heran, wenn man sie am wenigsten erwartet und manchmal fordert man sie regelrecht heraus. Dann ist es, als wollte man auf dem Dachboden der eigenen Erinnerungen wühlen, verweilen und sich dorthin versetzen, wo man heute nicht mehr ist.[3] Es ist wie ein innerlicher Rückzug vom Hier und Jetzt. Wir sind zutiefst historische Wesen, an denen Zeit, Menschen und Orte nicht spurlos vorbeigehen. Mit dem Drang zur Nostalgie meine ich nicht allgemeine Vintage- oder Retro-Trends, denn das ist ein nostalgisch verklärtes und in der Regel angeeignetes Bild fremder Vergangenheiten. Es geht um dieses fast existenzielle und irgendwie auch spirituelle Gefühl, das uns mit uns und anderen über die Vergangenheit verbindet. Nostalgie ist die Rast im Inneren, die uns in der Gegenwart innehalten lässt und sich in der Vergangenheit nährt.

Postkarten grüssen. Wir haben meinen Grosseltern und anderen Bekannten und Verwandten brav jedes Jahr eine Postkarte aus Italien geschickt, wenn wir in der Heimat meines Vaters die fast obligaten Heimkehrer-Ferien verbracht haben. Wir waren in den Ferien, mein Vater zu Hause. Glück und Nostalgie seine Begleiter: Die obligatorischen Besuche, das Aufsuchen aller wichtigen Orte seiner Jugend – seien es Brunnen, Häuser und Aussichtspunkte. Das Ritual, das den Rückkehrmythos nährte. Für kurze Zeit wieder da, wo er nicht mehr ist. Den Schmerz verdrängend, dass er nicht mehr und der Ort nicht mehr in allem derselbe ist. Ich habe das schon früh mit einer gewissen Wehmut und doch mit einem Gefühl von Verständnis beobachtet. Menschen, die sich im Sommer treffen, und ihre Verbindung ist ihre kurze gemeinsame Vergangenheit. Veränderung findet statt, aber für den Aussenstehenden anders als für den, der dort lebt.

Nostalgische Postkarten im Kopf

Und was schrieben wir derweil auf unsere Postkarten: Da stand kaum mehr drauf als ein kurzes Schwärmen über das Essen, die Sonne, die netten Menschen, das Meer, das damals noch kaum für jeden erreichbar war. Verlegenheit entstand allenfalls daraus, dass es in Pomarico in jener Zeit kaum mehr als zwei verschiedene Karten mit Dorfansichten gab. Mein Vater beobachtete das Tun damals mit Kopfschütteln, liess uns aber gewähren. Seine eigene Postkarte schrieb – malte – er im Kopf und adressierte sie an sein Ich, das in der Schweiz ein anderes Leben führt. Er hat seine Orte und Menschen aufgesucht, Essen, Gerüche, Töne machen die Postkarte im Kopf zu einem multimedialen Ereignis auf dem Dachstock der Erinnerungen.

Nostalgie ist ein kurzes Gefühl, sie zeigt aber, was wir sind: vergänglich. Den Menschen in Vaters Heimat war Geschichte lange kaum bewusst, denn sie leben seit Jahrhunderten mitten in ihr. Den Menschen ist aber die Vergänglichkeit in jeder Hinsicht sehr bewusst, denn sie leben seit Jahrhunderten mit ihr.

Das Reisen über die Kontraste hinweg, das Heimkehren, macht einem auch solche Dinge bewusst. Und hierzulande? Wir sind uns der Vergänglichkeit der Dinge wohl bewusst, sonst hätten wir nicht so viele Versicherungen. Dem Gedanken über die eigene Vergänglichkeit weichen wir lieber aus, gestorben wird heimlich, unser Streben nach Nutzen, Besitz und Selbstverwirklichung scheint auf Unendlichkeit zu zielen. Das Zeitliche kreuzt zumindest oder spätestens an den biografischen Meilensteine des Lebens unsere Wege. Menschen werden geboren, sterben, heiraten und zwischendurch stolpern wir über die Nostalgie. – Ein Hausbrand zumindest führt einem unmissverständlich vor Augen, was es heisst, loszulassen – angefangen bei Gegenständen.

Nichts ist so beständig wie der Wandel – etwas von dieser griechischen Weisheit (Heraklit) kommt einem auf diesem Boden in den Sinn. Da darf man schon zwischendurch etwas nostalgisch sein.

 

[1] Vgl. dazu den Beitrag: https://terramatera.wordpress.com/2017/07/05/wandernde-steine/

[2] Die Geschichte dieser Karte eingearbeitet in: Mente, Michael: Ansichtskarten sind Ansichtssache. Über den Wert topografischer Ansichtskarten in Archivbeständen und Einsichten in Fragen ihrer archivischen Erschliessung. Chur 2016 (Churer Schriften zur Informationswissenschaft, Nr. 81). Online: http://www.htwchur.ch/uploads/media/CSI_81_Mente.pdf

[3] Ein wunderbarer Feuilleton-Artikel von Alain Claude Sulzer über die Nostalgie als Fundbüro der Verluste: NZZ vom 8.12.2016, online: https://www.nzz.ch/feuilleton/ueber-nostalgie-das-fundbuero-der-verluste-ld.132834.

 

 

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